Ein Grossstadtaquarium ist ausserhalb der Öffnungszeiten ein unheimlicher, geisterhafter Ort. Sind die Lichter in den leeren Besuchergalerien ausgeschaltet, springen die erleuchteten Behausungen der Fische die Sinne an, machen einen vom Beobachter zu einem beobachteten, aufgescheuchten Gefangenen, der in seinem angestammten Element dahintreibt, schwebend und für alles offen.

«Bitte sehr», sagt Biologe Sal Munoz, der heute im Seattle Aquarium Nachtdienst schiebt, und zeigt auf den riesigen, fast vier Meter hohen Glaskasten, in dem Achilles wohnt: ein 35 Kilo schwerer pazifischer Riesenkrake. «Ein junges, hübsches Männchen», so beschreibt ihn Roland Anderson, ein anderer Wissenschaftler des Aquariums. Man muss wohl sehr vertraut sein mit diesen Meerestieren, um zu einem solchen Urteil zu kommen. Wenige Lebensformen sind uns Menschen von der Substanz wie vom Aussehen her so zutiefst fremd wie der pazifische Riesenkrake. Ausgewachsene Exemplare können über fünfzig Kilo schwer werden und dennoch mit ihrer ganzen pulsierenden vielarmigen Masse durch ein Rohr flutschen, das gerade einmal so dick ist wie ein Apfel. Es muss nur gross genug sein für den knorpeligen Schnabel des Kraken, seinen einzigen festen Körperteil.

Anderson und seine Mitarbeiter haben vor zwanzig Jahren begonnen, den Riesenkraken im Seattle Aquarium Namen zu geben. Nicht aus Gefühlsduselei. Anderson, Sohn eines Kapitäns und seit langem Meeresbiologe, neigt nicht zu Sentimentalitäten. «Uns sind die unterschiedlichen Persönlichkeiten der Tiere aufgefallen», erklärt er. In den vergangenen zwanzig Jahren beherbergte das Seattle Aquarium eine stattliche Anzahl von Riesenkraken. Dennoch hat Anderson keinerlei Mühe, sich an die einzelnen Bewohner zu erinnern: an Emily Dickinson etwa, einen besonders zurückhaltenden, schüchternen weiblichen Kraken, der sich immer hinter den Felsvorsprüngen des Aquariums versteckte, oder an Leisure Suit Larry, der in unserer Welt wegen sexueller Belästigung eingebuchtet worden wäre, da er vorbeigehende Forscherinnen und Forscher ständig mit seinen Fangarmen begrabschte. Und dann gab es noch Lucretia McEvil. Sie verwüstete nachts mehrmals ihr Aquarium, indem sie alle am Grund liegenden Steine zusammenkehrte, den Wasserfilter herausriss und Nylonseile zerbiss, deren Überreste Anderson morgens an der Oberfläche treiben sah.

Der Wissenschaftler beliess es aber nicht bei der launigen Taufe seiner Schützlinge. Er wollte seine Beobachtungen systematisieren. Zusammen mit der Psychologin Jennifer Mather von der University of Lethbridge im kanadischen Alberta startete er deshalb 1991 eine Persönlichkeitsstudie an 44 kleineren roten Kraken. Die beiden Forscher wollten die Meerestiere in drei Kategorien einsortieren, die auch in Persönlichkeitstests für Menschen benutzt werden: schüchtern, aggressiv, passiv. Dazu stellten sie den Charakter der Kraken auf die Probe. Sie ärgerten ihre Probanden beispielsweise mit einer borstigen Flaschenbürste oder warfen ihnen eine Krabbe ins Aquarium. «Die Aggressiven stürzten sich auf die Krabbe», erzählt Anderson. «Die Passiven warteten, bis sie an ihnen vorbeikam, und packten sie dann. Und die Schüchternen warteten, bis es Nacht wurde und keiner sie beobachtete. Am nächsten Morgen fanden wir dann ein Häufchen Krabbenschalen vor.»

Neue Zweige am Lebensbaum
Ihre Ergebnisse veröffentlichten Anderson und Mather 1993 unter dem Titel «Personalities of Octopuses» im Journal of Comparative Psychology. Es war nicht nur die allererste Dokumentation von Persönlichkeit bei wirbellosen Tieren – es war überhaupt das erste Mal, dass in einem bedeutenden Psychologie-Fachblatt der Begriff «Persönlichkeit» auf ein nichtmenschliches Wesen angewandt wurde.

