Fast erinnert die Atmosphäre an ein verwunschenes Märchenschloss. Wir befinden uns in den hohen, verwinkelten, tief in den Boden eingelassenen Kellern der Brauerei Adler im glarnerischen Schwanden, einer Nicht-einmal-3000-Seelen-Gemeinde, Hauptort des Glarner Hinterlandes, wo Linth und Sernf zusammenfliessen. Wer den Klausenpass bereist, kommt hier vorbei, wo seit knapp 250 Jahren – das genaue Datum ist dem Menschengedenken entschwunden – der alte Gasthof «Adler» steht. Bekannt hingegen ist, dass im «Adler» anno 1828, als Henri Dunant geboren wurde, erstmals eigenes Bier gebraut wurde.

«Immer wieder entdecken wir in den Kellern zugemauerte Türen oder verschlossene Wanddurchbrüche», erzählt Mathias Oeschger, der Herr des Hauses. Von Kindesbeinen an war der heute 33-Jährige im elterlichen Betrieb unterwegs und hat die Kunst des Bierbrauens später bei Brauereien im In- und Ausland perfektioniert. Er ist ausgebildeter Braumeister. Und die hier ebenfalls gefragte Kunst der Betriebswirtschaft studierte er in Winterthur. Anfang dieses Jahres hat Mathias Oeschger die Leitung der Familienbrauerei von seinen Eltern Ruth und Roland übernommen; der Vater amtiert weiter als Verwaltungsratspräsident.

Wenn Familie Oeschger gemeinsam ihre Brauerei abschreitet, spürt man familiären Geist und Zusammenhalt. Der Umgang untereinander ist freundlich, man spricht vom Gleichen und ergänzt einander. Das verbindende Ziel besteht darin, das Werk der vergangenen fünf Generationen in eine erfolgreiche Zukunft zu führen.

Dazu gehört die Öffnung des Geschäfts in Richtung Zürich und Zürichsee, die Mathias Oeschger engagiert vorantreibt, seit er vor sechs Jahren beruflich im elterlichen Betrieb anheuerte. In angesagten Zürcher Bars und Quartierbeizen finden insbesondere die seit einigen Jahren produzierten Spezialitäten einen erfreulichen Absatz. Sie tragen eigenwillige Namen wie «Vrenelisgärtli» oder «Rufelihund», «Adlerpfiff» oder «Holzdieb». Ambitionierte und trendbewusste Biertrinker kommen hier auf ihre Kosten.

Orangenschalen und Koriandersamen

Das «Vrenelisgärtli» beispielsweise, benannt nach einem sagenumwobenen Bergwipfel der Glarner Alpen, ist ein obergäriges Witbier, mit Hafer gebraut, dessen frische Akzente durch Koriandersamen und getrocknete Curaçao-Orangenschalen betont werden. Und im «Holzdieb» verbindet sich die Glarner Geistersage vom Holzdieb, der dem Bauern Fridli erschien, mit einem dunklen und kräftigen (8 Prozent Alkoholgehalt) Bier, das in ehemaligen Whiskyfässern veredelt wird – wir kommen darauf zurück. Dieses dunkle Bier, ein «Imperial Stout», stellt die Brauerei Adler in Schwanden partnerschaftlich mit einer jährlich wechselnden Kleinstbrauerei her.

Mit solchen von Mathias Oeschger kreierten Spezialitäten ergänzt die Brauerei Adler ihr traditionelles «Adler Bräu Original», das als helles Lagerbier seit Jahrzehnten eine feste Grösse im Kanton Glarus ist. Erhältlich ist es in der 0,58-Liter-Flasche, der traditionellen Schweizer Flaschengrösse, mit oder ohne Bügel. «Mit dem ‹Adler hell› erzielen wir ungefähr die Hälfte des Umsatzes», erklärt Mathias Oeschgers Vater Roland. Als er und seine Frau Ruth den Betrieb im Jahre 1982 von seinen Eltern übernommen hätten, habe die Brauerei im Wesentlichen zwei Biere hergestellt, «ein helles und ein dunkles Lagerbier». Damals herrschte noch das Bierkartell, welches namentlich die Gastronomie an die örtlichen Brauereien fesselte. «Das ging natürlich schon auf Kosten der Innovation», stellt Ruth Oeschger fest. Und ihr Mann ergänzt: «Aber es war natürlich einfacher, nur zwei Sorten zu brauen.»

