Er wuchs in einer Höhle auf und ackerte täglich bis an den Rand der Erschöpfung. Sie flog in die geistige Kaderschmiede des kapitalistischen Rivalen und residierte in gediegener Bohème. Sein Schulzimmer war der Schweinestall, die Vorgesetzten verprügelten ihn. Sie teilte den Vorlesungssaal in Harvard mit den Welteliten und liess sich in die Geheimnisse der Psychologie einweihen.
Xi Jinping und Xi Mingze – Chinas neuer Kaiser und seine Prinzessin. Ihre Leben folgten unterschiedlichen Pfaden, doch eines haben sie gemeinsam: Sie geben praktisch nichts Privates preis. Diskretion ist das Fundament von Xi Jinpings Erfolg. Das kleinste Detail über seine Familie könnte von Feinden genutzt und ihm zum Verhängnis werden.
Wie rigoros Tochter Xi Mingze das Prinzip Diskretion lebt, zeigt sich allein daran, dass sich praktisch kein Foto findet, das ihr zweifelsfrei zugeordnet werden kann. Als sie 2010 an die Elite-Universität Harvard übersiedelte, schrieb sie sich mit falschem Namen ein. Sporadisch berichten Medien von Bodyguards, getarnt als Mitstudenten. Von gelegentlichen Fahrten mit der U-Bahn ist zu lesen. Ansonsten finden sich kaum Spuren von jener Frau, die dem chinesischen Präsidenten mehr am Herzen liege als alles andere im Leben.
Es heisst, Xi Jinping habe sich sehnlichst eine Tochter gewünscht. Als ihn 1992 das Glück fand, nannte er sie Mingze, was so viel bedeutet wie «hell», «glänzend». Den Namen habe sie auf Wunsch des Grossvaters erhalten, schreibt Martin MacMillan in seinem Buch über die Familie.* Die Enkelin sollte eine «aufrechte und saubere» Person werden. Und so den Ruf der Familie, der schwer gelitten hatte, in frischem Licht erhellen.
Grossvater Xi Zhongxun war ein Weggefährte Maos, gehörte zur führenden Elite der Kommunistischen Partei Chinas und residierte in einem Flügel des Kaiserpalastes. 1963 fiel er in Ungnade und wurde beschuldigt, ein Komplott geschmiedet zu haben. Vom kleinen Xi Jinping verlangte man, dass er den Vater öffentlich denunziere. Im Alter von fünfzehn Jahren folgte der nächste Schock für den Jungen. Zusammen mit Millionen Chinesen wurde er aufs Land geschickt, wo Mao die städtischen Eliten «von den Armen und Bauern umerziehen» liess. Mehrfach versuchte er zu fliehen. Es war die Zeit der Kulturrevolution (1966–1976). Millionen starben, auch Xis Schwester wurde in den Selbstmord getrieben.
Sechs Jahre dauerte Xis Martyrium in der Provinz. Er überlebte, indem er sich seinen Peinigern fügte. Und sie umarmte. «Man kann dies mit dem psychologischen Phänomen des Stockholm-Syndroms vergleichen», sagt Biograf Yu Jie. «Xi kam zum Schluss, dass er die Macht ergreifen musste, um nie wieder Opfer zu sein. Aus diesem Grund hat er Maos Methoden übernommen. Heute kann man fast sagen, dass er ein kleiner Mao ist.» Nach seinem Exil schickte sich der 21-jährige Xi Jinping an, den Ruf der Familie zu rehabilitieren. Er begann ganz unten und arbeitete sich die Parteihierarchie hoch. Bescheidenheit und Fleiss sind chinesische Urtugenden. Xi hat sie zum Lebensprinzip perfektioniert. Er impfte dieses auch seiner Tochter ein.