Forscher werfen nicht mit diesem Wort um sich, wenn sie von Tieren sprechen. Anthropomorphismus, also die Vermenschlichung nichtmenschlicher Wesen, gilt unter Wissenschaftlern als Ketzerei. Dennoch wird es für eine wachsende Zahl von Wissenschaftlern in vielen Gebieten – Psychologie, Evolutionsbiologie und -ökologie, Tierverhaltensforschung und -schutz – immer schwieriger, den Begriff zu vermeiden, wenn sie die Vielfalt von Verhaltensformen beschreiben wollen, die sie bei den verschiedensten Tieren beobachten.

Tatsächlich hat sich seit der Untersuchung von Anderson und Mather eine ganz neue Disziplin entwickelt – die Tierpersönlichkeitsforschung. Durch Beobachtungen verschiedener Spezies in unterschiedlichen Gruppenkonstellationen und unter unterschiedlichen Bedingungen stellen mehr und mehr Wissenschaftler fest, dass unsere Verhaltensweisen in unterschiedlichen Abstufungen bei Geschöpfen aller Zweige des Lebensbaums vorkommen.

Aus Beobachtungen unserer Mitmenschen kennen wir alle den Draufgänger im Gegensatz zum vorsichtigen, risikoscheuen Typ; den aggressiven Tyrannen und das sanftmütige Opfer; das empfindsame, passive Individuum im Gegensatz zum zielstrebigen, aktiven, das kaum etwas mitbekommt von den subtilen Signalen seiner Umgebung. Wir hätten nicht erwartet, sie überall wiederzufinden: bei Nutztieren und Vögeln, bei Fischen, Insekten und Spinnen. Doch immer häufiger müssen wir erkennen, dass unsere Verhaltensweisen nicht einzigartig menschlich sind, sondern nur Abbilder von tierischem Gehabe. Die Erforschung dieser Phänomene könnte helfen, eine ganze Reihe von Fragen zu beantworten: Was sind die bioevolutionären Grundlagen der Persönlichkeit von Mensch und Tier? Wie beeinflussen sich Gene und Umwelt gegenseitig bei der Entstehung von Charaktereigenschaften? Und warum hat die Natur überhaupt so etwas wie Persönlichkeit erfunden?

Das weltweit erste Institut für Tierpersönlichkeitsforschung (API) ist zurzeit jedoch eher eine Idee als ein tatsächlicher Ort. Abgesehen von einer neu eingerichteten Website mit einem auffälligen, strahlend blauen Logo manifestiert es sich nur in einem kleinen, mit Büchern vollgestopften Büro im zweiten Stock des Instituts für Psychologie der University of Texas in Austin. Das Zimmerchen gehört dem 37-jährigen Psychologieprofessor Sam Gosling, dem Gründer des API.

Als junger Graduierter an der University of California in Berkeley stiess Gosling auf den Artikel von Anderson und Mather über die Persönlichkeit von Kraken. Nie hatte er vorgehabt, seine Nase in dieses Forschungsgebiet zu stecken, er war vielmehr nach Berkeley gekommen, um einen Abschluss in menschlicher Persönlichkeitsforschung zu machen. Im Laufe eines seiner ersten Seminare stellte er dann aber fest, dass sein Denken in eine überraschende Richtung ging: «Es war ein Grundlagenseminar über menschliche Persönlichkeit. Und ich dachte: ‹Also gut, treiben wir die Sache auf die Spitze. Wenn wir herausfinden wollen, was Persönlichkeit ist, nehmen wir etwas, das klar ausserhalb dieser Kategorie liegt, und schauen, wo der Unterschied liegt. Nehmen wir Tiere. Die haben offensichtlich keine Persönlichkeit.› Dann fragte ich mich: ‹Also gut, wenn Tiere keine haben, warum haben sie keine?› Und ich kam auf keine Antwort.»

Eine Standardantwort wäre, dass Tiere unseres Wissens nach ihre Erfahrungen, Gefühle und ihr Verhalten nicht so reflektieren und sich nicht so damit auseinander setzen, wie wir Menschen dies tun. Sie verfügen mit anderen Worten nicht über den dynamischen, selbstreflexiven inneren Dialog, dessen Ergebnis unsere Persönlichkeit ist, wie viele Forscher meinen. Allerdings streiten sich die Gelehrten darüber, ob Selbsterkenntnis ein entscheidendes Charakteristikum für Persönlichkeit ist.

