Die Welt blickt in diesen Tagen nach Bern, wo Wolodymyr Selenskyj zum Parlament spricht – zwar nur über Videocall, aber trotzdem sehr real. Sein Auftritt polarisiert. Das ist nachvollziehbar, aber ich bin der Meinung, dass es jedem Politiker guttun würde, dem ukrainischen Präsidenten zuzuhören.

Wer Selenskyj verstehen will, muss wissen, woher er kommt: Geboren wurde er in Krywyj Rih in der Region Dnipropetrowsk. Russisch ist seine erste Sprache, erst 2017 lernte er Ukrainisch. Er gilt als prädestiniert, um die Interessengruppen in seinem Land zusammenzubringen. Selenskyj, der Rechtswissenschaftler, hat eine Vergangenheit als Komiker und Schauspieler. Es ist paradox: Auch in Russland jubelten ihm die Menschen zu – und reisten weit, um ihn auf der Bühne zu sehen. Würde man Selenskyj auf Schweizer Verhältnisse übertragen, wäre er in Sachen Popularität vermutlich einer wie Viktor Giacobbo. Selenskyj ist hochintelligent und empathisch – auch deshalb wirkt er glaubwürdig.

Als er gewählt wurde, war ich schon Gemeindepräsident von St. Moritz. Ich sagte zu meiner Partnerin damals: Es würde mich nicht wundern, wenn Selenskyj schon bald nur noch mit kugelsicherer Weste herumgehen könnte und die Nächte in Bunkern verbringen müsste. Es schmerzt, dass dies traurige Realität geworden ist. Aber ich vermute, dass er für solche Extremsituationen die ideale Besetzung ist – auch wegen seines schauspielerischen Hintergrunds. Vermutlich glaube ich deshalb, mich in seine Lage versetzen zu können. Ich habe einen ähnlichen Werdegang – und fand den Weg als Quereinsteiger in die Politik. Ich weiss, wie wichtig die Schauspielkunst auf der politischen Bühne ist. Während der Pandemie war ich als Krisenmanager gefordert, natürlich auf anderem Niveau. Aber ich profitierte im grossen Masse von meiner Erfahrung als Performer.

Noch stärker gilt dies für den ukrainischen Präsidenten. Faktisch steht Wolodymyr Selenskyj nun seit 500 Tagen voll beleuchtet auf der Rampe. Die ganze Welt schaut zu, unten spielt ein lautes Orchester. Der Entertainer befindet sich auf Tournee durch die grössten Säle dieser Welt – begleitet von seiner Frau, die ebenfalls aus der Unterhaltungsbranche stammt, und von einem staff, dem er aus seiner Zeit als Schauspieler vertraut. Ich kann Ihnen versichern: Die besten Pointen und stärksten Choreografien kommen nicht von Staatsschreibern oder Politpropagandisten; sondern von kreativen Köpfen und Drehbuchschreibern, die den Geschmack des Publikums und das Timing für die perfekte Inszenierung ganz genau kennen.

Zu beschönigen gibt es in diesem Krieg nichts – auch nicht die Rolle der Ukraine. Sie war nie ein Muster von Glaubwürdigkeit, Verlässlichkeit und seriösem Geschäftsgebaren. Wie in Russland gehört die Korruption zum Alltag. Irgendwann werden all diese Systeme zum Selbstbedienungsladen. In Bezug auf Selenskyj wünsche ich mir aber nichts mehr, als dass er sich treu bleibt – und am Schluss sein Sein nicht zum Schein wird. Die Menschen im Krieg hätten dies nicht verdient.