Patrick Hilger reicht die bauchige Glasflasche über den Tisch, auf dem das Konferenzgedeck steht: Kaffee, Fruchtsäfte, Kekse. Wasser? Hilger entkorkt das Gefäss mit der durchsichtigen Flüssigkeit und lässt schnuppern. Es riecht scharf. Es entströmt dieser typische Chemiegeruch, der nirgends in der Natur vorkommt. Es ist synthetisches Öl, aus dem sich Kerosin für Flugzeuge, Benzin und Diesel raffinieren lässt.

Wir sitzen in einer beheizten Baracke im tiefen Westen Deutschlands. In Jülich. Die Kaiserstadt Aachen ist um die Ecke, die Gegend hier ist platt, nicht mal Bäume wachsen in einer Menge, die den Begriff Wald erlauben würde. Die Erdoberfläche ringsherum ist aufgerissen, Löcher von der Grösse einer mittleren Stadt sind ins Erdreich gefräst. Hier ist Braunkohleland. Riesige Bagger fördern den letzten fossilen Brennstoff im Tagebau, Kraftwerke mit ihren rauchenden Schlöten sind an diesem klirrend kalten Wintersonnentag auf zig Kilometer Entfernung zu sehen. Dazwischen mahlen Hunderte von Windrädern. Nirgends in Deutschland hat sich die Energiewende symbolträchtiger in die Landschaft gepflanzt als hier. Und über alles blickt das Auge des Mordor.

 

Hoffnung aller Mobilitätsbranchen

Mordor – so nennt Hilger die bettlakengrosse schwarze Öffnung in dem 20 Meter hohen Turm, der über die Baracke, über ein Feld aus 218 heute schneebedeckten waagerechten Spiegeln und überhaupt über diese ganze von Menschenhand zerschundene Gegend ragt. Im Roman «Herr der Ringe» erscheint dem Heerführer im Traum ein flammendes Auge an der Spitze des dunklen Turms in Mordor. Der Roman steht im Buchhändlersortiment in jeder Fantasy-Abteilung. Doch was Ingenieur Hilger und sein Team hier aufgebaut haben, ist Wirklichkeit gewordene Fantasie. Es ist ein zentrales Stück im Puzzle der Energiewende.

25 Mann stark ist sein Team, und die Mannschaft setzt hier beim Schweizer Unternehmen Synhelion im Industriemassstab das um, was im Jahr 2019 auf dem Dach der ETH in Zürich seinen Anfang genommen hat. Es geht darum, aus Luft und Licht und mit Liebe zum Detail flüssigen Kraftstoff zu erzeugen. E-Fuel nennt die Industrie den Treibstoff, der ohne Erdöl als Basisstoff auskommt. Das Gebräu ist die Hoffnung für alle Mobilitätsbranchen: Flugzeuge werden auf unabsehbare Zeit weite Strecken nur vollgetankt mit flüssigem Treibstoff überwinden können. In Schiffen ist der Elektroantrieb dem Verbrennungsmotor noch hoffnungslos unterlegen. Die Autoindustrie würde aufatmen, wenn sie ihre Flotten einfach auf CO2-neutralen Kraftstoff umstellen könnte, anstatt jedes Modell durch einen E-Antrieb zu ersetzen. Synthetisches Rohöl, genannt Syncrude, eignet sich besonders gut für den Transport, es sind keine Tiefsttemperaturen oder Drucktanks notwendig.

 

Verbrennung umkehren

Die Energiewende bekäme einen Schub, als hätte sie den Turbo angeschaltet, wenn es bezahlbare E-Fuels in rauen Mengen gäbe. Bislang ist das eine «Wenn-Diskussion», die im Konjunktiv geführt wird. Hilger und sein Team holen sie von den Köpfen auf die Strasse. Sie machen nichts weniger, als die Verbrennung umzukehren. «Mit jeder Solartreibstoffanlage, die wir bauen, kommen wir einer Welt näher, die durch saubere Mobilität verbunden ist», sagt er.

«Dawn» heisst die Anlage, was der englische Ausdruck für den Augenblick ist, wenn das erste Licht den Morgen einläutet, die Sonne aber noch nicht zu sehen ist. Nicht nur Liebhaber von Western kennen die Morgenröte. In Betrieb genommen haben sie Dawn exakt in der Nacht der Sommersonnenwende. Sie haben es hier ein bisschen mit Mythen und Legenden, aber Dawn hat wirklich das Zeug zur Legende. Heliostatenfeld heisst die Ansammlung von beweglichen Spiegeln, die dem Lauf der Sonne folgen und sich im Zehnsekundentakt um Bruchteile von Millimetern verstellen. Sie fangen das Sonnenlicht auf und schicken es gebündelt ins Auge des Mordor.