Tatsächlich haben die Wissenschaftler erst im letzten Jahrhundert begonnen, Persönlichkeit zu messen und zu kodifizieren. Erste Ansätze von Persönlichkeitstheorien tauchten in sehr vagen Umrissen in den Schriften von Iwan Pawlow und Sigmund Freud auf. Erst in den letzten sechzig Jahren entwickelte sich die moderne Persönlichkeitswissenschaft mit einem System zur Feststellung klar abgegrenzter Charaktereigenschaften. Sie nahm im Zweiten Weltkrieg ihren Anfang, als die US-Regierung das Office of Strategic Services (den Vorläufer der heutigen CIA) beauftragte, herauszufinden, wer sich aufgrund seiner Persönlichkeitsmerkmale dazu eignete, ein Spion zu werden.

Charaktertests mit Hyänen

Im Lauf der Jahre wurden verschiedene Methoden zur Persönlichkeitserfassung und Charaktertests entwickelt, denen allen das Prinzip zugrunde liegt, dass sich bei Individuen im Lauf der Zeit und in unterschiedlichen Situationen immer wieder bestimmte Wesenszüge feststellen lassen. Der heute am häufigsten angewandte Test verwendet Kategorien, die nach dem sogenannten Fünf-Faktoren-Modell definiert sind: Offenheit, Gewissenhaftigkeit, Extravertiertheit, Umgänglichkeit und emotionale Stabilität. Unter jeder dieser groben Bezeichnungen gibt es «Cluster» wiedererkennbarer Eigenschaften: So ist ein extravertierter Mensch eher gesellig, unternehmungslustig und durchsetzungsfähig; ein emotional instabiler eher ängstlich, launisch und gestresst.

Sam Gosling wollte die Persönlichkeit auf der primitivsten Stufe, gleichsam unterhalb des Radars des menschlichen Bewusstseins, erforschen. Er wandte einige Methoden zur Erfassung menschlicher Persönlichkeit auf Tiere an und wollte wissen, ob sich auch bei ihnen Wesenszüge wie Ängstlichkeit, Aggressivität, Umgänglichkeit oder Gelassenheit feststellen lassen – Eigenschaften, die nicht mit Erkenntnis gekoppelt sein müssen, die sich aber in unterschiedlichem Masse deutlich und wiederholt bei verschiedenen Individuen einer bestimmten Spezies feststellen lassen. Mit anderen Worten: Verhält sich eine Ente im Lauf der Zeit und in verschiedenen Situationen beständig anders als eine andere Ente? Und wenn dem so ist: Warum entspricht das nicht der für uns geltenden Definition von Persönlichkeit, egal ob ein Selbst-Bewusstsein vorhanden ist oder nicht?

Eine erste Antwort auf diese Frage sollte eine Kolonie von 34 Hyänen liefern, die Steve Glickman, ein Psychologieprofessor, auf dem Gelände der Universität Berkeley hielt. Gosling bat vier Betreuer der Kolonie, voneinander unabhängig Fragebögen über jedes einzelne Tier auszufüllen. Die Formulare waren abgewandelte Versionen eines Persönlichkeitstests für Menschen. Gosling stellte fest, dass es bei den Beurteilungen der Hyänen ebenso viel Übereinstimmung gab wie bei der Einschätzung von Menschen und dass bei den Hyänen wiederholt klar menschliche Eigenschaften wie Erregbarkeit, Geselligkeit, Neugier und Durchsetzungsvermögen beobachtet wurden.

Daraufhin sah Gosling 19 verschiedene, bereits früher an nichtmenschlichen Spezies vorgenommene Verhaltensstudien unter demselben Gesichtspunkt durch und bemerkte, dass dieselben Eigenschaften bei einem überraschend grossen Spektrum von Tierarten beobachtet wurden. Zu den festgestellten Charakterzügen gehörten «opportunistisches, selbstsüchtiges» Verhalten bei bestimmten Meerkatzen, «Emotionalität» bei Ratten, «ängstliches Ausweichen» bei gewissen Guppys, «Extravertiertheit» bei anderen, und im Artikel von Anderson und Mather «Kühnheit» und «ausweichendes Verhalten» bei Kraken.

