Michael Maar: Herr Oroschakoff, Sie haben soeben eine, im Wortsinn, ungemein farbige, beeindruckende, historisch reiche und mitunter aufwühlende Autobiografie vorgelegt, eine Art Resümee Ihres Künstlerlebens, «Das Lächeln des Emigranten». Was wollen Sie uns damit erzählen?
Haralampi G. Oroschakoff: Das eigene Schicksal ist der Ausgangspunkt, ich erzähle aus meinem Leben als Sohn von Emigranten, von Flucht und Vertreibung, unserem Ankommen in Wien, verlorener und wiedergefundener Identität, meinem künstlerischen Werdegang zwischen Bohème und Kreativität – gesehen durch die Brille der Leidenschaft. In diesem Sinne bin ich wie Antonin Artaud ein Autor der Selbstenteignung.
Maar: Geht es etwas konkreter? Was erfahren wir Leser über Sie? Und: An welches Publikum haben Sie gedacht?
Oroschakoff: Im Laufe der letzten Jahrzehnte hat die Rezeption mich als Wanderer zwischen den Welten, Brückenbauer oder Erneuerer der Ikonenrezeption bezeichnet.Dieses Buch ist all jenen gewidmet, denen die Neugierde und Lust zu eigen ist, fremde Welten und Kulturen zu betreten.
Maar: Sie schildern in Ihrem Buch unfassbare Bestialitäten auf dem Balkan während der Revolution. Stichwort: hungrige Schweine, die Wetten der Wachleute. Die Einzelheiten möchte ich unseren Lesern ersparen; man wird sie nie vergessen. Härten solche Detailkenntnisse ab? Machen sie einen unempfänglich für alle Utopien und Hoffnungen auf Weltverbesserung?
Oroschakoff: Aber nein, im Gegenteil. Sie sensibilisieren stattdessen mein besonderes Verständnis von Wirklichkeit – das Dunkle kommt ohne das Helle nicht aus.
Maar: Ihr Buch ist in allen wichtigen Zeitungen lobend besprochen worden. Aber es ist nicht in einem grossen Publikumsverlag erschienen. Kann das auch daran liegen, dass Sie eine Art Zwitter sind: halb Maler, halb Schriftsteller?
Oroschakoff: Eher Universalist, bitte schön! Apropos Verlag – WD Press gehört zu den feinen Ausnahmeverlagen im Bereich der Kunst und Philosophie. Zwischen Maurice Blanchot, Jean-Luc Nancy oder Marguerite Duras fühle ich mich gut aufgehoben.
Maar: Weil ich gerade «Zwitter» sagte: Bis Mitte der neunziger Jahre waren Sie ein Star in der Kunstszene. Fast alle Zeitschriften hatten Sie auf dem Cover. Ihr Werk war damals immer ausverkauft und in über dreissig Museen. Sie waren ständig auf der Biennale. Das ist dann später etwas abgeflaut. Mein Verdacht – ich hasse das Wort, aber auf Sie könnte es ausnahmsweise zutreffen: Ihre Kunst lässt sich schwer verorten. Ist sie figürlich oder abstrakt? Altmodisch oder Avantgarde? Sie folgt jedenfalls keinem Trend und hat kein brandmark. Ist das im Kunstbetrieb eher hinderlich?
Oroschakoff: Also gut, da fällt mir Fernando Pessoa ein, der an einer Stelle geschrieben hat: «Die Kunst ist eine Lüge, die eine Wahrheit suggeriert.» Der internationale Kunstbetrieb ist eine selbstreferenzielle Hysteriemaschine. Schon in meiner ersten aktiven Kunstmarktphase der achtziger und neunziger Jahre war ich ein solitärer Spurensucher – Zugehörigkeit hat mich nie interessiert.
