Die Szene trug sich letzte Woche in Domat/Ems GR zu: Ardip*, 14, baut sich vor einem Mitschüler auf und verlangt, dass dieser seinen Sitzplatz für ihn freimache; es kommt zum Gerangel, in dessen Verlauf der Sohn von albanischen Einwanderern dem Mitschüler gemäss Zeugen «mit voller Wucht die Faust ins Gesicht schlägt». Blut fliesst. Beide Burschen werden vom Lehrer gemassregelt. Für Ardip ist das nichts Neues. Seine Gewaltausbrüche sind an der Schule legendär.

Was der Lehrer offenbar nicht weiss: Ardip ist bei der Bündner Strafjustiz bestens bekannt. Mit Urteil vom 11. Dezember 2006 ordnete ein Jugendgericht wegen «sexueller Handlungen mit Kindern» und «Schändung» eine Erziehungshilfe sowie eine ambulante Therapie an. Mit einem dreizehnjährigen Kollegen hatte Ardip im Sommer 2006 bei einem Spielplatz in Rhäzüns die vierjährige Sara* vergewaltigt. Der Fall sorgte landesweit für Schlagzeilen. Saras Mutter war an die Öffentlichkeit gelangt, weil sie den (durchaus begründeten) Eindruck hatte, dass der peinliche Fall nicht richtig abgeklärt und unter den Teppich gekehrt werde.

Auch für die Familien der Täter brachen schwere Zeiten an. Die Eltern der beiden brachten es trotz entsprechenden Angeboten offenbar nicht über sich, die Sache mit den Eltern des Opfers zu Boden zu reden, sie zogen es vor, in eine andere Gemeinde zu zügeln. Die sprachlichen und kulturellen Barrieren waren unüberwindbar. Ardip wechselte nach einem kurzen Aufenthalt in einem Internat an die Oberstufe in Domat/Ems.

Wie Schulratspräsidentin Gabriele Aschwanden-Büchel auf Anfrage bestätigte, wusste man in Domat/Ems zwar «vom Hörensagen» um die Vorstrafe von Ardip. Offiziell wurden aber weder Schule noch Schulrat informiert. Dasselbe Jugendstrafrecht, das die Resozialisierung und Therapierung der Täter über die (symbolischen) «Strafen» stellt, erlaubt nicht, Lehrer oder Lehrmeister einzuweihen, geschweige denn, diese in die Erziehungsmassnahmen mit einzubeziehen. Denn zuoberst und über allem steht der Daten- und Persönlichkeitsschutz. Die Prozesse sind geheim.

«Wenn die Polizei einen Schüler beim Kiffen erwischt, erfahren wir das, wenn überhaupt, als Letzte», konstatiert Aschwanden-Büchel. Ausnahmen seien nur möglich, wenn eine unmittelbare Gefahr bestehe was die Behörden im Fall Ardip offenbar verneinten. Nach Abschluss der (vermeintlich) erfolgreichen Therapie sah der Schulrat von Domat/Ems keine Rechtfertigung mehr dafür, die auf dem Latrinenweg durchgesickerten Informationen an Ardips neue Lehrer weiterzuleiten.

Im letzten Juli schlugen Jugendliche aus Küsnacht ZH in München Passanten nieder. Die drei Schläger waren einschlägig vorbestraft, in einem Fall lief noch eine «deliktorientierte Therapie» ohne dass die Lehrer, welche die Jugendlichen begleiteten, je orientiert worden wären. Politiker von links bis rechts forderten umgehend eine Öffnung der Informationskanäle. Doch mit der Empörung schwand auch der Wille nach einer Änderung.

Eine Motion von Nationalrat This Jenny (SVP), der einen Miteinbezug von Lehrern und Lehrmeistern in Jugendstrafverfahren verlangt, wies der Bundesrat am 11. September ohne Gegenvorschlag zurück. Begründung: «Die blosse Information, dass ein Jugendlicher verurteilt worden ist oder dass gegen ihn ein Strafverfahren geführt wird, ist für Schulen und Lehrbetriebe zum Schutze der in diesem Umfeld tätigen Personen in der Regel kaum von Nutzen.» Dass es gefährdeten Jugendlichen nützen könnte, wenn Vertrauenspersonen ein Auge auf sie halten, wurde gar nicht erst in Erwägung gezogen.