Mehr ist mehr, das gilt aktuell in der Mode nicht nur, was den Materialaufwand bei Hosen anbelangt – gestern stand im Tram vor mir ein junger Mann, der trug eine Jeans aus so viel Stoff, damit hätte Christo die ganze Strassenbahn eingepackt. Nix Ressourcenschonung, sondern auch bei Brillen gilt nun: XXL is beautiful. Der Gesichtsbalken ist wieder da. Die Nerdbrille ist zurück, und zwar im Überformat. «Harry, fahr das ganz dicke Gestell vor!», würde Derrick im Fall der Oversize-Brillen sagen. Denn der Fernsehkommissar hat den Trend natürlich schon im letzten Jahrtausend getragen.

Dezent war gestern, wer sich umschaut, auf der Strasse, im Bekanntenkreis, im Meeting, im Internet: Beim Sehen und Gesehenwerden setzen junge und nicht mehr ganz so junge Frauen, die sich sonst nix aufoktroyieren lassen, nun auf Altherrendominanz auf der Nase. «Gib Gilbert Gress sofort die Brille zurück!», sagte ich neulich in einer Zürcher Bar zu einer jungen Stylistin. Und sie sagte todernst: «Nein, die ist von Saint Laurent!»

«Gib Gilbert Gress sofort die Brille zurück!», sagte ich neulich in einer Zürcher Bar zu einer Stylistin.

Pardon, natürlich ist die Statement-Brille von Saint Laurent, das französische Luxushaus hat sie bei der diesjährigen Fashion Week in Paris wieder hervorgekramt, und sie ist, bien sûr, eine Ode an den französischen Haute-Couture-Designer, selbst für das Tragen dominanter Brillen bekannt. Über den Modeschöpfer, der 1966 mit seinem «Le Smoking» für Damen das Frauenbild revolutionierte, sagte sein Compagnon Pierre Bergé einst: «Coco Chanel hat den Frauen die Freiheit gegeben. Yves Saint Laurent gibt ihnen die Freiheit der Macht.» Und nun hat die Freiheit der Macht den Frauen die dominante Brille gebracht.

Die Sehschwäche wird zur Stärke, die Brille zur Stilsignatur, das wussten schon viele berühmte Köpfe: Saint Laurent trug 1971 auf der Skandalanzeige seines Dufts «YSL Pour Homme» nichts als Brille und Parfüm – sie stammte von der französischen Manufaktur Maison Bonnet, die seit Generationen für Kaliber wie Arthur Miller, Georges Simenon, Le Corbusier, Audrey Hepburn, Jackie Kennedy, Aristoteles Onassis oder Sofia Coppola weltgewandte Rahmen kreiert. Denn bei einer neuen Brille geht es schliesslich «um nichts Geringeres als Identität», weiss man bei Maison Bonnet.

 

Übermutter der Überbrille

Wenn es bei Frauen «um nichts Geringeres als Identität» geht, kam früher schnell die Kurzhaarfrisur. Dann kam Botox, und nun ist es die Statement-Brille, die, richtig gewählt, kaschieren, verjüngen, ja, ganz neue Typen erschaffen kann. Oder ganz pragmatisch: Mit einem Ereignis von Brille im Gesicht fällt niemandem auf, ob Sie die letzten zwanzig Jahre geschlafen haben oder nicht.

Die fröhliche Übermutter der Überbrille war natürlich Iris Apfel, die Geschäftsfrau, Modeikone und Lebenskünstlerin mit Vorbildfunktion, die im März im Alter von 102 Jahren verstorben ist und die Schönheitsoperationen genauso ablehnte wie Kleiderkonventionen: «Ich bin nicht hübsch, und ich werde nie hübsch sein, aber das macht nichts», sagte sie einmal. «Ich habe etwas viel Besseres. Ich habe Stil.» Und den Durchblick. Denn der Vorteil einer XXL-Brille gegenüber Botox ist: runternehmen – und gut ist.