Maar: Trotz des Nicht-zuordnen-Könnens: Zu einer Art Erkennungszeichen ist dann doch Ihr sogenanntes Doppelkreuz geworden. Wie kommt man von den Wiener Aktionisten dazu? Mit denen haben Sie früher sympathisiert, auch wenn Sie bei den Blutfesten eines Hermann Nitsch knapp nicht teilgenommen haben. Kurze Erklärung.
Oroschakoff: Die Geschichte meiner Familie und die russische Orthodoxie bilden den Bodensatz meiner Jugend, Woodstock und The Velvet Underground die äussere Hülle. Dazu noch all die Bonvivants der Côte d’Azur meiner Adoleszenz, wo wir seit 1968 unseren zweiten Wohnsitz haben. Es sind weniger die Wiener Aktionisten, die mir bei der Selbsterfindung die nötigen Wegmarken lieferten, als vielmehr aussergewöhnliche Einzelfiguren: Rudolf Schwarzkogler mit seinen ästhetisch präzisen Inszenierungen, der Dandyismus von Konrad Bayer, die Raumbeschreibungen von Walter Pichler und das Musée des Aigles von Marcel Broodthaers.
«Die Schönheit hat ein Gesicht und die Hässlichkeit tausend.»
Maar: Ich kenne sie kaum dem Namen nach, sorry. Und das Doppelkreuz nun?
Oroschakoff: Das Doppelkreuz entstand in den achtziger Jahren als Sperrbezirk inmitten dieses fliessenden Gesamtkunstwerks. Auf der Grundlage des Radical painting stellt es ein eigenständiges Element dar, als Fenster oder sich öffnende Figur der postbyzantinischen, also orthodoxen Welt und damit eines anderen Europa. Es ist immer die Leidenschaft, die das Unmögliche nährt und einen kollektiven Klang im Raum erzeugt.
Maar: Eines Ihrer Vorbilder ist der heute hoch gehandelte, aber immer noch zu wenig bekannte Künstler Nicolas de Staël, ein geheimer Gigant der modernen Malerei. Es gibt da sogar einige biografische Parallelen. Darf man ihn sich als einen Vertrauten, einen Ihrer Brüder im Geiste vorstellen?
Oroschakoff: «Vorbild» wäre zu hochtrabend, aber ja, es gibt eine starke Verbindung. Wir sind beide Abkömmlinge alter russischer Familien und beide Kinder der Emigration. Auf meinen Streifzügen durch die Côte d’Azur mit ihren avantgardistischen Tempeln . . .
Maar: Welche Tempel genau?
Oroschakoff: Bei Jean Cocteau in Menton beginnend, über Henri Matisse, Auguste Renoir, Fernand Léger, Pablo Picasso, Francis Picabia bis zu Paul Cézanne in Aix en Provence . . . Da also entdeckte ich eines Tages in Antibes die Stelle, an der de Staël sich drei Tage vor der Eröffnung seiner Ausstellung das Leben genommen hatte.
Maar: Er sprang von seinem Balkon, soweit ich weiss. Liebeskummer.
Oroschakoff: Ich stellte erschrocken fest, dass es im Monat und Jahr meiner Geburt stattfand, und war wie elektrisiert über diese seltsame Übereinkunft. Wenn ich im Weltkrieg gegen mich selbst mein eigenes Gegenüber bin, so ist er mein immerwährender Zeuge: «La lumière ici est vraiment dégoutant.»
Maar: Dabei war gerade er ein Maler des Lichts . . . Oft sind Maler nicht unbedingt Meister des Wortes. Die Klee-Briefe und anderes, geschenkt, Doppelbegabungen wie Gottfried Keller auch. Aber Ihr Kunstmedium ist ein anderes. Was ist Ihre wahre Force?
Oroschakoff: Das Erstaunen über die Welt, ihre mannigfaltigen Ausdrücke und Auswüchse. Ich kann beides nicht lassen – unterlassen.