Die Komplexität des Betriebs wird deutlich, als wir, wieder an der Erdoberfläche, das Sudhaus betreten. Es besteht aus dem Sudraum im Erdgeschoss, in dem das Bier gebraut wird, und dem darüberliegenden Malzboden, den man über eine steile Treppe erreicht. «Jede unserer vierzehn Biersorten wird mit einer eigenen Malzmischung gebraut», erklärt Braumeister Mathias Oeschger. Das bringe viel logistischen Aufwand in der Produktion und Lagerung mit sich. Konkret: Jeder einzelne Sud muss mit seinem charakteristischen Malz angesetzt werden. Eine bekannte Schweizer Grossbrauerei, bei der er früher gearbeitet habe, «stellt in einer Arbeitsschicht von acht Stunden so viele Liter Bier her wie wir in einem ganzen Jahr». Mit vierzehn Sorten sei man jetzt an der Grenze dessen, was betriebswirtschaftlich vertretbar sei. «Wenn wir jetzt eine neue Sorte ins Angebot nehmen, muss eine bestehende ausgemustert werden.»

Natürlich, sagt der Juniorchef, wäre es effizienter, die Brauerei auf der grünen Wiese neu zu errichten. Weniger verwinkelt als hier, auf dem bestehenden, begrenzten Areal in der Mitte des Dorfes. «Aber damit würden wir auch unseren Charakter aufgeben.» Ab und zu habe man Gastronomen zu Gast, die sich überlegten, ein Adler-Bier ins Sortiment aufzunehmen. «Wenn wir es schaffen, dass jemand nach Schwanden kommt, dann gewinnen wir ihn in der Regel auch als Kunden.» ›››

Wahrzeichen und Schmuckstück des Sudhauses ist die alte 9000-Liter-Kupferpfanne, die von 1897 bis 1995 in Betrieb war und anfangs mit Holz und mit Kohle beheizt wurde. «Vom Standpunkt der Energieeffizienz aus betrachtet, war das natürlich nicht optimal», sagt Roland Oeschger. Aus Traditionsbewusstsein habe man die alte Pfanne stehen lassen.

Den eigentlichen Dienst verrichtet eine neuere Sudpfanne aus Edelstahl, die 6000 Liter fasst. Erwärmt wird sie seit drei Jahren mit Gas, zuvor mit Heizöl. «Der Umstieg hat unsere Heizungsemissionen um 30 Prozent gesenkt», sagt Mathias Oeschger. Die Abwärme des Brauens werde heute verwendet, um die Gebäude zu heizen. Das Thema der Ressourcenschonung ist ihm ein grosses Anliegen, das er entlang der gesamten Wertschöpfungskette vorantreibt. «Vor dreissig Jahren brauchte es noch dreizehn Liter Wasser, um einen Liter Bier herzustellen, heute sind wir bei gut drei Litern.»

Die Spezialitätenbiere und das ökologische Denken setzen bemerkenswert moderne Akzente in die historischen Gemäuer. Und so ist die Brauerei Adler heute einer der drei letzten überlebenden Familienbetriebe aus den Zeiten des Bierkartells, als es schweizweit nur etwa dreissig Brauereien gab. Der letzte örtliche Konkurrent, die Erlen Brauerei in Glarus, wurde noch zu Zeiten des Bierkartells von Hürlimann aus Zürich übernommen und dann stillgelegt. «Damals, unter dem Kartell, hat man nicht in erster Linie eine Brauerei gekauft, sondern deren Kunden aus der Gastronomie», resümiert Roland Oeschger.

Koriandersamen und getrocknete Curaçao-Orangenschalen betonen die frischen Akzente.

Viele der traditionellen Betriebe seien untergegangen, weil die Nachfolge innerhalb der Familie sich unmöglich oder schwierig gestaltet habe. Auch in der eigenen Geschichte sei das Thema nicht immer einfach gewesen. Als Roland Oeschgers Grossonkel Fritz «Fridolin» Kundert im Jahr 1960 mit nur 65 Jahren starb, bestand keine Nachfolgeregelung. Unvorbereitet hätten dessen beide Töchter den Betrieb übernommen, unterstützt vom Ehemann der einen Tochter. Ein zentraler Faktor für das Weiterbestehen der Brauerei sei immer «die Einheit der Familie» gewesen, ergänzt Ruth Oeschger. Sie und ihr Mann seien sehr froh, dass sich in ihrem Fall die Übergabe an Sohn Mathias sehr natürlich ergeben habe.