In Harvard ist Xi Mingze nicht der einzige Spross chinesischer Prominenz. Auf dem Campus verkehrt auch Bo Guagua, Enkel eines der «acht Unsterblichen» der Kommunistischen Partei und Sohn des Politbüromitglieds Bo Xilai, eines direkten Rivalen Xi Jinpings (2012 fiel er wegen Korruption in Ungnade). Während Bo mit dem Porsche auffuhr und mit Kung-Fu-Filmstar Jackie Chan Partys schmiss, führte Xi Mingze ein genügsames Dasein. «Sie ist ein Bücherwurm, sehr ruhig und fleissig», zitiert die Mail on Sunday einen ihrer Bekannten.
Mingzes Familie ist einzigartig, nicht bloss wegen ihres berühmten Vaters. Mao sagte einst: «Frauen halten den halben Himmel hoch.» Mingzes Mutter hatte ihn ganz allein hochgehalten, lange bevor Xi Jinping zur nationalen Grösse aufgestiegen war. Peng Liyuan war die berühmteste Sängerin des Landes. Das Sprungbrett zu ihrem Erfolg war die Volksarmee.
Marilyn Monroe hat vor US-Truppen in Korea geträllert. Elvis Presley stürzte sich kurzzeitig in die GI-Uniform. Dass ein Musikidol allerdings Karriere im Militär macht, und dies im Rang eines Generalmajors – das gibt es nur in China. Wenn sich Pengs glasklare Sopranstimme in «Mein Vaterland» oder in «Die Menschen meines Dorfes» in schwindelerregende Höhen sang, schmachteten die Herzen der Funktionäre und Generäle.
Durch seine Heirat mit Peng steigerte Xi Jinping seinen Bekanntheitsgrad schlagartig. Beobachter bemerken, dass sie ihm bei öffentlichen Auftritten Zeichen gibt, wann er lächeln, wann er applaudieren muss. Sie wurde seine glänzende Visitenkarte, die ihm im Volk zu Popularität verhilft.
Peng Liyuans Popularität verbot es, dass sie ihre Karriere nach der Heirat an den Nagel hing. Während die Mutter glänzte, der Vater in der Partei buckelte, blieb das Mädchen in der Obhut der Grosseltern von der Öffentlichkeit abgeschirmt. Offenbar hat Mingze nicht das Talent der Mutter geerbt. Peng sagte offen und ein wenig grausam: «Sie kann nicht so gut singen wie ich. So stellt sich die Frage, was aus ihr einmal werden soll.» Mingze entschied sich für die Fremdsprachenschule in Hangzhou, die bereits Xis Schwestern besucht hatten. Doch in ihr schlummerte der Traum von Amerika.
Auch ihre Eltern warfen früh ihre Augen auf den kapitalistischen Rivalen. Die Kommunistische Partei Chinas befahl allen Funktionären: «Macht Geschäfte!» 2005 begab sich der Vater auf Business-Tour. Und Mutter Peng sang sich 2006 bis in die Hochburg des Kommerzes. Bei einem Gastspiel in New York schlüpfte der Opernstar in die Rolle der Mulan, der Heldin eines chinesischen Volksmärchens über eine junge Frau, die sich als Mann verkleidet, um den Platz ihres kranken Vaters in der Armee einzunehmen. Doch in der Neuen Welt wollte ihr Stern nicht funkeln. Die Presse nahm kaum Notiz.
Nichts ist bekannt über den innerfamiliären Disput um die Karriereplanung der Tochter. Doch 2010 gelang es Xi Mingze, sich ihren Traum zu erfüllen. Ihre Identität war «weniger als zehn» Dozenten und Studenten bekannt, berichtet der Korrespondent der japanischen Zeitung Asahi Shimbun. Offenbar blühte sie auf im Duft der freien Welt und wohnte «aufmerksam» aus der «obersten Reihe» Diskussionen über Rivalitäten in der chinesischen Kommunistischen Partei bei. Sie war mitten im Studium, als ihr Vater 2012 an Chinas Staatsspitze katapultiert wurde. Selbst jetzt gelang es ihr in Kooperation mit der Universitätsleitung, so diskret zu bleiben, dass nicht ein einziges Bild von ihr an die Presse geraten ist.