Der «Sag-bloss-Faktor»
«Die evolutionäre Kontinuität zwischen Menschen und anderen Lebewesen deutet darauf hin, dass einem breiten Artenspektrum gewisse Persönlichkeitsbereiche gemein sind», schrieb Gosling im daraus resultierenden Artikel, den er 1999 in der Fachzeitschrift Current Directions in Psychological Science veröffentlichte. Und weiter: «Die Wissenschaftler haben sich dagegen gesträubt, Tieren Charakterzüge, Emotionen und Erkenntnisse zuzuschreiben, obschon sie bereitwillig einsahen, dass Anatomie und Physiologie des Menschen derjenigen von Tieren ähnlich sind. Dabei gibt es in der Evolutionstheorie nichts, was darauf hindeutet, dass nur körperliche Eigenschaften dem Druck der Selektion unterliegen.»

Hunde sind wohl der offensichtlichste Beweis für die Existenz von Persönlichkeit bei Tieren. Seit langer Zeit schon züchten Menschen sie wegen ihrer spezifischen körperlichen und charakterlichen Eigenschaften, und natürlich gibt es innerhalb einer bestimmten Rasse noch allerlei individuelle Varianten der Persönlichkeit. Tatsächlich machen Hunde wie Katzen deutlich, dass es bei dieser hochentwickelten Wissenschaft einen paradox grossen «Sag- bloss-Faktor» gibt. Während sich die Gelehrten endlos lang darüber streiten, ob man das Wort «Persönlichkeit» auch auf nichtmenschliche Wesen anwenden darf, kommt Menschen in der Alltagswelt – und besonders solchen, die mit Tieren zu tun haben – die Aussage, Tiere hätten unterschiedliche Persönlichkeiten, geradezu absurd offensichtlich vor.

Vor nicht allzu langer Zeit waren die Empfindungen, Gefühle und Persönlichkeiten von Tieren nicht nur Stoff für Anekdoten, die Bauern und Haustierbesitzer erzählten. Auch die wissenschaftliche Gemeinschaft setzte sich mit diesem Konzept durchaus intensiv auseinander. Ende des 19. Jahrhunderts waren die Gefühle und das Verhalten von Tieren wesentliche Aspekte der im Entstehen begriffenen Wissenschaft der Humanpsychologie. Nach der Veröffentlichung der «Entstehung der Arten» widmete Charles Darwin einen Grossteil seiner Zeit Recherchen für sein Buch «The Expression of the Emotions in Man and Animals», das 1872 erschien.

Obschon die artübergreifenden Mutmassungen und Vergleiche jener Zeit oft naiv oder intuitiv waren, wirkte sich der Antrieb dazu bis weit ins 20. Jahrhundert hinein auf humanpsychologische Studien aus. Seit der Publikation von nüchterneren, wissenschaftlich soliden Werken wie «On the Senses, Instincts, and Intelligence of Animals With Special Reference to the Insects» von John Lubbocks im Jahr 1908 oder «Animal Intelligence» von Edward L. Thorndike spielten Tierstudien bis in die 1940er Jahre eine wichtige Rolle in Standardwerken über Humanpsychologie. Dann allerdings begannen die Tiere zu verschwinden.

In seinem winzigen Büro in Austin zieht Sam Gosling die 1935 erschienene Ausgabe von «A Handbook of Social Psychology», einem psychologischen Standardwerk jener Zeit, aus dem Regal und deutet auf das Inhaltsverzeichnis. Mehr als ein Viertel der Kapitel sind Studien mit Tieren und anderen Lebensformen gewidmet. Da gibt es Überschriften wie «Das Herden- und Rudelverhalten von Säugetieren», «Insekten-Gesellschaften» oder «Das Populationsverhalten von Bakterien». Ein Kapitel ist sogar den «Gesellschaftlichen Ursprüngen und Prozessen bei Pflanzen» gewidmet. In der 1954 erschienenen Ausgabe eines ähnlichen Werks mit dem Titel «The Handbook of Social Psychology» ist nur ein einziges Kapitel Forschungen an nichtmenschlichen Lebewesen gewidmet. Es trägt den Titel «Die gesellschaftliche Bedeutung von Tierstudien» und ist im Grunde ein verzweifelter letzter Aufruf an Sozialpsychologen, Tierstudien nicht aufzugeben: «Die Sozialpsychologie wird gefährlich kurzsichtig, wenn sie sich nur auf den menschlichen Bereich beschränkt.» Doch diese Warnung verhallte ungehört. Die jüngste Ausgabe dieses Handbuchs von 1998 ist ausschliesslich dem Menschen gewidmet.

