Dieser Text erschien zuerst als Gastbeitrag in der Berliner Zeitung.

«Mein Führer, ich kann wieder gehen!» (Dr. Seltsam)

Die EU hat die eigenen Bestände vollständig geleert, ihre Produktionskapazitäten ausgeschöpft und möchte nun – angeführt von einem ihrer Korruptionskaputtniks (Tschechien) – für 1,5 Milliarden Euro 800.000 Artilleriegranaten auf internationalen Resterampen und den undurchsichtigen Schattenmärkten Afrikas erwerben, ohne irgendjemandem auch nur ansatzweise zu verraten, wie, was, warum und von wem.

Hat die EU zusammen mit ihrem Friedensauftrag jetzt auch die Mindeststandards für rechtskonformes Verwaltungshandeln ausgesetzt? Allein der Verdacht einer Anbahnung undurchsichtiger Geschäfte mit Waffenhändlern hätte zum geschlossenen Rücktritt der gesamten Kommission geführt – bis vor kurzem jedenfalls.

Deutschland mit dreistelligem Millionenbetrag dabei! Paar tausend Euro pro Bumsgranate, guter Preis! – jubelt die SZ, die über diesen haarsträubenden Unsinn auch noch mit einem heiligen Ernst berichtet, als handele es sich um die Wiederauferstehung des rechten Latschens Jesu Christi.

Gleichzeitig ruft der in seiner napoleonisch gemeinten Ehre gekränkte Macron den ohnedies unter erschwerten Kriegslebensbedingungen vor sich hinvegetierenden Durchschnittseuropäer mit düsterem Raunen dazu auf, nun ja kein «Feigling» zu sein und sich endlich dieser mit der Wucht eines ausgemusterten Lada auf ihn zurasenden «Geschichte» zu stellen.

Ist es das, was man bekommt, wenn man sich einen welpenäugigen Schwiegersohn der Finanzmärkte zum Präsidenten macht? Dessen Hauptargument es seinerzeit doch noch gewesen war, diese seine böse Gegenkandidatin (Le Pen, die jüngere) würde das schöne Frankreich stante pede «in den nächstbesten Krieg führen»?

Kriegswirtschaft à la carte

In Brüssel schliesslich steht der Milliardär Thierry Breton, gelernter Transmissionsriemen zwischen (privatem) Grosskapital und (öffentlicher) Verwaltung sowie EU-Kommissar für alles, was man ihm nicht rechtzeitig aus den penibel manikürten Klauen schlägt. Unter gewohnt kryptischen Kürzeln (nach EDIDP und Asap nun Edip und Edis) stellt er das Kommissionsprogramm zur Umwandlung der unverdaulichen Reste der europäischen Ökonomie in eine «Kriegswirtschaft» vor: Zuschüsse, Darlehen, Steuerbefreiungen in einer perspektivischen Grössenordnung von hundert Milliarden Euro für den damit auf absehbare Zeit von jedem Verlustrisiko befreiten industriellen Rüstungskomplex – finanziert aus Darlehen, konfisziertem Fremdvermögen, Eigenmitteln und Spenden von Bedürftigen (Spenden war Spass!).

Die Trägerin des Friedensnobelpreises, EU, lehnt es seit nunmehr zwei Jahren rundheraus ab, die europäische Erfindung der Diplomatie zur Befriedung ihres eigenen Kontinentes einzusetzen, und zieht es stattdessen vor, sich mit einem Geld, das zu gleichen Teilen geliehen (Finanzmärkte), gestohlen (russisches Staatsvermögen) und selbstgebastelt ist (EZB-Kartoffeldruck), für denselben «grossen Konflikt» zu rüsten, den aufzuhalten sie sich gleichzeitig beharrlich weigert.

Verschuldung, Militarisierung, Diebstahl, Schwarzmarktgeschäfte und Waffenhandel, rechenschaftslose Intransparenz, Kriegsfinanzierung und Kriegsvorbereitung zu einem ohrenbetäubend vorwilhelminischen Kriegsgeschrei – eine solche EU, mit Verlaub, wurde in Europa niemals gegründet.

