In den letzten dreissig Jahren haben hochrangige amerikanische Aussenpolitik-Experten wiederholt davor gewarnt, dass die USA einen schweren politischen Fehler begehen, wenn sie die Erweiterung der Nato nach Ostereuropa vorantreiben. Als die Nato 1997 einen grossen Schritt in Richtung Erweiterung machte, warnte der damals vielleicht bedeutendste amerikanische Diplomat, George Kennan (in den 1940er Jahren war er ein Vordenker der amerikanischen Eindämmungspolitik und diente später als Botschafter in der Sowjetunion), dass die Nato-Erweiterung «der verhängnisvollste Fehler der amerikanischen Politik in der Ära nach dem Kalten Krieg werden könne». Er beklagte die Sinnlosigkeit des gesamten Erweiterungsprojekts und fragte:

«Warum sollten sich die Ost-West-Beziehungen bei all den verheissungsvollen Möglichkeiten, welche das Ende des Kalten Krieges mit sich brachte, auf die Frage konzentrieren, wer sich mit wem – und infolgedessen gegen wen – in irgendeinem herbeifantasierten, völlig unvorhersehbaren und höchst unwahrscheinlichen künftigen militärischen Konflikt verbündet?»32

Ein Jahr später kommentierte der damals 94-jährige Diplomat in einem Interview mit Thomas Friedman die Ratifizierung der Nato-Erweiterung durch den Senat so:

«Ich halte das für den Beginn eines neuen kalten Krieges. Die Russen werden darauf zunehmend negativer reagieren, und das wird sich auf ihre Politik auswirken. Ich halte das für einen bedauerlichen Fehler. Es gab dafür überhaupt keinen Grund. Niemand hat jemand anderes bedroht. Angesichts dieser Erweiterung würden sich die Gründerväter im Grabe umdrehen.»33

Er fügte noch hinzu: «Kapieren das die Menschen nicht? Unsere Unterschiede im Kalten Krieg bestanden mit dem kommunistischen Sowjetregime. Und jetzt wenden wir uns von genau den Menschen ab, welche die grösste unblutige Revolution der Geschichte angezettelt haben, um dieses Sowjetregime zu beseitigen.»

Kennan war mit dieser Meinung nicht allein. Viele andere – einschliesslich einiger prominenter Hardliner – sprachen sich ebenso gegen die Erweiterung aus. Dazu gehörten Robert McNamara, ehemaliger Verteidigungsminister, der während des Vietnamkriegs massive Bombenangriffe plante und durchführen liess; Paul Nitze, ehemaliger Marineminister und stellvertretender Verteidigungsminister, der Kennans Politik der statischen Eindämmung ablehnte und stattdessen ein offensiveres Vorgehen vorzog, durch welches die Russen zur Räumung von Gebieten gezwungen werden; der antikommunistische Harvard-Professor Richard Pipes, der einem Expertengremium vorstand, das für die CIA die strategischen Kapazitäten und Ziele der Sowjetunion analysierte; der ehemalige CIA-Chef Robert Gates, der später Verteidigungsminister wurde; Jack F. Matlock Jr., der vorletzte Botschafter in der Sowjetunion, der an den Verhandlungen über das Ende des Kalten Krieges beteiligt war; sowie frühere Botschafter in Rumänien, Polen und der BRD. Diese und andere prominente Washington-Insider sprachen sich öffentlich und vehement gegen die Nato-Erweiterung aus.34 Doch ihr Rat wurde nicht befolgt.

2015 begann der Professor der University of Chicago, John Mearsheimer, öffentlich zu erklären, dass die Russen sich aus Sorge um ihre Sicherheit gezwungen sehen könnten, militärische Massnahmen zu ergreifen. Dazu zähle auch der Versuch, die Ukraine zu «zerstören», um sie bei der «Kalkulation» des Westens aus dem Spiel zu nehmen, wenn dieser nicht aufhöre, die Ukraine militärisch, politisch und wirtschaftlich zu integrieren – eine Warnung, die so vorausschauend wie die von Kennan war.

«Moskau hat keine zwei grossen Ozeane, um sich zu verteidigen.»