Maar: Malen Autoren wie Sie mit Worten? Zu den stärksten Passagen Ihres Buches zählen die Naturbeschreibungen, das Meer und der Himmel über der Côte d’Azur, Ihrer zweiten oder eigentlichen Heimat.
Oroschakoff: Danke sehr . . . Im Grunde ist alles abstrakt, und beschreiben kann ich nur, was im Werden ist.
«Gibt es Sachen, die man nicht vermissen möchte?» – «Das Auto, Aspirin, die Künstlersozialkasse.»
Maar: Sie schildern im «Lächeln des Emigranten» sehr eindrücklich die Wiener Atmosphäre – Wien, die Stadt voll Staub und Wunden, wie Alfred Polgar sie charakterisiert hat, «das fidele Grab an der Donau». Als Sie nach dem Tod des Vaters die pünktliche Bestellung des Grabsteins versäumt hatten, sagte der Bestattungsangestellte: «Na, er wird’s überle’n.» Das geht nur in Wien. Wie sehr hat Sie diese Stadt geprägt?
Oroschakoff: Wien hat mich geformt, meine Liebe wie auch meinen Abscheu genährt, meine Sprache in ihrer Tonalität begründet und sicherlich auch das subversive Rüstzeug für diese Art Gemeinheit bereitgestellt, die wir Alltag nennen.
Maar: Ihre künstlerische Karriere wurde Ihnen nicht an der Wiege gesungen. Ihre Eltern waren in dieser Hinsicht einigermassen unbelastet. Oft pirscht sich das Künstler-Gen ja zum Beispiel über den Onkel heran. Irgendwelche Theorien oder Vermutungen?
Oroschakoff: Neben den Diplomaten und Ministern in meiner Familie gab es zwischen dem 17. und dem 18. Jahrhundert eine ganze Reihe von Vorfahren, die in diversen russischen Klöstern und Kirchen gewirkt haben, da wird es sicherlich auch Ikonenschreiber darunter gegeben haben. Interessanterweise tragen alle meinen Namen. Die Familie meiner Mutter, die berühmten Makrii (Kenner der Materie erinnern sich an Lord Byrons «Maid of Athens»), gehörten zur einflussreichen Malerschule von Debar (Mazedonien), da wird schon was hängengeblieben sein.
Maar: Sie sind über den Vater auch entfernt mit Vladimir Nabokov verwandt, haben überhaupt viel blaues Blut in der Ahnenschaft. Prägt auch dieser Sinn für Tradition? Anders gefragt: Zurrt er Sie nicht manchmal zu eng an die verklärte Vergangenheit?
Oroschakoff: Es kommt darauf an, wie man Geschichte liest: Anhand von Vorfahren ist sie lebendige Gegenwart oder analytischer Prozess vergangener Zeiten. Das Wissen um die eigene Herkunft, das Weitergeben gelebter Rituale ist ein Anker im Prozess der Eigenverantwortung. Ich sehe mich als Teil einer Reihe, und das hat etwas Demutvolles.›››
Maar: Sie haben eine dicke historische Studie verfasst, «Die Battenberg-Affäre», die kurz gesagt erklärt, dass man ohne die balkanischen Wirren den Ausbruch des Ersten Weltkriegs nicht verstehen könnte. Oder habe ich das falsch gelesen? Sie sind Balkan-Experte. Ich habe nach dem «Lächeln des Emigranten» immer noch nicht kapiert, wer Ihnen eigentlich am unsympathischsten ist: die Rotarmisten, das ist klar. Aber sonst? Die Bulgaren, die Ungarn, die Russen, die Westler? Hätten Sie nicht insgeheim am liebsten die Monarchie zurück?