Kriegswirtschaft. Dass die EU, die ja noch nicht einmal ein Staat ist, irgendeinem anderen supranationalen Verwaltungsapparat (IWF? WHO? Weltpostverein?) den mit der Ausrufung dieses per Mufti deklarierten Wirtschaftsmodus zwingend assoziierten Krieg überhaupt erklärt hätte, erklären könnte oder sollte, das wäre uns freilich neu. Und auch die Kommission selbst belässt diese denk- und argumentationslogisch verwirrende Frage wohlweislich in der kunstlosen Unschärfe einer richterschen Verwischung.

Kriegswirtschaft also. Ziehen Sie da draussen sich sicherheitshalber schon mal warm an, denn die historische Erfahrung zeigt, dass auf offene Proklamationen diesen Inhalts nicht selten Rohstoffrationierungen, Zwangsrequirierungen (Kirchenglocken, Autoreifen, Nutella-Reserven), semiinstruktive Handreichungen in Sütterlinschrift («Spare Seife! Aber wie?») und monochrome Essensmarken folgen. Ihrerseits womöglich gefolgt von einem unter der Bezeichnung «Hungerwinter» bekannten Zustand, der heutigen Lifestyle-Bellizisten Tränen aufrichtigen Selbstmitleids in die Augen treiben würde. (vgl. Wikipedia, S. 1946/47 ff.).

Wenigstens gibt die Kommission von der Leyen damit jetzt, in einem seltenen Moment völlig unverstellten Sprachgebrauchs, einmal offen zu, was sie schon seit geraumer Zeit betreibt: die ungehemmte Bildung von Komposita aus den Elementen «Wirtschaft» und «Krieg».

Längst hat die Union ihr traditionelles Hauptbetätigungsfeld, die Wirtschaft, nämlich vom Wohlstandssicherungsinstrument zu einer ideologisch (fern)steuerbaren Waffe umgebaut. Die Zeit der Globalisierungsfeldzüge und neoliberalen Siegesparolen scheint endgültig vorbei. Nach Jahrzehnten des Kampfes für freien Welthandel und die Öffnung von Märkten kämpft die EU nun für das genaue Gegenteil – spätestens seit sie gross ins ganz grosse Sanktionsgeschäft eingestiegen ist.

Da keines ihrer (unter dem Einfluss grenzenloser Selbstüberschätzung verhängten) dreizehn Sanktionspakete die ihnen zuvor fälschlicherweise nachgesagte Wirkung erzeugen konnte, hat die EU jüngst sogar das wirtschaftsethisch und juristisch verminte Gelände der Sekundärsanktionen (vgl. Google) betreten, die auf die extraterritoritoriale Geltendmachung eigener Rechtsakte zielen. In ihnen konzentriert sich alles, was der geopolitische Westen an prädemokratischem Dominanzgebaren und (post-)kolonialem Unterwerfungswillen je unter einer euphemistischen Bezeichnung auf den Markt gebracht hat.

Nicht genug, dass sich die EU mit der Verhängung von Sekundärsanktionen die sattsam bekannte Schulhofschlägerpraxis der USA zu eigen macht, sie verstösst damit wissentlich gegen internationales Recht. Eine EU, die bei vollem Bewusstsein ihrer Entscheidungsträger ein Mittel anwendet, das sie selbst – ausweislich einer Reihe eigener Verordnungen, Rechtsgutachten und Stellungnahmen – als eindeutig rechtswidrig einstuft? Mit Frau von der Leyen hat sich in der EU eine transatlantische Verrohung durchgesetzt, die auf internationales Recht, Verwaltungsprinzipien, Verträge ebenso wenig Rücksicht nimmt wie auf angemessene Umgangsformen.

Gemäss einem Bericht der Financial Times hat der Rat im Januar einen «vertraulichen Plan» zur gezielten und absichtsvollen Destabilisierung von Wirtschaft und Währung des EU-Mitglieds Ungarns ausarbeiten lassen, um den Transfer von 51 Milliarden Euro an das Nichtmitglied Ukraine sicherzustellen. Die EU geht damit von der (nach dem sogenannten Rechtsstaatsinstrument immerhin rechtmässigen) Einbehaltung von Geldern dazu über, sich die eigenen Mitgliedsstaaten mit Mitteln des Wirtschaftskrieges und der astreinen Erpressung gewogen zu machen.