Etwas überraschend scheinen selbst einige offensiv russophobe Analysten dem Grundtenor der historischen Argumentation von Mearsheimer und anderen Kritikern an der Nato-Erweiterung zuzustimmen. Die Washington-Insiderin und ausgesprochene Russland-Hardlinerin Fiona Hill veranschaulichte unlängst in einem Interview mit dem Online-Magazin Politico diesen Punkt.35 Im letzten Absatz stellt sie fest: «Natürlich haben wir [die Vereinigten Staaten] auch schwere Fehler gemacht.» Damit bezieht sich Fiona Hill anscheinend auf ihre eigene Antwort auf diese Frage, die ihr zu Beginn des Interviews gestellt wurde: «Also wird Putin im Moment von Emotionen getrieben und nicht von einem logischen Plan?» Sie korrigierte darauf den Interviewer:

«Ich denke, es gibt einen logischen, methodischen Plan, der sehr weit zurückreicht, zumindest bis 2007, als er [Putin] der Welt und insbesondere Europa zu verstehen gab, dass Moskau die weitere Ausweitung der Nato nicht akzeptieren wird. Und 2008 – also innerhalb eines Jahres – öffnete die Nato die Tür für Georgien und die Ukraine. Das geht eindeutig auf diesen Zeitpunkt zurück.»

Hill fuhr fort:

«Damals war ich im nationalen Nachrichtendienst, und der National Intelligence Council analysierte, wie Russland wahrscheinlich auf die Nato-Erklärung zur ‹Offenen Tür› reagieren würde. Eine unserer Einschätzungen lautete, dass ein echtes, ernsthaftes Risiko für eine präventive Militäraktion Russlands bestand, die sich nicht nur auf die Annexion der Krim beschränkt, sondern sich in einem viel grösseren Umfang gegen die Ukraine und Georgien richten wird. Und natürlich kam es vier Monate nach dem Nato-Gipfel in Bukarest [als die Nato-Politik hinsichtlich der Ukraine und Georgiens verkündet wurde] zur Invasion in Georgien. Die ukrainische Regierung zog ihren Antrag auf eine Nato-Mitgliedschaft zurück, und deshalb erfolgte damals keine Invasion der Ukraine. Aber wir hätten uns ernsthaft damit auseinandersetzen müssen, wie wir mit diesem möglichen Ausgang und unseren Beziehungen zu Russland umgehen sollten.»

Das Bemerkenswerte an Fiona Hills Antwort ist, dass sie mehrere wichtige Punkte anführt, welche von Hardlinern in der Regel nur ungern anerkannt werden. Erstens gibt sie an, der US-Geheimdienst habe 2007 – sieben Jahre vor der Annexion der Krim durch Russland – erkannt, dass ein «echtes, ernsthaftes Risiko» bestand, dass Russland als Reaktion auf die Nato-Erweiterung die Krim annektieren könnte. Zweitens behauptet sie, die Geheimdienstgemeinschaft habe 2007 erkannt, dass die Nato-Erweiterung eine grösser angelegte russische Militäraktion auslösen könnte, und zwar nicht nur auf die Krim beschränkt, sondern eine «viel grössere Aktion» gegen die Ukraine sowie gegen Georgien. Drittens behauptet Hill, dass die Teilnahme Russlands am Georgien-Krieg eine Reaktion auf die Nato-Erweiterung war. Schliesslich sagt sie ganz unverblümt, dass Russland, anders als in Georgien, 2008 in der Ukraine nichts unternommen habe, weil «die ukrainische Regierung davon Abstand genommen hatte, eine Nato-Mitgliedschaft zu beantragen».

Durch diese Punkte, insbesondere den letzten, benennt Fiona Hill direkt die entscheidende Rolle der Nato-Erweiterung und militärischer Eingriffe des Westens als Motiv für das Vorgehen Russlands in der Ukraine. Sie scheint also einerseits für eine Hardliner-Position zu argumentieren und gleichzeitig eine Perspektive zu vertreten, die jener von Mearsheimer sehr ähnlich ist. Es ist schwer nachvollziehbar, weshalb sie und ihre gleichgesinnten Politikgurus dieser Perspektive bei ihren Entscheidungen dennoch wenig oder gar kein Gewicht beimessen. Vielmehr tritt diese Perspektive völlig in den Hintergrund. Anstatt die nachteiligen Folgen der Nato-Erweiterung offen einzugestehen, sehen sie in Putins jüngstem Einmarsch in die Ukraine ein unbeherrschtes und grundloses Streben nach territorialer Expansion à la Hitler.