Oroschakoff: «Die Battenberg-Affäre» widmet sich vor allem der sogenannten Orientalischen Frage oder, anders gesagt, dem erbitterten Ringen von London, Wien und Paris um die zu erwartende fette Beute beim langsamen Zerfall des Osmanischen Reiches sowie der geostrategischen Überlegung, das Kaiserreich Russland zu isolieren und seinen Weg zu den offenen Häfen zu blockieren. Bismarck spielt darin eine hintersinnige Rolle und, man kann es offen sagen, betrügt seinen russischen Bündnispartner, während er den Sultan aufrüstet. Diese Frage beschäftigt uns nachweislich bis heute. Und ja, Sie haben recht: Ich denke, die konstitutionelle Monarchie zeichnet für Stabilität und inneren Zusammenhalt und ist dabei ansehnlich in ihren Ritualen. Wir leben in einer Zeit, in welcher die Eleganz anrüchig ist und Meinungsfreiheit in Meinungskorridore gesperrt wird – was soll ich dazu noch sagen.
Maar: Man munkelt, Sie hörten bei Ihren nächtlichen Mal-Orgien Technomusik? Stimmt das?
Oroschakoff: Nein, also bitte . . . wennschon, dann Nirvana.
Maar: Wenn ich es recht verstehe, sammeln Sie auch. Was ist der Reiz daran?
Oroschakoff: Die Weltschau einzelner Artefakte im eigenen Bereich zu versammeln, ist ein Zeitdokument der Schönheit. Apropos Sammlung, meine Sammlung der «Moskauer Konzeptualisten der 80er und 90er Jahre» habe ich schon 2003 dem Kupferstichkabinett zu Berlin geschenkt.
«Ich denke, die konstitutionelle Monarchie zeichnet für Stabilität und inneren Zusammenhalt.»
Maar: Was genau haben Sie über die Jahrzehnte gesammelt und vereint und kürzlich ausgestellt?
Oroschakoff: Die aktuelle Ausstellung «Visages des frontières» im Musée des explorations du monde in Cannes versammelt meine künstlerische Spurensicherung der verschiedenen Völker des russischen wie des Osmanischen Reiches in ihrer Vielfalt, Eigenart und persönlichen Würde. Anhand von Karten und Artefakten werden die jeweilige Lokalität sowie ihr grenzübergreifendes Potenzial sichtbar. Die Ausstellung wird bis Ende Mai laufen.
Maar: Nizza – warum? Welche Tradition?
Oroschakoff: Die Côte d’Azur wurde im 19. Jahrhundert von britischen und russischen Aristokraten als Winterquartier auserkoren. Danach kamen die Künstler, die Bonvivants, die Playboys und am Ende Araber und Oligarchen. Ich denke, meine Eltern folgten einem Rest-Romantizismus, als sie in den sechziger Jahren Cannes zum zweiten Wohnsitz wählten. Für mich war dieses unvergleichliche Licht, die russisch-orthodoxen Kirchen in ihrer spätbyzantinischen Pracht, das Murmeln des Meeres, welches den Chor im Hintergrund verstärkte, ein wirkliches Ankommen und ist mir heute zum Mittelpunkt der Familie geworden.
Maar: Aber auch die Azur-Küste bleibt letztlich Exil. Ihre Herkunft: das alte Russland, Wien, München, Berlin. Das Ausgegrenztsein als Lebenserfahrung. Fühlt man sich irgendwo heimisch?
Oroschakoff: Selbstverständlich ist Wien Heimat sowie unser Haus in der Baie de Cannes. In München begann ich meine konzeptuelle Reise nach Byzanz, in Berlin schrieb ich «Die Battenberg-Affäre» sowie «Das Lächeln des Emigranten». Die Blessuren der Emigration und das Gefühl des Heimatlosen, diese Unsicherheit bleibt jederzeit abrufbar.
Maar: Die grösste berufliche Fehlentscheidung? Grösster richtiger Entschluss?
Oroschakoff: Die angebotene Wohnung in den achtziger Jahren in New York abgelehnt zu haben. Grösster richtiger Entschluss war die Gründung einer Familie.
Maar: Drei Lieblingsmaler, mit Kürzestbegründung.