Die neue klandestine Selbstjustiz

Man muss kein Freund von Orbán, Putin oder Al Capone sein, um die Brisanz dieses Papiers und des in ihm enthaltenen Denkmusters zu begreifen, mit dem die EU es sich letztlich zum Ziel setzt, das vertragsgemässe Vetorecht eines Mitgliedsstaates nicht durch ein demokratisch legitimiertes Verfahren oder die Anwendung einer Rechtsvorschrift, sondern durch klandestine Selbstjustiz auszuhebeln.

Dass die Union, der ja nichts als die Interessensvertretung ihrer Mitglieder vor allem in wirtschaftlichen Belangen obliegt, allen Ernstes gegen ein eigenes Mitglied vorzugehen plant, ist eine schier albtraumhafte Entwicklung, die keineswegs Ausdruck irgendeiner «Wehrhaftigkeit» ist, sondern den eigentlichen Daseinszweck einer Union verbindlich ad absurdum führt. Die EU nimmt es in Kauf, dass ihre eigenen (ungarischen) Bürger von exakt jener Institution, der sie die Wahrung ihres wirtschaftlichen Wohlergehens übertragen haben, absichtlich in den Strudel existenziellen Zusammenbruchs gestossen werden.

Welchem europäischen Wert so etwas noch entsprechen soll, erschliesst sich uns auch nach gründlicher Meditation nicht. Den zehn Geboten der Mafia vielleicht.

Wir selbst halten es übrigens für einen durchaus ausbaufähigen Ansatz, einem EU-Mitglied mit seiner wirtschaftlichen Vernichtung zu drohen, um Geld für jemand anders zu erpressen. Sobald wir an der Macht sind, werden wir umgehend einen Haufen Kohle vom europäischen Geldsack Luxemburg erpressen für «Brot für die Welt». Oder von diesem französischen Käsestaat für all die über Jahrhunderte von ihm ausgebeuteten Gebiete vor allem in Westafrika. Und falls die EU ihre ökonomische Selbstvernichtung (wider Erwarten) überleben sollte, werden wir auch aus ihr endlich das Geld herauspressen, das sie ihren Bürgern seit Jahrzehnten vorenthält, um damit endlich den europaweiten Verfall aller Infrastrukturen und die beschämende EU-Armutsquote von rund 22 Prozent notdürftig zu reparieren.

Auch zur Beschlagnahme von Vermögenswerten der russischen Zentralbank ist die EU, wie man hört, aufs Wildeste entschlossen, obwohl nicht nur die Notenbanken Deutschlands, Frankreichs und Italiens, sondern gar die EZB und Euroclear (jene Clearingstelle, die das Vermögen verwahrt) sie seit Wochen davor warnen: gewaltige Risiken für die finanzielle Stabilität Europas, Auswirkungen auf die Märkte, unabsehbare rechtliche Folgen. Staatliche Vermögenswerte geniessen nach internationalem Recht Immunität. Würde die EU dieses Prinzip handstreichartig unterlaufen, so wäre eine «erhebliche Beeinträchtigung des Vertrauens die Folge – in das Euroclear-System, in die europäischen Kapitalmärkte, in den Euro als (Reserve-)Währung», so Lieve Mostrey, die Geschäftsführerin von Euroclear. Dass die EU sich ernsthaft Zugriff auf fremdes Eigentum zu verschaffen plant, ist nicht nur – erneut – auf sublim dämliche Weise selbstschädigend, sondern – erneut – schlicht illegal, wie sie es auch dreht und wendet.

In den Gesetzbüchern zivilisierter Staaten steht dergleichen noch immer als «Diebstahl» unter Strafe (falls die EU-Kommission es noch nicht geändert hat): die rechtswidrige Aneignung des Vermögens eines anderen. Alle Honks, die dieses Vorgehen heute noch bejubeln mögen, haben die Implikationen eines solchen Aktes offenbar noch nicht begriffen: Eine transnationale Organisation mit semidemokratischer Legitimationsbasis beginnt damit, eine der wesentlichsten Grundlagen der von ihr selbst propagierten Gesellschaftsordnung anzutasten: das Eigentum.