Doch selbst wenn sie Putin ausdrücklich als den neuen Hitler darstellt, scheint Hill die Nato-Erweiterung wieder ins Spiel zu bringen. Auf die Frage «Genauso wie die Welt Hitler nicht kommen sah, haben wir also Putin ebenfalls nicht kommen sehen?», bemerkt Hill:

«Die Gründerväter würden sich im Grabe umdrehen.»

«Wir hätten das sehen sollen. Er [Putin] ist jetzt seit zirka 22 Jahren auf der Bildfläche und steuert seit 2008 auf diesen Punkt zu. Ich glaube allerdings nicht, dass er das von Anfang an vorhatte, aber die Einstellung zur Ukraine und das Gefühl, dass die ganze Ukraine zu Russland gehört, die Verlustgefühle – all das war schon da und hat sich verstärkt.»

Es lohnt sich, diese Bemerkung und Hills frühere, oben vollständig zitierte Erklärung einander gegenüberzustellen: «Ich denke, es gibt einen logischen, methodischen Plan, der [. . .] zumindest bis 2007 zurückreicht, als er der Welt zu verstehen gab, dass Moskau die weitere Ausweitung der Nato nicht akzeptieren wird.» Wenn man diese beiden Aussagen gemeinsam betrachtet und sich auf Hills Verweise auf die Jahre 2007 und 2008 konzentriert, kann man sie meiner Meinung nach durchaus so verstehen, dass Putin sich aufgrund der Nato-Erweiterung in den neuen Hitler verwandelt hat. Ob Putin tatsächlich Züge von Hitler besitzt, ist eine ganz andere Frage, aber ich spreche hier nur über die von Hill vermittelte Ansicht.

Bei der Einschätzung von Putins Zielen stellt Hill fest: «Putin will aber nicht unbedingt das ganze Land [Ukraine] besetzen, sondern es aufteilen [. . .]. Jedenfalls könnte er damit leben – mit einer zerstückelten, zerschlagenen Ukraine, deren Teile in verschiedenen Staaten liegen.» Diese Aussage sollte mit Mearsheimers Prognosen aus dem Jahr 2015 verglichen werden. Er sagte voraus, dass Russland das Bedürfnis verspüren könnte, die Ukraine zu «demolieren» (wie Mearsheimer es ausdrückt), wenn die Nato und der Westen weiterhin in russisches Hoheitsgebiet eindringen.

Hier lassen sich bemerkenswerte Parallelen feststellen. Sowohl Mearsheimer als auch Hill scheinen zu glauben, dass die Nato-Erweiterung die Grundlage für den Wandel im Verhalten Russlands darstellt, der nun im Ukraine-Krieg seinen Höhepunkt gefunden hat. Beide Analysten sind davon ausgegangen, dass Russland als Erwiderung auf die Nato-Erweiterung versuchen könnte, die Ukraine zu «demolieren» – oder, wie Hill es ausdrückt, die Ukraine in eine «zerstückelte, zerschlagene» Nation zu verwandeln. Ich kann zwischen den Meinungen von Hill und Mearsheimer kaum wesentliche Unterschiede erkennen. Was mich jedoch verwirrt, ist, dass Hill in ihrer Gesamtanalyse diesen wichtigen Bereich der Übereinstimmung zwischen ihr und Mearsheimer scheinbar nicht berücksichtigt.

Gegen Ende des Interviews bezeichnet Hill all jene, die den Westen für die Ukraine-Krise verantwortlich machen, als Dummköpfe der russischen Desinformation: «Ich meine, immerhin hat er [Putin] [. . .] bewirkt, dass viele Amerikaner sagen: [. . .] ‹Gut gemacht, Wladimir Putin›, oder dass sie die Nato oder die USA für dieses Ergebnis verantwortlich machen. Genau darauf zielt die Propaganda und psychologische Kriegsführung Russlands ab.»

Mit dieser Feststellung ignoriert Hill offenbar ihre eigenen Schlussfolgerungen über die nachteiligen Folgen der Nato-Erweiterung. Zudem trifft es einfach nicht zu, dass diejenigen, welche die Vereinigten Staaten und die Nato für die Krise verantwortlich machen, im Grunde sagen: «Gut gemacht, Wladimir Putin.» Vielmehr betrachten diejenigen, welche die Schuld des Westens an der Ukraine-Krise hervorheben, den russischen Einmarsch in die Ukraine als unabwendbare Katastrophe. Sie sehen es als ein Ereignis, das – was immer die Gründe dafür sind – furchtbares Leid, Zerstörung und Tod gebracht hat. Viele Kritiker der Nato kritisieren nämlich auch Putin ganz offen – und das, obwohl sie auch die Rolle des Westens bei der Verursachung der Krise betonen.