Oroschakoff: El Greco: die Verbindung aus Ikonen- und Ausdrucksmalerei im Dehnungsprozess zwischen Himmel und Erde bei jauchiger Beleuchtung. Marcel Broodthaers: Sein «Musée d’Art Moderne – Département des Aigles» stand Pate bei meinem Gesamtkunstwerk «Musée des Arts et des Lettres», als ich 1979 in Wien mit den Fotonovellen begann. Francis Bacon: Sein Leben als Bonvivant, seine jahrelangen Spielexzesse in Monte Carlo, die souveräne Geste seiner grotesken, ja deformierten Individuen.
Maar: Drei Lieblingsautoren, dito.
Oroschakoff: Franz Kafka: «Es gibt unendlich viel Hoffnung, nur nicht für uns.»Leo Tolstoi: der spirituelle Anarchismus im Alphabet der inneren wie äusseren Ereignisse. Vladimir Nabokov: Schneidende Ironie in der Eleganz paralleler Erzählinstanzen sind Quellen meines Glückes.
«Im Grunde ist alles abstrakt, und beschreiben kann ich nur, was im Werden ist.»
Maar: Bei aller überschäumenden Kulturkritik und Ihrem Kulturpessimismus – gibt es nicht doch einige Sachen, die heute besser sind und die man nicht vermissen möchte?
Oroschakoff: Das Auto, Aspirin, die Künstlersozialkasse.
Maar: In Ihrem Buch fällt das Stichwort Narzisst. Können schwierige Elternverhältnisse, wie das Nicht-anerkannt-Werden vom Vater, ein Leben prägen? Heimito von Doderer sagte: «Jeder bekommt seine Kindheit über den Kopf gestülpt wie einen Eimer.» Später erst zeige sich, was darin war. «Aber ein ganzes Leben lang rinnt das an uns herunter, da mag einer die Kleider oder auch Kostüme wechseln, wie er will.» Stimmt das und trifft es auf Sie – trifft es vielleicht auf die meisten Künstler zu?
Oroschakoff: Die Frage nach der Selbstbespiegelung mag für den einen oder anderen eine Triebfeder sein, wenn sie die Unzufriedenheit mit dem Vorhandenen überschreitet. Aber ja, es geht um Emotionen und Wahrnehmungen.
Maar: Sind Maler noch grössere Narzissten als andere Künstler? Ist der Trennungsschmerz vom eigenen Werk nicht noch tiefer installiert? Ihr Maler müsst es hergeben, das Bild, es hängt dann unerreichbar woanders, bestenfalls dann und wann in einer Galerie. Autoren sehen ihr Werk tausendfach reproduziert.
Oroschakoff: Mag sein. Jedes beendete Werk ist ein eigenes Fragment Wirklichkeit, insofern sehe ich es mit dem neugierigen Auge des Anderen.
Maar: Hat Ihre tiefe Bindung zur Orthodoxie auch mit der Sehnsucht nach einem Patriarchen, einem gütigen Vater, zu tun?
Oroschakoff: Ich halte Sigmund Freud für überbewertet. Aber ja, ich liebe diese alte, Augen, Sinne und Ohren berührende Gottessicht.
Maar: Vorletztes Jahr erschien im Beck-Verlag die Studie des renommierten Althistorikers Johannes Fried, «Kein Tod auf Golgatha». Die These: Jesus starb nicht am Kreuz. Durch die Folterungen erlitt er eine Lungenverletzung und fiel am Kreuz in eine todesähnliche Kohlendioxidnarkose. Da hilft nur eines: eine gezielte Punktion. Und genau für die sorgte der berühmte Lanzenstich eines römischen Kriegsknechts. Diese These würde viel von alldem erklären, was an den folgenden Ungereimtheiten biblisch überliefert wird. Angenommen, nur als Gedankenspiel, diese These liesse sich erhärten: Was plumpste in Ihrem Glaubensgebäude zusammen?