Spezialität Martinsloch-Whisky

Ein weiterer Faktor, der das Überleben der Brauerei Adler gesichert habe, sagt Roland Oeschger, sei das disziplinierte Reinvestieren. «Das Biergeschäft ist relativ kapitalintensiv, die Anlagen teuer», bestätigt sein Sohn Mathias. Aufgrund der Grosskonkurrenz aus dem In- und Ausland könne man sich als Schweizer Kleinbrauerei nur behaupten, wenn man so viel wie möglich automatisiere. «Wenn man noch kleiner ist als wir, wird es schwierig, die notwendigen Investitionen zu stemmen.»

Gleichwohl fällt auf, dass die Brauerei Adler den Weg in die übrige Schweiz weniger offensiv beschreitet als vor ihr beispielsweise Appenzeller Bier. Das hänge einerseits damit zusammen, dass das Glarnerland in der restlichen Schweiz weniger bekannt sei und man dadurch im Marketing ein bisschen einen Nachteil habe. Andererseits ist es aber auch ein bewusster Entscheid: «Wir wollen kein Wachstum um jeden Preis», sagt Ruth Oeschger. Manch einer habe sich mit einer allzu offensiven Wachstumsstrategie übernommen. «Wenn wir langfristig Erfolg haben wollen, müssen wir unseren lokalen Charakter bewahren», ergänzt Sohn Mathias. Die Spezialitäten, mit denen er die Stadtzürcher Gastro-Kultur beliefert, seien gerade deshalb so erfolgreich, weil es sie eben nicht überall zu kaufen oder zu trinken gebe.

Ein schweizweites Publikum sucht die Brauerei nur punktuell; derzeit beispielsweise mit einer Sonderedition des sommerlich-frischen Kellerbieres, das (ausnahmsweise in der Dose) für einige Wochen schweizweit im Aldi zu kaufen ist. Ziel solch punktueller Aktionen sei es, den Leuten das Glarnerland und seine einzige Brauerei näherzubringen, die Neugier zu wecken. Im eigenen Brauereiladen gibt es denn neben den Spezialitäten und dem traditionellen Kassenschlager «Adler Bräu Original» auch ein Bier zu kaufen, das nur hier erhältlich ist: das «Zwickelbier Zapfen», das die Kunden hier selber in 1- oder 2-Liter-Flaschen abfüllen und nach Hause nehmen.

In der aktuellen Biersaison hat die Familie alle Hände voll zu tun. «Wir kommen mit der Produktion kaum nach», sagt Mathias Oeschger. Das hänge auch mit der nach Covid wiedererwachten Geselligkeit zusammen, vor allem aber mit dem guten Wetter. «Bei uns entscheidet letztlich das Sommerwetter, ob es ein gutes oder ein weniger gutes Jahr gibt.»

Zum Schluss nochmals in den Keller. Mathias Oeschger führt uns in einen etwas abgetrennten Raum, in dem ein gutes Dutzend kleine Eichenfässer lagern. «Bier und Whisky sind miteinander verwandt, wegen der Ausgangsprodukte und wegen der Lagerbedingungen», erklärt er. Und so reift in den Fässern – es handelt sich um alte Bourbon- und Sherryfässer – der Martinsloch-Whisky. In Fassstärke abgefüllt, handelt es sich um eines der interessantesten Produkte unter den Schweizer Whiskys.

Bereits zwei Mal hat das starke, sherrybetonte Destillat an den Swiss Spirits Awards die Goldmedaille gewonnen. Die nächsten beiden Jahresproduktionen sind bereits ausverkauft. «Was eher als Liebhaberei begann, betreibe ich mittlerweile mit grosser Leidenschaft», sagt der Braumeister. In einem weiteren grossen Kellergewölbe richtet er derzeit einen zweiten Whiskykeller ein, in dem dereinst 120 Fässer lagern sollen. «Je mehr Fässer wir haben, desto feiner können wir die Blends abstimmen.» Nach dem Abfüllen kommen die Fässer ein letztes Mal für das «Holzdieb»-Bier zu Ehren.

Mathias Oeschger deutet auf eines der Fässer. «Wir haben es stehen lassen, seit wir im Jahr 2018 mit Whisky angefangen haben.» In sechs Jahren soll es zum 200-jährigen Bestehen der Brauerei Adler abgefüllt werden.