Für die Verbannung unserer Mitlebewesen aus der psychologischen Literatur kann man im Wesentlichen jenen Zweig der Psychologie verantwortlich machen, der sich Behaviorismus nennt. Die wichtigsten Vertreter dieser Richtung, bedeutende Psychologen wie Burrhus Frederic Skinner, beharrten darauf, dass Geisteszustände und Wahrnehmungen für niemanden durchschaubar seien ausser für den Menschen, der sie am eigenen Leib erfahre. Und obschon die Behavioristen bei ihren Forschungen oft Tiere verwendeten, wollten sie die subjektiven verbalen Beschreibungen der tierischen Geisteszustände auf ein Minimum beschränken, ebenso Experimente, die auf solch zwangsläufig vagen Daten beruhten. Wenn der Geist des Menschen, wie Skinner sagte, eine «black box» war, dann war der Geist von Tieren uns erst recht nicht zugänglich.

«Der grosse und bleibende Beitrag der Behavioristen ist die Einführung wissenschaftlicher Methoden in die Verhaltensforschung», meint Sam Gosling. «Die sagten: ‹Weg mit den verwaschenen, sentimentalen, hochgestochenen Beschreibungen.› Und das taten sie auch. Mit grösstem Aufwand registrierten sie spezifisches Verhalten, beispielsweise wie oft sich ein Schimpanse am Kopf oder an der Nase kratzt. Aber es ist schwierig, auf diese Weise Phänomene höherer Ordnung wie Persönlichkeit oder Gefühle zu studieren. Am Schluss haben Sie einfach eine Riesenaufzählung bedeutungsloser Beschreibungen. Wenn ich aber wissen muss, ob ich mich zum Putzen in einen Käfig wagen kann oder nicht, dann nützt mir die Information, der Affe habe sich im vergangenen Jahr 50000-mal die Nase gekratzt, herzlich wenig. Dann will ich nur wissen: Ist er aggressiv oder nicht?»

In ihrem Streben nach exakter Wissenschaft unter strikter Vermeidung des «Gespenstes des Anthropomorphismus», wie es Gosling in seiner ersten Publikation nennt, schränkten die Behavioristen das Feld der Psychologie gewaltig ein, da bei ihnen Intuition, Schlussfolgerungen und gesunder Menschenverstand schlicht verboten waren. Jetzt schwingt das Pendel wieder in die andere Richtung; den Anstoss dazu hat überraschenderweise die exakte Wissenschaft gegeben.

Die Beschaffung von Sexpartnern usw.

Fortschritte auf Gebieten wie der Genetik sowie der Molekular- und Evolutionsbiologie haben der Psychologie etwas geliefert, worüber sie noch nicht verfügte, als der Behaviorismus auf den Plan trat: ein besseres Verständnis der biologischen und bioevolutionären Grundlagen des Verhaltens. Das Studium tierischen Verhaltens wurzelt nun nicht mehr im naiven und anthropozentrischen Wunsch, uns in Tieren wiederzuerkennen oder unsere Gedanken und Gefühle auf sie zu projizieren. Bei der Erforschung der Tierpersönlichkeit und auf so wichtigen Gebieten wie der Tierverhaltensforschung, der Verhaltensökologie und der Evolutionsbiologie dreht sich alles um etwas, das man als tiefe Analogien bezeichnen könnte. Je detaillierter und spezifischer unser Wissen über Tiere und die vielen Unterschiede zwischen ihnen und uns geworden ist, umso klarer ist uns auch geworden, wo es zwischen ihrem und unserem Verhalten Übereinstimmungen gibt.

Das Studium der Persönlichkeit von Tieren lenkt nun die Aufmerksamkeit der Psychologie in eine Richtung, die den Behavioristen sehr genehm sein sollte: weg von abstrakten Spekulationen über Persönlichkeit und hin zu deren greifbaren und weitverzweigten Wurzeln. Eigentlich handelt es sich einfach nur um eine diszipliniertere und detailliertere Form jener müssigen Spekulationen, die wir alle schon angestellt haben angesichts der schrägen Kopfhaltung eines Hundes, des plötzlichen Himmelwärtsstrebens einer Schar von Möwen oder des Kommens und Gehens von Ameisen um ihren Hügel.