 

Auch bei Nacht und Nebel

Der Augapfel besteht aus einem Solarstrahlungsempfänger, den Hilger «Receiver» nennt. Er wandelt die Sonnenenergie in Hochtemperatur-Prozesswärme von mehr als 1200 Grad Celsius um. Diese Wärme wird zusammen mit Methan und Kohlendioxid aus Bioabfällen sowie Wasser in einen Reaktor geleitet. Es entsteht ein Synthesegas, das mit Hilfe eines Standardverfahrens in flüssige Treibstoffe umgewandelt werden kann. Ein riesiger thermischer Energiespeicher, der an sich wie ein Kachelofen gebaut ist, kann die Hitze aus der Sonnenenergie für Tage speichern und ermöglicht es, dass auch bei Nacht und Nebel produziert werden kann. Tonnenweise synthetisches Öl kommt hinten heraus bei DAWN, gestapelt in Vitrinen, die so gross sind wie ein Supermarkt und bereit zum Einsatz. Die Schweizer Synhelion hat hier weltweit die erste Anlage errichtet, in der es gelingt, mit Sonnenergie E-Fuels tonnenweise zu erzeugen. Die Legende lebt also.

Hilger hat seine Führung gestartet, ist die 86 Stufen zur Turmspitze hochgesprintet und im Inneren verschwunden, wo ein nur für Eingeweihte durchschaubares System aus in Alufolie gehüllten Leitungen und Kabeln Receiver, Energiespeicher und Reaktor verbinden. Und siehe: Was mit einer verrückten Zürcher Erfindung seinen Anfang nahm, was in die Pläne der Ingenieure floss und was Bauarbeiter schliesslich zusammensetzten, es funktioniert. Unten in der Leitwarte, die rund um die Uhr mit zwei Kontrolleuren besetzt ist, blinken zwar rote Error-Lampen, aber das liegt daran, dass die Anlage an diesem Tag nicht in Betrieb ist.

 

Unterstützung durch die Swiss

Worauf er besonders stolz ist? Patrick Hilger, der nach dem Studium nebenan in Aachen bei Synhelion angeheuert hat, denkt kurz nach, so wie jeder Ingenieur, der von der technischen Beschreibung abweichen und plötzlich einen emotionalen Augenblick schildern soll. Dann schwärmt er: Es geht ums Ineinandergreifen aller Rädchen: Planung, Bau, Betreuung, Inbetriebnahme – alles hat geklappt wie ein Uhrwerk. «Das macht mich stolz.» Auch die Finanzierung haben sie hinbekommen.

Hinter dem Projekt stehen private und öffentliche Investoren. Das Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz von Robert Habeck hat knapp vier Millionen der bisher investierten siebzig Millionen Euro beigesteuert. Ein Zementhersteller ist dabei und ein Stahlproduzent, beides Branchen, die nicht genau wissen, wo sie künftig den CO2-neutralen Brennstoff für ihre Öfen herbekommen sollen.

Die Lufthansa Group und ihre Tochtergesellschaft Swiss unterstützen Synhelion bei der Markteinführung der Solartreibstoffe. Die Swiss will die erste Airline sein, die das Solarkerosin aus Jülich nutzt. Rund 70 Prozent von dem, was sie in Jülich produzieren, ist Flugbenzin. Das hat seinen Grund: Die EU hat festgelegt, dass Kerosinlieferanten von diesem Jahr an dafür sorgen müssen, dass der Anteil nachhaltiger Flugkraftstoffe bei 2 Prozent liegt. Bis zum Jahr 2050 soll der Anteil auf 70 Prozent steigen. Angesichts von sechzig Millionen Tonnen Flugbenzin, das jährlich in der EU verbrannt wird, sind schon 2 Prozent eine gigantische Menge. Und jene paar gelben Fässer, die Synhelion in Jülich produziert, sind allenfalls eine Pfütze.

 

Neugierige Investoren

Aber die Pfütze genügt, um Investoren neugierig zu machen: Der Markt ist gigantisch, und ausgerechnet hier in Jülich, wo die Sonne nicht übermässig oft im Jahr scheint, geht die Tür auf zum grossen Geschäft. «Die Qualität des Sonnenlichts ist die gleiche wie in der Wüste», sagt Hilger. Die Quantität natürlich nicht, aber das Problem löst der Kachelofen – und das nächste Vorhaben, das Hilger gerade angeht: In Spanien, dort, wo Schweizer und Deutsche hinfahren, um in der Sonne zu baden, errichtet Synhelion bald die nächste Anlage. Auf Grundlage des Know-how vom Auge des Mordor in Jülich wollen sie dort bis zum Jahr 2027 eine kommerzielle Fabrik entstehen lassen, bei der tausend Tonnen an E-Fuels hinten rauskommen. «Rise» heisst sie, «Sonnenaufgang». Mit Legenden haben sie es eben bei Synhelion.