Derweil dringt zu Hause in China durch Indiskretion ein Dokument an die Öffentlichkeit, das die Stossrichtung von Xi Jinpings Politik offenbart. Sie steht zu den Idealen, deren Vorzüge seine Tochter täglich geniesst, in scharfem Widerspruch. Das parteiinterne Schriftstück, bekannt als «Dokument Nummer 9», ist ein heftiger Angriff auf die freiheitlichen Ideale des Westens. Es nennt sieben westliche Ideen, die für China die grösste Gefahr darstellen würden, darunter die Demokratie, die Rechtsstaatlichkeit, die universellen Menschenrechte und die Pressefreiheit. Und es mahnt zur Wachsamkeit gegenüber der «Infiltration» durch diese gefährlichen, fremden Ideen.
Im Mai 2014 läuft Xi Mingzes Zeit in der geistigen Oase ab. Sie ist 22. Wie vor ihr Franklin D. Roosevelt, Henry Kissinger oder Barack Obama nimmt sie an der Ivy League ihr Diplom entgegen. Dann verlässt sie den Ort so leise, wie sie gekommen war. Zurück in Peking, verschwindet sie hinter den Mauern des Schweigens, die den Präsidenten umgeben.
Inzwischen haben Xis Ideen China erobert. Er entfaltet einen beispiellosen geopolitischen Machtanspruch. Jetzt wird klar, dass Xis Ambition keine Grenzen kennt. Er lässt die Amtszeitlimite aufheben, die Mao eingeführt hatte, um sicherzustellen, dass kein Mann je so mächtig wird wie er. «Dies ist ein Mann», so Henry Kissinger über Xi, «der sehen will, ob sich sein Erfolg mit dem Maos messen kann.»
Während der Vater nach den Sternen greift, fehlt von Tochter Xi Mingze jede Spur. Einmal wurde sie gesichtet, wie sie ihre Eltern auf einer Reise nach Yan’an besuchte, jener ländlichen Region, in die ihr Vater zu knochenharter Erziehungsarbeit gezwungen worden war. Einmal hiess es, Vater Xi habe sie als persönliche Beraterin eingesetzt. Bilder aus Xis Entourage werden analysiert, aber niemand weiss, wie sie heute genau aussieht.
In den chinesischen Medien im Ausland ist Xi Mingze derweil ein Lieblingssujet. Letztes Jahr häuften sich Berichte, sie sei todunglücklich im abgeschotteten Leben in ihrer Heimat. «Die freiheitsliebende Xi» fühle sich «wie eine Gefangene». Sie weine sehr viel. «Still und leise» sei sie Anfang 2019 in die Vereinigten Staaten zurückgekehrt. Quellen werden namentlich zitiert, die von einer Rückkehr an ihre Alma Mater berichten, wo sie ihre Promotionsarbeit schreiben wolle. In Harvard schweigt man diskret.
Der Wahrheitsgehalt der Exil-chinesischen Regenbogenpresse kann nicht überprüft werden. Sie ist bekannt dafür, Zweifel und Zwietracht zu streuen. Fest steht, dass Frauen in Chinas Politik nicht in den Himmel wachsen. First Ladies und Präsidententöchter übernehmen eine ausschliesslich unterstützende und dekorative Rolle. Karrieren wie jene von Hillary und Chelsea Clinton oder wie man sie unter Demokraten derzeit von Michelle Obama erhofft, sind in China ausgeschlossen. Für Familien von Funktionären ist Politik tabu. Erst recht, wenn man im Land des grossen Rivalen ausgebildet worden ist.
* Martin MacMillan: Together They Hold Up the Sky. Fast Pencil, 2012. 342 S., Fr. 41.90
Im Artikel zitierte Dokumente und Quellen sind unter www.weltwoche.ch/Dokumente einsehbar.