Wenn sein blanker (verfassungsrechtlich geschützter) Begriff in der EU künftig nicht mehr das Papier wert ist, auf dem er einmal stand, und jedwedes Eigentum ungeschützt zur willkürlich zugriffsfähigen Beute seiner Jäger wird – na schön, dann Leinen los! Sobald wir an der Macht sind, werden wir das Vermögen von Pfizer, Rheinmetall, McDonald’s und der Bild-Zeitung konfiszieren, um es endlich unter all denen zu verteilen, die von ihnen seit Lichtjahren geschädigt sind. Blackrock und Vanguard können ihr sogenanntes Eigentum dann natürlich ebenso vergessen wie von der Leyen und Thierry Breton, der sich übrigens gerade ein eigenes Schloss mit hohen Zinnen in Gargilesse-Dampierre (Département Indre) zugelegt hat, um vor den absehbaren Folgen der von ihm deklarierten Kriegswirtschaft in Sicherheit zu sein.

Wie transparent, kostenoptimierend und regelgerecht zentralisiert EU-Waffenkäufe unter von der Leyen ausfallen würden, mag ein jeder sich selbst ausmalen, der das Zustandekommen der Impfstoffverträge verfolgt hat, nach deren Vorbild die milliardenfach auf uns zurollenden EU-Rüstungsverträge – laut der Kommissionspräsidentin «sehr erfolgreich» – gestaltet werden sollen.

Follow the Money

Seit 2018 hat die Bürgerbeauftragte Emily O’Reilly die Kommission immer wieder – vergeblich – dazu aufgefordert, die skandalöse Intransparenz des EU-Fördermittelabflusses an die Rüstungsindustrie zu beseitigen, die von den beteiligten EU-Institutionen schon seit Jahren mit Händen und Füssen verteidigt wird. Noch nicht einmal die Namen der externen «Experten» sind öffentlich, von denen die EU sich bei der Finanzierung von Militärprojekten «beraten» lässt, ebenso wenig wie deren – immerhin den Einsatz von Millionensummen auslösende – «Berichte». Geschweige denn, dass auch nur ansatzweise sichergestellt wäre, dass jene Fachleute nicht direkt (oder sonst wie) auf dem Gehaltszettel jener Rüstungsunternehmen stehen, die von freigegebenen EU-Mitteln im Nachgang profitieren.

Zudem, so O’Reilly, gefährde die Kommission die «Integrität der EU-Verwaltung», da sie nicht entschieden gegen Drehtür-Praktiken vorgehe. Das gilt auch für den Bereich der Rüstung, wo etwa Jorge Domecq, Leiter der Europäischen Verteidigungsagentur EDA, nur Monate nach seinem Ausscheiden aus dem Amt 2020 als Lobbyist zum Luft- und Raumfahrtkonzern Airbus wechselte, einem der grössten Auftragnehmer der zuvor von ihm geführten EU-Agentur. LOL!

Wir dürfen gespannt sein, in welcher Branche Rüstungskommissar Thierry Breton, der zeitlebens nichts anderes getan hat, als zwischen CEO-Stellen und politischen Posten hin- und herzupendeln, nach Ablauf seiner Kommissarszeit wieder auftauchen wird. Falls es ihm nicht gelingen sollte, die derzeitige Stelle von der Leyens zu ergattern, auf die er selbstredend ebenfalls reflektiert. «It’s the old Watergate thing, follow the money!», empfiehlt die europäische Bürgerbeauftragte O’Reilly derweil. Vielleicht vor allem dem der EU-Kommissare, Zwinker-Smiley.

Wir schaun dir in die Augen, europäischer Verblendungszusammenhang! René Pollesch (jedenfalls fast)

Auch ihren neuen Rüstungsbeschaffungsslogan «Buy European!» sollte die Kommission schleunigst in derselben Schublade verschwinden lassen, aus der sie ihn gezogen hat. Die europäischen Militärunternehmen, die von EU-Rüstungsgeldern profitieren, befinden sich nämlich ebenso im Miteigentum der grossen Investmentfonds wie ihre US-amerikanischen Pendants. Blackrock, Vanguard, Capital usw. besitzen clevererweise Anteile an EU-Rüstungsunternehmen und deren US-Konkurrenten zugleich. Dieses gemeinsame Eigentum (sog. common ownership-Problem) schafft nicht nur Anreize für höhere Preise und geringere Produktion, sondern bringt bekanntermassen Wettbewerbsverzerrungen und das Risiko einer veritablen Trustbildung mit sich. In jedem anderen Wirtschaftssektor würde die Kommission ihre eigenen Wettbewerbsregeln mit Boxhandschuhen durchsetzen. Hier tat sie es nie.

