Die Geschichte von einem bösen, irrationalen, von Natur aus expansionistischem Russland mit einem paranoiden Führer an seiner Spitze, dem die tugendhaften USA und Europa gegenüberstehen, ist verwirrt und fehlgeleitet. Sie ist mit mehreren in die gleiche Richtung gehenden Ereignissen der letzten dreissig Jahre unvereinbar – Ereignisse, deren Bedeutung und Sinn sich eigentlich von selbst hätten erschliessen müssen. Tatsächlich könnte man das vorherrschende westliche Narrativ selbst als eine Art Paranoia betrachten.

Die Provokationen der USA und ihrer Verbündeten gegen Russland sind derart schwerwiegende politische Fehler, dass die US-Führung im umgekehrten Fall schon längst einen Atomkrieg mit Russland riskiert hätte. Dass die US-Führung nun das Gegenteil tut, ist eine gefährliche Missachtung der Realität. In manchen Fällen stellt diese Missachtung sicherlich vorsätzliche Demagogie dar. Bei einigen Politikern ist das wohl gutgemeint, und zwar aus dem einfachen Grund, dass sie neue Fakten immer wieder im Lichte des gleichen überholten Narrativs interpretieren.

Die grossen Medienkonzerne tragen dafür auch Verantwortung. Anstatt sich zu bemühen, die Ereignisse für ihr Publikum angemessenen zu kontextualisieren, haben sie einfach das bevorzugte Narrativ der Regierung propagiert. Aus welchen Beweggründen auch immer haben die Mainstream-Medien ein Propagandaprogramm eingeführt, mit dem sie die Öffentlichkeit fehlinformieren. Russland kann das nur als Affront gegen den nationalen Charakter seines Volkes empfinden. Online-Anbieter von Informationen machen nichts anderes. Wie der mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichnete Journalist und Anwalt für das Grundrecht auf freie Meinungsäusserung, Glenn Greenwald, aufgezeigt hat, findet auf vielen Ebenen der Gesellschaft sowohl in den USA als auch in Europa eine massive Zensur abweichender Meinungen statt.41

Obwohl sich die erschütternden Bilder aus der Ukraine schwer ohne Abscheu und Wut betrachten lassen, ist es ein gefährlicher Fehler, blinden Emotionen nachzugeben und sich dem vorherrschenden westlichen Narrativ anzuschliessen. Es stärkt die schlimmsten Kräfte in Washingtoner Kreisen, wozu auch das Konglomerat aus bürokratischen Machtstrukturen und wirtschaftlichen Interessen gehört. Präsident Eisenhower, ein ehemaliger Fünf-Sterne-General der Armee, bezeichnete dieses als «militärisch-industriellen Komplex» und warnte die amerikanische Öffentlichkeit in seiner letzten Fernsehansprache als US-Präsident davor. Ebenso verleiht dieses Narrativ sowohl den am vehementesten russophob und militaristisch eingestellten Politikern in Europa Auftrieb als auch denjenigen, die am wenigsten den Mut aufbringen, sich der fehlgeleiteten amerikanischen Politik entgegenzustellen. Das Narrativ vernebelt den Verstand der amerikanischen und europäischen Bürger und führt zu Chauvinismus und Kriegstreiberei.

Das Hauptziel meines Buches ist es, ein falsches Narrativ zu korrigieren, und das aus einem sehr praktischen Grund: weil falsche Narrative zu schlechten Ergebnissen führen. Narrative schlagen sich unweigerlich in Verhaltensweisen nieder; einerseits beschreiben sie eine Situation, andererseits gestalten sie diese auch. Indem sie als Modelle der Realität fungieren, dienen Narrative als Handelsanleitungen. Durch die Dynamik von Aktion und Reaktion, Vorstoss und Rückstoss können sie dann die Ergebnisse bewirken, die laut ihrer Darstellung angeblich bereits existieren. Auf diese Weise kann ein Narrativ, welches die Absichten eines potenziellen Gegners übertrieben pessimistisch einschätzt – was ich ein «Narrativ des Misstrauens» nenne –, genau die Bedrohungen verstärken, die es zu entschärfen vorgibt.

Dieser Beschreibung liegt die typische Dynamik eines Wettrüstens zugrunde, das in Eskalation und Krieg gipfelt. Sie entspricht nicht dem Paradigma des Zweiten Weltkriegs mit der damit verbundenen Vorstellung von unaufhaltsamem Expansionismus und westlichem Appeasement, sondern dem des Ersten Weltkriegs, in dem das Deutsche Reich, Grossbritannien, Westeuropa und schliesslich die USA schlafwandlerisch in eine Katastrophe taumelten. Doch heutzutage kann durch die Wirkung von Atomwaffen eine Katastrophe leichter eintreten und verheerendere Auswirkungen haben.