Oroschakoff: Also im Ernst jetzt? Diese alte, wiederkäuende Übung enttäuschter Agnostiker. Und wenn er doch der Gärtner war, so ist das Feld bestellt.
Maar: Das ist schön gesagt, aber beantwortet meine Frage nicht. Übrigens kann man Agnostiker nicht enttäuschen, die erwarten ja kein Paradies oder keinen Himmel.
Oroschakoff: Vielleicht, aber auch die Darstellung von Souveränität verweist auf den mythologischen Ursprung, dessen Sinn noch zu bestimmen bleibt.
Maar: Lebt Marx heute noch?
Oroschakoff: Ich denke, er ist schon lange tot. Den Staatsterrorismus Lenins, der Pate steht für so viel Leid auf der Welt, den kann ich ihm wiederum beim besten Willen nicht auch noch andichten. Dennoch, es bleibt dabei: ohne Industrialisierung kein Sozialstaat.
Maar: Wenn Sie sich entscheiden müssten: Man schlüge Ihnen den Pinsel aus der Hand oder die Schreibfeder?
Oroschakoff: Grausamer Gedanke, lieber Herr Maar, ich denke über so was nicht nach.
Maar: Wie sehen Sie in die Zukunft – jetzt nicht nur für Sie persönlich. Furchtvoll, grimmig, zuversichtlich against all odds? Oder zuversichtlich, weil religiös geborgen? Andererseits erwartet Sie, anders als unsereins Agnostiker, das Gericht?! Werden irgendwelche Fackeln an die Jugend weitergereicht? An Ihre Kinder?
Oroschakoff: Wenn ich höre, wie, gerade im Dresdner Museum geschehen, Bildtitel eigenmächtig verändert werden aus Gründen der politischen Korrektheit, dann bin ich empört und entsetzt. Solche eigenmächtigen Eingriffe zerstören nicht nur die künstlerische Freiheit, sie schränken die Ausdrucksmöglichkeit ein und verstellen den Blick auf die komplexe, kontroverse Wirklichkeit. Wenn ich dann noch lesen muss, dass Professoren von radikalen Randgruppen gezwungen werden, ihre Posten zu verlassen, dann hat das alles nichts mehr mit Gerechtigkeit und Wahrheitsfindung zu tun, sondern nur mehr mit neojakobinischen Vernichtungsfeldzügen. Und das Schweigen macht diese Entwicklung zu einer gefährlichen. George Orwell hatte schon darauf hingewiesen, dass die Korrumpierung der Sprache ausschliesslich der Machtfrage dient. Wachheit und Eigensinn an die Kinder weiterzugeben, auf dass sie in ihrer Eigenverantwortlichkeit Stellung beziehen, darum bemühen sich meine Frau Diana und ich – neben dem künstlerischen Erbe. Ansonsten halte ich es mit Victor Hugo: Die Schönheit hat ein Gesicht und die Hässlichkeit tausend.
Maar: Das sagt Tolstoi am Anfang der «Anna Karenina» bekanntlich ganz ähnlich. Ich finde, eher genau umgekehrt. Herr Oroschakoff: Wenn Sie Ihr bisheriges Leben überblicken, was war es: eine Segelfahrt auf dem Ozean mit Fluten und Ebben, Stürmen und Windstillen? Oder ein Ritt über den Bodensee? Fühlen Sie sich am sicheren Ufer angekommen?
Oroschakoff: Dankbar sein, den Tag pflücken, die Mauern einreissen, Windräder aufstellen und Formen suchen, die objektivierbar sind. Alles andere ist alles andere.
Maar: Herr Oroschakoff, haben Sie Dank für das Gespräch.
Haralampi G. Oroschakoff: Das Lächeln des Emigranten. WD Press. 432 S., 28 Euro
Mir hat dieses Interview sehr gut gefallen. Ich mag die elegante Art Worte, diesen wortreichen, geistreichen und kreativen Gebrauch der Sprache.
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