Dem Europäischen Netzwerk gegen Waffenhandel (Enaat) erzeugte das alles schon Stirnfalten (tief), lange bevor mit dem Krieg in der Ukraine nun auch die letzten Schleusen der EU-zertifizierten Kapitalumschichtung in den militärisch-industriellen Komplex gebrochen sind: «Wir öffnen die Büchse der Pandora. Europa wird zu einer Cash-Cow (für die Rüstungsindustrie), zu einer Finanzierungsquelle ohne Einschränkungen.»

Egal! Hoch die zerschlissene Europa-Fahne, hoch das innere Bajonett, ruft die Kommission ihren sedierten Massen zu, die ihrerseits keinen gravierenden Widerspruch darin erkennen können, dass die EU ihrem unerschöpflichen Vorrat an Worthülsen nun einen ebensolchen an echten Patronenknallern zur Seite stellt – mit grossem Bumm in diesen grossen «Frieden», dessen Worthülse ja noch immer in den Grossbuchstaben ihrer Charta steht.

Eine solche EU aber, mit Verlaub, wurde in Europa nie gegründet.

Europäische Gründungsgedanken werden verpulverisiert

Die teleologischen und interpretativen Verrenkungen, die die EU auf ihrem Weg vom Wirtschaftskrieg in die Kriegswirtschaft unternehmen muss, sind überraschungsfrei Legion. Alarmiert belehrt uns Gablers Wirtschaftslexikon, dass Kriegswirtschaften unter formaler Aufrechterhaltung des Marktes dessen zentrale Mechanismen ausser Kraft setzen, um sie durch ein «auf militärische Zwecke ausgerichtetes Administrationssystem» zu ersetzen. Europa, Hort kompromisslos freier Marktwirtschaft. Wo genau in den einschlägigen EU-Verträgen eine Kommissionsbefugnis zur Errichtung dieser «Spezialform der Zentralverwaltungswirtschaft zu Rüstungszwecken» zu finden sein soll, das wissen nur die Götter.

Längst sind die Kampfeinsätze der Kommission auf die rückstandslose Niederschlagung europäischer Gründungsgedanken gerichtet – durchgeführt im klassischen Stufensystem der allmählichen Eskalation: Erstschlag, Zweitschlag, Letztpulverisierung durch Atombumbum. Denn anders als man es Sie heute glauben macht, passt die EU sich derzeit keineswegs reaktiv oder über Nacht an irgendeine überraschende Entwicklung der geopolitischen Jetztzeit an. Vielmehr legt sie die über Jahre angesammelten Ergebnisse ihrer frankensteinschen Umwandlung in ein vertragswidriges Militarisierungsprojekt vor.

Kommissionsintern war man auf diesen Krieg, der für Sie da draussen doch völlig überraschend gekommen war, schon aufs Trefflichste vorbereitet. Mit der «East Stratcom Task Force», dem «Strategischen Kommunikationsteam Ost», hatte die EU sich schon 2015 ein eigenes Kampfmittel für den auf dem Feld der Deutungshoheit geführten Schlachtplatz des «hybriden» Krieges geschaffen - ein offizielles Amt für Desinformationsbekämpfung, Wissensrektifizierung und informationelle Rechtgläubigkeit, das stets so ideologielastig, militant und auf verstandesquälende Weise irreführend war, dass es nur ausgemachten Vollidioten als «neutral» erschien.

Tambourmajorin von der Leyen hatte die von ihr übernommene Kommission schnell von einem Instrument lebendig-demokratischer Konsensfindung in eines des dumpfen Kadergehorsams mit vertikaler Kommandostruktur verwandelt: «Von der Kommission Juncker zur Kommission Bunker», wie es unter Journalisten zu Beginn ihrer Amtszeit hiess. Weise, gütig und vorausschauend, wie von der Leyen nun einmal ist, hielt sie es schon 2019 für eine unbedingte Notwendigkeit, dem Organigramm dieser 2012 (versehentlich) zur Friedensnobelpreisträgerin erklärten EU den offiziellen Gliederungspunkt einer Stabsstelle Rüstung hinzuzufügen – ein veritabler Tabubruch, der Pessimisten, Kassandren und uns schon damals den allmählich stockenden Atem gefrieren liess.