Hill sind natürlich die schrecklichen Folgen des deutschen Einmarschs in Russland im Zweiten Weltkrieg bekannt, wenn sie sich ihre Meinung zum russischen Vorgehen bildet. Sie stellt im Interview sogar fest: «Wladimir Putins eigene Familie hat unter der Belagerung von Leningrad gelitten.» Ihr Kommentar ist zutreffend, aber trotzdem eine ziemliche Untertreibung: Laut Stephen F. Cohen «überlebten Putins Mutter und sein Vater nur mit knapper Not lebensgefährliche Verletzungen sowie Krankheiten, und sein älterer Bruder starb bei der Belagerung Leningrads durch die Deutschen. Auch mehrere seiner Onkel kamen ums Leben.»36 Zudem findet man dasselbe Leid, wie Putins Familie es erfahren hat, in ganz Russland. Die genauen Zahlen sind zwar nicht bekannt, aber während der deutschen Invasionen im Zweiten Weltkrieg starben ungefähr 25 Millionen Sowjetbürger. Die Hälfte davon – etwa 12,5 Millionen – in Russland. Das entspricht etwa einem Siebtel der damaligen Bevölkerung Russlands.37

Doch anstatt die Relevanz dieser schmerzhaften Geschichte für die Frage der russischen Sicherheit zu erwähnen, anstatt darauf hinzuweisen, wie die Nato-Erweiterung und das Vordringen (oder in den Augen der Russen vielleicht das erneute Vordringen) westlicher Militärmächte an Russlands Grenzen mit dieser Geschichte zusammenhängt, und anstatt eine psychologische Sensibilität Putins aufgrund des Schicksals seiner eigenen Familie auch nur zu vermuten, sieht Hill sich in ihrer Ansicht bestärkt, dass Putin durch seine persönlichen familiären Erfahrungen von einem gefährlichen und irrationalen Expansionsdrang angetrieben ist. Nachdem sie Putins Familie angesprochen hat, fügt sie noch hämisch hinzu: «Doch hier [durch den Einmarsch in die Ukraine] tut Wladimir Putin genau dasselbe, [was Deutschland Russland angetan hat].» Selbst wenn es um Putins eigene Familientraumata geht, scheint Hill in ihrer Analyse russische Sicherheitsbedenken nicht anerkennen zu wollen. Für sie ist alles nur eine Wiederholung von Hitler, Nazideutschland und dem Zweiten Weltkrieg.

Dabei ist die russische Wahrnehmung äusserer Bedrohungen zweifelsohne stark von der Vergangenheit Russlands geprägt. Zu den Invasionen der Deutschen im Ersten und im Zweiten Weltkrieg kommt hinzu, dass Russland schon ein Jahrhundert zuvor von Napoleon überfallen worden war, dessen Armee sogar bis nach Moskau kam. Richard Sakwa, Professor für russische und europäische Politik an der University of Kent in England, beschreibt das Zusammenspiel zwischen dieser Geschichte und den geografischen Gegebenheiten der Region so: «Moskau [. . .] hat keine zwei grossen Ozeane, um sich zu verteidigen. Es hat keine Berge, um sich zu verteidigen. Keine grossen Flüsse. Es liegt in einer der riesigen Ebenen Nord-Eurasiens, besitzt keine schützenden Grenzen und fühlt sich ständig vom Westen bedroht.»38

Politische Hardliner wie Hill kennen diese Geschichte und die geografischen Gegebenheiten genau. Dennoch betrachten sie diese nicht als potenzielle psychologische Verstärkung von legitimen russischen Sicherheitsbedenken. Stattdessen vermitteln diese Analysten die Ansicht, dass Putin Landeroberungen in der Manier Hitlers vorhat, einer modernen Art der erbarmungslosen Jagd nach Lebensraum. Zudem stellen sie Putin selbst im Wesentlichen als leibhaftigen Hitler dar – paranoid, in der imperialen Vergangenheit lebend und von einem angeborenen russischen Militarismus angetrieben. Diese Art von Analyse kann man nur festhalten, wenn man die Schlussfolgerungen über die Nato-Erweiterung ausser Acht lässt, zu denen Hill selbst gelangt ist und welche sie in ihrem Interview mit Politico öffentlich dargelegt hat.