Menschen und andere besonders soziale Arten bilden ihre Persönlichkeit in einem komplexen Netz von Einflüssen und Imperativen aus. Es geht nicht nur um die Beschaffung von Nahrung oder Sexpartnern, sondern auch um Gruppeninteraktion, Kooperation, Täuschungen und so weiter. Diese Dynamik führte in einer immer komplexeren Folge evolutionärer Rückkopplungen zur Bildung grösserer und komplexerer Gehirne sowie zu nuancierteren emotionalen Reaktionen auf soziale Interaktionen – Verlegenheit, Schuldgefühle, Einfühlungsvermögen, Selbstvertrauen –, wie sie ein solches Hirn überhaupt erst möglich macht.

Dieses Netz von Verstrickungen Stück für Stück zu analysieren, ist seit Jahrzehnten das Bestreben von Psychologie, Psychiatrie und Soziologie. Besonders vielversprechend an der Tierpersönlichkeitsforschung ist, dass sie nicht nur erlaubt, Tiere besser zu verstehen und zu schützen, sondern dass sie durch Experimente, die sich mit Menschen nicht machen liessen, der Wissenschaft neue Wege öffnet, um uns und unser Verhalten zu verstehen.

Ist da wer?
«Gedeihen Menschen, die den Nervenkitzel brauchen, im Spekulationsgeschäft und in militärischer Umgebung besonders gut?», fragte Andy Sih, Leiter des Verhaltensökologielabors der University of California in Davis. Seine Antwort: «Das weiss ich nicht. Aber ich kann Experimente machen, um analoge Situationen bei Tieren zu untersuchen, kann Tiere mit unterschiedlichen Persönlichkeiten nehmen und schauen, wie es ihnen in unterschiedlichen Umgebungen ergeht: in einer Situation, wo räuberisches Verhalten erforderlich ist, in einer kooperativen Situation und in einer Balz- und Paarungssituation.»

Auf ähnliche Weise könne man auch andere Fragen experimentell angehen, meint Sih, etwa: «Sind Tiere besonders aggressiv, wenn sie in ein neues Gebiet vordringen, weil in erster Linie die kühnen, aggressiven Individuen auswandern? Wie unterscheidet sich die Persönlichkeit menschlicher Auswanderer von der Charakterstruktur jener, die zu Hause bleiben, und wirkt sich dieser Unterschied auf ihren Erfolg aus? Und gilt dies auch in Bezug auf den Schmelztiegel Amerika?»

So könnte uns die experimentelle, unsentimentale Tierpersönlichkeitsforschung helfen, uns und unsere Gesellschaft besser zu durchschauen. Doch wie weit lässt sich die Analogie zwischen Tier und Mensch treiben? Der Zoologie- und Psychologieprofessor Vincent Dethier sprach sich schon 1964 in der Fachzeitschrift Science dafür aus, die Schranken zwischen Tier- und Menschenreich einzureissen: «Je ferner uns ein Tier ist, desto weniger sind wir geneigt, ihm Verhaltensformen zuzuschreiben, die wir von uns selbst kennen. Es gibt auf der phylogenetischen Skala einen nicht sehr klar situierten Übergangspunkt, wo unser Einfühlungsvermögen die Aura des Ungesunden annimmt. Doch dieser Bruch ist kaum gerechtfertigt. Wenn wir an eine lineare Evolution des Verhaltens glauben, gibt es keinen Grund, nicht auch bei Wirbellosen nach Anzeichen höher entwickelten Verhaltens zu suchen.»

Sein provokantes Plädoyer schloss Dethier mit einer Bemerkung, die einem lange nachgeht: «Vielleicht sind diese Insekten kleine Maschinen im Tiefschlaf, doch betrachten wir ihre hart gepanzerten Körper, ihre starr blickenden Augen und ihr stummes Agieren, so kann man zuweilen nicht umhin, sich zu fragen, ob da nicht jemand drin ist.»

© New York Times Magazine

Aus dem Amerikanischen von Thomas Bodmer