Der ungarische Premierminister und EU-Rats-Präsident Viktor Orbán fährt nach Kiew und Moskau, um Möglichkeiten für einen Waffenstillstand in der Ukraine und für einen Verhandlungsfrieden auszuloten. Das ist gut so. Sträflich ist, dass der deutsche Kanzler Olaf Scholz und Bundesaussenministerin Annalena Baerbock lieber zu Hause bleiben.

Um es mit Helmut Schmidt zu sagen: «Lieber hundert Stunden umsonst verhandeln, als eine Minute schiessen.»

Auf dem Nato-Jubiläumsgipfel in Washington droht nun eine Weichenstellung für eine «Kuba-Krise» globalen Ausmasses. Erinnern wir uns: 1961 wurde im letzten Moment ein Atomkrieg zwischen den beiden Grossmächten USA und Sowjetunion abgewendet. Beide setzten sich mit äusserster Entschlossenheit der Stationierung an Atomraketen in ihrer unmittelbaren Nähe beziehungsweise von Atomraketen, die ihre Zentren hätten treffen können, zur Wehr. Im Ergebnis wurden sowohl die US-amerikanischen Jupiter-Raketen, entwickelt vom ehemaligen NS-Raketentechniker Wernher von Braun, aus der südostitalienischen Region Apulien und dem türkischen Izmir zurückgezogen wie auch die Stationierung sowjetischer Atomwaffen und massiver Truppenkontingente auf der Karibikinsel Kuba zurückgenommen.

Seit dieser Zeit galt der unausgesprochene Grundsatz, dass Länder in unmittelbarer Nähe von Grossmächten nicht paktgebunden sein beziehungsweise ihr Territorium nicht für den gegnerischen Militärpakt zur Verfügung stellen sollten. US-Diplomaten wie George Kennan rieten genau aus diesem Grund in den 1990er Jahren von der Osterweiterung der Nato ab, auch weil sie entsprechende Gegenreaktionen befürchteten. Aber die Regierung von US-Präsident Bill Clinton setzte, im Gefühl, auf eine niedergehende Grossmacht Russland keine Rücksicht mehr nehmen zu müssen, den Weg der Erweiterung bis an die russische Grenze durch. Auch als Russland im Jahr 2008 eine rote Linie gegen eine Erweiterung der Nato um Georgien und die Ukraine zog, glaubte man, die Lehren der Kuba-Krise weidlich missachten zu können.

In dieser Logik antwortete Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg auf die russische Vorlage eines Vertrags über gegenseitige Sicherheit im Dezember 2021, in dem der Beitritt der Ukraine zur Nato ausgeschlossen werden sollte, barsch: «Die Zeit exklusiver Einflusszonen ist vorbei.» Entsprechend führt die Nato jetzt einen Stellvertreterkrieg in der Ukraine gegen Russland, mit einer eigenen Mission, deren Hauptquartier in der Stadt Wiesbaden liegt. Was mit der Lieferung von Soldatenhelmen begann, ist jetzt die Verschickung von immer mehr Waffen mit der politischen Zugabe, mit diesen auch Ziele in Russland angreifen zu können. Der Weg für eine Eskalation bis hin zur direkten militärischen Konfrontation und zum Einsatz von Massenvernichtungswaffen scheint damit vorgezeichnet. In der Logik von Joe Biden und Jens Stoltenberg hätte US-Präsident Kennedy 1961 einen Atomkrieg beginnen müssen.

Stellen wir uns doch nur einmal vor, an der Grenze der USA gäbe es ein Land, in dem sich eine russische oder chinesische Militärmission befände, um Krieg gegen die USA zu führen und Washington oder New York mit Kampfdrohnen anzugreifen. Wie würden die USA wohl reagieren? Sie würden zu Recht alles in ihrer Macht Stehende einsetzen, um diese Gefahr für die eigene Bevölkerung abzustellen. Das Argument, die USA führten aber keine völkerrechtswidrigen Kriege, scheint vor dem Hintergrund der mit Lügen legitimierten Irak-Invasion recht schwach.

Das Absurde des Washingtoner Nato-Gipfels aber ist, dass eine Strategie gegenüber Russland, die nach Kennan wie eine sich selbsterfüllende Prophezeiung in die direkte militärische Konfrontation zu führen scheint und die Weltkriegsgefahr massiv erhöht, nunmehr globalisiert und gegen China gewendet wird. Die Nato soll zur globalen Macht werden und gegen China vorrücken, so zumindest die Wahrnehmung Pekings. Vorerst noch auf Grundlage bilateraler Verträge, aber der Weg zur Entgrenzung eines Militärpakts, der den Nordatlantik als Bündnisgebiet dann nur noch im Namen tragen würde, scheint vorgezeichnet.