Von der Leyen ist die erste Kommissionspräsidentin in der 60-jährigen Geschichte der EU, die der Rüstung eine eigene Generaldirektion, eine eigene Ressortzuständigkeit und einen eigenen Kommissar gewidmet hat: Kriegskommissar Thierry Breton, der schon seit über einem Jahr an der Ausgestaltung jener Kriegswirtschaft schraubt, die er im Namen der EU nun offiziell verkündet.

Wenn das unsere Väter noch hätten erleben dürfen oder unserer Väter Väter. Oder wenigstens jene vielzitierten Gründergestalten der EU, die ja – völlig arglos – die vorfeldintellektuelle Drecksarbeit zur europäischen «Integration» geleistet hatten, ohne auch nur zu ahnen, wozu das im Jahre 2024 unter einer humanistischen «Bildungskanone» wie von der Leyen einmal führen würde.

Über eine Entwicklung wie die jetzige, die – mit vollem Bewusstsein ihrer derzeitigen Entscheidungsträger – auf die systematische Aufrüstung Europas hinausläuft, hätten sie nicht schlecht gestaunt: Bauklötze (Grösse 3 XL). Denn immerhin steht sie in offenem Widerspruch zu den von ihnen verbindlich gezeichneten Unionsverträgen, in denen sie mit Artikel 41, Absatz 2 EUV – ebenfalls bei vollem Bewusstsein – ein strenges Finanzierungsverbot für Rüstungsgüter verankert hatten, genauer für alle «Ausgaben» mit «militärischen und verteidigungspolitischen Bezügen» aus den Haushaltsmitteln der Union.

Bereits in der Vergangenheit war die Kommission um kreative Einfälle zur Umgehung dieses Verbots natürlich nie verlegen. Zuwendungen an die Kawummindustrie versteckte sie in Haushaltsposten für «Wissenschaft», «Forschung», «Entwicklung», «Modernisierung», «Infrastruktur», «Wettbewerbsförderung», «Kohäsion» oder (neu im Programm) «Grünwerdung». Und schuf nebenher finanzielle Parallelstrukturen orwellschen Zuschnitts, um den zuverlässigen Abfluss von Geldern an den militärisch-industriellen Komplex über Schattenhaushalte sicherzustellen. Freilich nicht, ohne sich dabei exakt jener semantischen Umdeutungen zu bedienen, die George Orwell für die seelenlosen Herrschaftssysteme kommender Zeiten vorausgesehen hatte – etwa die Europäische Friedensfazilität, die seit ihrer Gründung nichts als Kriegseinsätze finanziert, oder besagte Einsatzstelle für die Bekämpfung von «Desinformation», der ausser ihrer in billiges Feldgrau genagelten Ideologie nichts Informatives zu entnehmen ist. Jedenfalls nichts neben ihrer antiaufklärerischen Absicht, jede autonome, kritische oder auch nur bildungsbürgerliche Bewertungs- und Kontextualiserungskompetenz ausserhalb ihrer vier eigenen Betonwände fürderhin unmöglich zu machen.

Mittel und Wege, Programme und Finanzierungen, Umwidmungen und Falschetikettierungen – unter der (bekanntlich nie ganz altruistischen) Mithilfe eines parlamentarisch-bürokratischen Schwarzen Blocks aus konservativen Rüstungs- und neokonservativen Transatlantiklobbyisten, die seit je – und nicht nur in Brüssel – nibelungentreu miteinander verbunden sind. So weit sind wir mit unserer prophetischen Forderung «Waffeln statt Waffen!» natürlich nie gekommen, obwohl sie weit weniger verrückt ist als alles, was in der militarisierten EU in den letzten Jahren entstanden ist.

Es ist ein Manöver am äussersten Rand der rechtlichen Zulässigkeit, eine «Militarisierung auf den Trümmern des Rechts», wie der Verfassungsrechtler Andreas Fischer-Lescano schon 2018 schrieb.

Wenn die EU nun tatsächlich dazu überginge, zusätzlich zu all den bisherigen, schon bisher illegal unternommenen Militarisierungsschritten auch noch eigene (und eigenhändig gestohlene) Haushaltsmittel für ihre Rüstungsfantasien zu verwenden, entspräche das einem offenen Rechtsbruch. Die EU-Kommission verstiesse damit gegen Text und Geist ihres eigenen Vertrags.

