Die westliche Politik gegenüber Russland und der Ukraine ist eindeutig gescheitert. Doch ungeachtet dessen beharren die Verantwortlichen für die jahrzehntelangen provokativen Massnahmen der USA und der Nato auf ihrer Position. Sie behaupten, Russlands Einmarsch in die Ukraine würde beweisen, dass sie die ganze Zeit über richtig gehandelt haben. Diese Analysten sind der Überzeugung, der wahre Grund für die russische Invasion bestünde darin, dass die USA Russland nicht noch stärker unter Druck gesetzt haben. Die plausiblere Erklärung ist jedoch, dass die vielen amerikanischen Politikexperten, die vorausgesagt hatten, dass die Nato-Erweiterung zu einer Katastrophe führen würde, richtig gelegen hatten und dass sich ihre Vorhersagen nun auf verheerende Weise bewahrheiten.

Viele Amerikaner sind von einer Art Kriegsfieber befallen.

Nachdem die Nato begonnen hatte, mit ihrer Erweiterung bis vor die Haustür Russlands zu kommen, stellte George Kennan fest, dass der Nato-Beschluss eine sich selbst erfüllende Prophezeiung sei. Die Erweiterung sei weit davon entfernt, den Westen zu schützen, erklärte er. Vielmehr würde sie zu einem Krieg mit Russland führen. Kennan sagte auch voraus, dass, sobald dieser Fall eintritt, die Befürworter der Erweiterung behaupten werden, der ureigene russische Militarismus sei die Ursache dafür. Er behauptete: «Natürlich wird es eine negative Reaktion Russlands geben, und dann werden [die Befürworter der Erweiterung] erklären, dass sie uns immer gesagt haben, dass die Russen so sind – aber das ist ganz einfach falsch.»39 Kennans Vorhersage war also in zweifacher Hinsicht richtig: erstens in Bezug auf die russischen Reaktionen auf die Nato-Erweiterung und zweitens in Bezug auf die sich mit einem Zirkelschluss selbst rechtfertigende Reaktion derjenigen westlichen Hardliner, die auf der falschen Seite der Ereignisse standen.

In den US-Medien wird darüber kaum berichtet. Wenn man fernsieht und die Zeitungen liest, könnte man sogar glauben, dass nie Bedenken gegen die Nato-Erweiterung geäussert wurden oder diese nur nebensächlich waren. Obwohl die Rolle der USA und der Nato-Staaten bei der Entstehung der Krise in der Ukraine offensichtlich sein sollte, sind viele Amerikaner und Europäer von einer Art «stellvertretendem Kriegsfieber» befallen. Sie verlieren das grosse Ganze aus den Augen und sind mit den täglichen Details über die Kampfhandlungen beschäftigt. Dabei werden sie von einer selbstgerechten Wut und von der Überzeugung getrieben, dass immer mehr Waffenlieferungen in die Ukraine die beste Strategie sei, und zwar so lange, bis Putin das Handtuch wirft.

Angesichts der Intensität dieses Kriegsfiebers dürfte es nicht überraschen, dass die wenigen US-Politiker, die über die seltene Kombination aus Klarheit und Mut verfügen, die für eine offene Diskussion über die Hintergründe des Ukraine-Kriegs nötig ist, als Verräter bezeichnet werden. In Wahrheit sind sie Patrioten. Sie weigern sich, beim von Stammesdünkel geprägten Spiel «Mein Land kann kein Unrecht begehen» mitzumachen. Sie erkennen unbequeme historische Fakten als das an, was sie sind, und versuchen, eine Wiederholung derselben Fehler in der Zukunft zu vermeiden. Und sie wollen verstehen, wie sich diese Fakten auf die Gegenwart auswirken, insbesondere im Hinblick darauf, wie sich Tod und Zerstörung in der Ukraine begrenzen lassen und gleichzeitig die Wahrscheinlichkeit einer apokalyptischen nuklearen Konfrontation zwischen Russland und dem Westen verringert werden kann. John Mearsheimer beschreibt die Situation aus einem aktuellen Blickwinkel so:

«[W]ir befinden uns in einer extrem gefährlichen Situation, und die Politik des Westens verstärkt diese Risiken noch. Für die russische Führung haben die Vorgänge in der Ukraine wenig damit zu tun, dass ihre imperialen Ambitionen durchkreuzt werden. Es geht ihr darum, dort zu handeln, wo sie eine direkte Bedrohung für die Zukunft Russlands verortet. Putin mag die militärischen Fähigkeiten Russlands, die Wirksamkeit des ukrainischen Widerstands und sowohl Umfang als auch Geschwindigkeit der westlichen Reaktion falsch eingeschätzt haben, aber man sollte nie unterschätzen, wie rücksichtslos Grossmächte sich verhalten können, wenn sie glauben, sich in einer Zwangslage zu befinden. Die USA und ihre Verbündeten verschlimmern die Situation jedoch in der Hoffnung, Putin eine demütigende Niederlage beizubringen und vielleicht sogar seine Absetzung zu bewirken. Sie verstärken die Hilfe für die Ukraine und setzen gleichzeitig Wirtschaftssanktionen ein, um Russland schwer zu bestrafen – ein Schritt, den Putin jetzt als ‹eine Art Kriegserklärung› ansieht.»40