Sicherlich oft in Washington unbeachtet, hat man mit Deutschland gegen Russland und Japan gegen China alte Protagonisten von Angriffskriegen in der westlichen Allianz mit an Bord, deren Kriegsteilnahme und Äusserungen wie etwa der deutschen Aussenministerin, «Russland ruinieren» zu wollen, die Mobilisierung der Gegner nach sich zieht, auch weil sie sich dem Verdacht aussetzen, dass im Schatten der USA auf eine Revanche gezielt werden soll. Wer aber alles darauf setzt, die Ukraine zum Afghanistan Russlands zu machen, ist nicht davor gefeit, zu übersehen, dass er im Gegenteil die Ukraine zum globalen Vietnam der Nato macht. Die Verausgabung der materiellen Ressourcen in diesem Stellvertreterkrieg ist bereits jetzt ohne Beispiel. Sie wird bezahlt werden mit sozialen Kürzungen, die die Fundamente gesellschaftlicher Stabilität erschüttern. Die Hoffnung, der andere wird eher ruiniert werden, könnte sich als trügerisch erweisen.

Die Nato ist in die Jahre gekommen. Ihre Mythen, ein Bündnis der Rechtsstaatlichkeit und der Menschenrechte zu sein, sind verblasst vor dem Hintergrund der völkerrechtswidrigen Kriege ihrer Mitglieder und der bedingungslosen Unterstützung der Kriegsführung der Netanjahu-Regierung in Israel, die über 13.000 palästinensischen Kinder das Leben gekostet hat und nichts mehr mit dem selbstverständlichen Selbstverteidigungsrecht Israels zu tun hat. Die Nato droht eine moralische wie militärische Überspannung.

Von Kennedy lernen, hiesse heute, am Grundsatz der Neutralität der Staaten in der Nähe von Grossmächten nicht zu rütteln und, so utopisch das heute klingen mag, zu einer diplomatischen Verständigung mit Russland und China zu kommen. Die Alternative, die der Washingtoner Nato-Gipfel bisher aber bietet, ist der Weltkrieg, geboren aus der strategischen Fehleinschätzung, wie sie einst Nikita Chruschtschow für die Sowjetunion getroffen hatte, die andere Grossmacht aus unmittelbarer Nähe herausfordern zu müssen. Im Zeitalter der Atommächte ein unverantwortliches Spiel mit dem Feuer.

Es braucht mehr denn je eine realistische Aussenpolitik, ein Zurück zu Kennedy und Kennan. Eines aber steht bereits jetzt fest. Durch ihre Strategie der Eskalation und der Expansion schweissen die USA und die Nato immer mehr Staaten zusammen, in völliger Verkehrung ihrer Politik der Anerkennung der Sicherheitsinteressen Chinas in den 1970er Jahren. Die Alternative zu einem globalen Showdown ist klar: Es gilt diesen Krieg in der Ukraine wie auch die Nato-Expansion einzufrieren und mit den Grossmächten über gegenseitige Sicherheit zu verhandeln.

Sevim Dagdelen ist aussenpolitische Sprecherin der Gruppe Bündnis Sahra Wagenknecht im Deutschen Bundestag. Eben erschien ihr Buch: «Die Nato. Eine Abrechnung mit dem Wertebündnis». Westend. 128 Seiten, Fr. 25.90

Die 3 Top-Kommentare zu "Wegen Konfrontation mit Russland und China: Warum die Weichen der Nato zwingend neu gestellt werden müssen"
  • Ice, Ice Bärli

    Wo nehmen sich die NATO - Imperialisten eigentlich die Legitimation her uns alle in einen globalen Krieg zu führen? Haben sie einen diesbezüglichen Auftrag der Völker und der Menschen bekommen?

  • monika241

    Ich habe die Rede von Stoltenberg und Biden gehört und mir lief es eiskalt den Rücken herunter. Jeder Satz eine Kriegserklärung an Russland. Wer bemächtigt diese Menschen dazu, sich so zu dominieren und zu eskalieren und sich über alles und jeden zu erheben. Ich nenne es Größenwahn.

  • Socrates9Zico10

    Die NATO ist nie ein Verteidigungsbündnis gewesen! Die völkerrechtswidrige Bombardierung von Serbien vor ca.25 Jahren ist nur das offensichtlichste Beispiel von Vielen! Was hatte und hat die USA und die NATO eigentlich mit Militärbasen in der Ukraine zu suchen? Warum werden immer mehr Raketen der NATO in Polen und Rumänien stationiert? Was haben die geplanten 5000 Bundeswehrsoldaten in Litauen zu suchen?