Und so sehr (rüstungsaffine) Rechtsgelehrte sich in hirnverknotenden Interpretationsschleifen auch darzulegen bemühen, warum es aus rechtlicher Sicht dennoch rechtskonform sein könnte, diese rechtsverbindliche Vorschrift der EU-Verfassung mittels rechtswirksamer Rechtsbeugung zu umgehen, so müssen all ihre juristisch-semantischen Argumentationspirouetten doch spätestens dann versagen, wenn es um den viel beschworenen Geist dieser Verträge geht, die Absicht nämlich, mit der europäische Staaten sich in gemeinsame Gemeinschaft begeben haben und auf den zu beziehen die Europäischen Institutionen an anderer Stelle nicht müde werden.

Tatsächlich standen jene Gründerväter – anders als die Töchter ihrer Söhne heute – noch unter dem unmittelbareren Eindruck der kontinentalen Verwüstungen zweier Weltkriege. Wir dürfen getrost annehmen, dass die von der europäischen Kriegs- und Nachkriegsgeneration vielfach referenzierten Schlachtworte «Nie wieder Krieg» von der tiefstmöglichen Überzeugung nebst der festen Absicht getragenen waren, nie wieder einem Wahnsinn verfallen zu wollen, der es auf verdrehte Weise vernünftig erscheinen lässt, Unsummen finanziellen und politischen Kapitals nicht dem Glück und Wohlergehen der Europäer, sondern dem todbringenden Geschäft mit letalem Gerät zu widmen.

Der Permanenz des Ausnahmezustands ist unter von der Leyen die Permanenz des Regelbruchs und blanken Prinzipienverrats hinzugetreten. Mit der Ausrufung der Kriegswirtschaft hat die EU, die ihren inneren Geisteszustand zuletzt ohnehin nur noch notdürftig verschleiern konnte, nun auch noch den letzten ihrer kobaltblauen Tarnanzüge abgelegt.

Und während die EU zusammen mit dem beschämenden Grossteil der europäischen Regierungen noch immer begierig in jedes Horn zu blasen bereit ist, das diese (noch immer nicht zur EU gehörende) Nato ihr hinhält, dürfen wir, da Frau von der Leyen es in ihrer jüngsten Blutrede vergessen hat, den fassungslosen Rest der Welt zur endgültigen Beisetzung der europäischen Werte bitten: «Die Europäische Union muss mit der Produktion einer neuen Waffengeneration beginnen, um auf dem Schlachtfeld zu siegen.»

Wenn wir nicht wüssten, dass der Weltgeist ohnehin schon in psychiatrischer Behandlung ist, würden wir ihn spätestens mit dieser dadaistischen Volte einweisen lassen, denn eine «objektive Vernunft», gar ein Europa (oder die Welt) durchwaltendes und ordnendes Prinzip können wir beim allerbesten Wissen nicht mehr erkennen, jedenfalls kein gutartiges mehr.

Und vielleicht sind ja auch wir hier die allmählich wahnsinnig gewordenen Irren, denn es würde uns tatsächlich schon genügen, wenn die verschlagenen Verwaltungsmonstren, die dem europäischen Gründungsgedanken entstiegen sind, sich an die Regeln ihrer eigenen Verträge hielten.

Wir hätten nie gedacht, dass wir einmal in die unangenehme Lage geraten könnten, europäische Verträge zu verteidigen, denn wir haben genug und reichlich an ihnen auszusetzen. Aber dass wir sie auch noch gegen die würden verteidigen müssen, die doch zu ihrem Schutz bestellt sind, eine amtierende Europäische Kommission mitsamt ihrer amtierenden Präsidentin, das wäre noch nicht einmal uns eingefallen. Nicht im farbenprächtigsten unserer Fieberträume.

Denn, mit Verlaub, eine solche EU wurde in Europa niemals gegründet.

Martin Sonneborn ist ein deutscher Satiriker, Journalist und Politiker. Er ist Mitglied des Europäischen Parlaments für Die Partei.

Claudia Latour ist Publizistin und politische Beraterin. Zuletzt von ihr erschienen: «99 Ideen zur Wiederbelebung der politischen Utopie», 2021, Kiwi.