Wie im Ersten Weltkrieg befürchtet jede Seite von der anderen das Schlimmste und versucht sich durch eine militärische Strategie, die notwendigerweise auch offensives Potenzial hat – ein zweischneidiges strategisches Schwert, das politische Analysten als «Sicherheitsdilemma» bezeichnen –, unverwundbar zu machen. Genau das hat George Kennan hinsichtlich der Nato-Erweiterung vorausgesagt und damit recht behalten. Diese Erweiterung, die im Namen der Verteidigung gerechtfertigt wurde, wurde von Russland als offensive Bedrohung wahrgenommen und führte zu Schritten, die wiederum vom Westen als expansionistisch wahrgenommen werden. 2014 lieferte Richard Sakwa einen prägnanten Rückblick auf die Situation, die Kennan vorhergesehen hatte:

«Letztlich wurde die Existenz der Nato durch die Notwendigkeit gerechtfertigt, die Sicherheitsbedrohungen zu bewältigen, die durch ihre eigene Erweiterung verursacht wurden. Die ehemaligen Mitglieder des Warschauer Paktes und die baltischen Staaten sind der Nato beigetreten, um ihre Sicherheit zu erhöhen. Stattdessen haben sie dadurch aber ein Sicherheitsdilemma für Russland geschaffen, welches die Sicherheit aller untergräbt.»42

Und seit Sakwa das geschrieben hat, hat sich die Situation nur noch verschlimmert, insbesondere weil die USA und ihre Verbündeten parallel dazu eine Reihe militärischer Operationen ausserhalb der Nato durchgeführt haben.

Ungeachtet seiner autoritären Tendenzen war Putins Weg keineswegs vorgezeichnet. Der aktuelle Zeitgeist mag es als ketzerisch ansehen, das Offensichtliche auszusprechen: So wie alle Menschen wird Putin von einer Kombination aus inneren Faktoren – seiner Psychologie, Überzeugungen und Werte – und äusseren Faktoren – die dynamischen externen Umstände, mit denen er konfrontiert ist – beeinflusst. Das ist eine Binsenweisheit. Ebenso ist es eine Binsenweisheit, dass sich die Eigenschaften eines Menschen verändern können, wenn dieser Mensch über einen längeren Zeitraum hinweg bestimmten Mustern von externen Umständen ausgesetzt ist. Zumindest können sich einzelne Eigenschaften stärker ausprägen und dadurch möglicherweise entgegengesetzte Eigenschaften in den Hintergrund drängen.

Der Westen hat stetig, mit kleineren und grösseren Schritten, die berechtigten Sicherheitsbedenken Russlands ausser Acht gelassen und sie als irrelevant betrachtet, wodurch die russischen Befürchtungen einer Einkreisung und Invasion verstärkt wurden. Gleichzeitig sind die USA und ihre europäischen Verbündeten davon ausgegangen, dass ein rationaler Akteur durch die Beteuerungen der friedfertigen Absichten des Westens beruhigt werden kann, dass die Waffen, die Ausbildung und die Interoperabilitätsübungen rein defensiv seien und nicht gefürchtet werden müssten – egal, wie provokativ, umfangreich oder nahe an Russlands Grenzen sie stattfinden. In vielen Fällen haben westliche Politiker, vor allem aus den USA, ihre Geringschätzung gegenüber Putin aktiv zum Ausdruck gebracht und ihn manchmal sogar persönlich beleidigt.

Trotzdem hat der Westen so getan, als würde Putin sich strategische Bedrohungen einbilden, die nicht existieren. Dieses westliche Framing unterstellt das Fehlen legitimer russischer Sicherheitsbedenken und verbindet diese noch mit angedeuteten sowie ausdrücklichen Vorwürfen, dass Russland sich irrational verhalte. In der Hauptsache stellt das die Grundlage des derzeit vorherrschenden Narrativs dar. Ebenso ist es die Grundlage für den ideologischen Standpunkt der Anti-Russland-Hardliner, die in Washington eine derart prominente Rolle spielen. In zwischenmenschlichen Beziehungen würde die Kombination aus Drohungen und Paranoia-Vorwürfen als Gaslighting gelten. Ist die Situation im Bereich der internationalen Politik wirklich so anders?

In Kriegszeiten und bei militärischer Bedrohung neigen selbst die Führer freier Länder zum Autoritarismus. Wenn sie eine grosse Gefahr wittern, können sie die Zügel der Macht weiter straffen, eine Kontrolle von oben nach unten durchsetzen und ausweiten, welche Handlungen und Äusserungen im Inland als Hochverrat eingestuft werden. Es ist nicht übertrieben, zu behaupten, dass die in diesem Buch beschriebenen Provokationen in den Köpfen von Putin und anderen Mitgliedern der politischen und militärischen Elite Russlands ein Gefühl der Belagerung und des Notstands hervorgerufen haben. Ich will damit sagen, dass man die Möglichkeit in Betracht ziehen muss, dass westliche Massnahmen nicht nur zu Russlands Aussenpolitik beigetragen haben, sondern auch die russische Innenpolitik ungünstig beeinflusst haben. Tatsächlich sagte George Kennan das bereits 1998 voraus. Die Nato-Erweiterung, würde sich «negativ auf die Entwicklung der russischen Demokratie auswirken».43

Politische Akteure wie Bürokratien und Staaten, zu denen Einzelpersonen ebenso wie Unternehmen gehören, sind keine statischen Gebilde. Vielmehr ergeben sich die menschlichen Entscheidungen, die wir «Politik» nennen, aus einer Verkettung bewusster Absichten, unbewusster Motive, historischer Zufälle und persönlicher, menschlicher Interaktionen. Dazu gehören unter anderem auch die von US-Präsident Biden begangenen unverhohlenen Drohungen und Demütigungen sowie seine respektlosen Handlungen und Aussagen. Und es ist durchaus möglich, dass sich die Handlungen der USA und ihrer europäischen Verbündeten stärker auf die Politik von Putin, einschliesslich seiner Innenpolitik, auswirkten und das immer noch tun, als manche glauben.44