Es gibt keine weissen Flecken mehr. Die Welt ist vermessen, kartografiert, durchschritten vom Menschen, in Besitz genommen und entzaubert. Es gibt kein unentdecktes Land mehr unter diesem Himmel, und über dem Himmel leuchten Satelliten noch die hintersten Ecken aus. Es gibt nur noch diesen unermesslichen weissen Fleck, so gross, dass er ein Kontinent ist. Kaum Menschen leben auf ihm, und trotzdem ist sein Eis der Boden für grenzenlose Tragödien und Triumphe; Antarctica. «Wild wie kein anderes Land unserer Erde liegt es da, ungesehen und unbetreten», sagte Roald Amundsen, der 1911 der erste Mensch am Südpol war.

Unfreiwilliges Duell

Nirgends wurde so verzweifelt und heldenmütig gestorben wie am unteren Ende der Welt. Nirgends tauten die Tugenden des Menschen so gut auf wie an diesem verlassensten Ort der Welt; Ernest Shackleton, Robert Scott, Amundsen. Und nirgends froren sie einen so schnellen Tod wie im ewigen Eis. Wer sich aufmacht zur letzten Welt, weiss nie, ob er wieder zurückkommt, weil es, wie der britische Polarforscher Apsley Cherry-Garrard schrieb, «die schlimmste Reise der Welt ist».

Vor zwei Jahren starb dort Henry Worsley mit 55 Jahren, ein britischer Entdecker und Offizier einer Eliteeinheit. Er wollte der erste Mensch sein, der die Antarktis solo und ohne Hilfsmittel durchquerte. Keine Nahrungsdepots, keine heisse Dusche in der Amundsen-Scott-Südpolstation. Alles Material, das er brauchte für die 1500 Kilometer lange, rund zweimonatige Tortur vom nördlichen Ronne-Eisschelf über den Südpol bis zum Ross-Eisschelf, war auf einen Schlitten gebunden, den er zog; 190 Kilo. Eine Handvoll Meilen vor dem Ziel, das sind drei Tagesmärsche, wenn es gut läuft, und fünf für einen, der geschwächt ist und krank, rief er um Hilfe. Man brachte ihn nach Punta Arenas in Chile, aber es war zu spät.

Ende Oktober 2018 liefen sich in Punta Arenas zwei Abenteurer unfreiwillig über den Weg, die dasselbe Ziel hatten; zu vollenden, was Worsley nur fast gelungen wäre. Der eine ist der Brite Louis Rudd, der ein guter Freund von Worsley war, der andere der 33-jährige US-Amerikaner Colin O’Brady. Der Amerikaner ist vom Typ her ein Weltenstürmer mit all dem Abenteuerzeugs der Neuzeit im Gepäck; zweifacher Weltrekordhalter des Explorers Grand Slam (Nordpol, Südpol und die sieben höchsten Berge jedes Kontinentes), er schaffte sie in 139 und 131 Tagen. Rudd ist 49 Jahre alt, war Offizier der Royal Marines und kämpfte im Kosovo, im Irak und in Afghanistan. 2012 wiederholte er mit Worsley Roald Amundsens Tour zum Südpol.

Im April kündigte Rudd an, die Antarktis solo und ohne Hilfsmittel zu durchqueren. Im Oktober zog O’Brady nach. Aus jeweils einer Ein-Mann-Show wurde das «race across Antarctica», das unfreiwillige Duell zweier Abenteurer darum, der Erste zu sein und einen der vordersten Ränge in der Galerie der Unsterblichen zu besetzen.

Sie sprachen nicht viel in Punta Arenas, während der siebentägigen Überfahrt auch nicht, sie wünschten sich Glück bei der Ankunft, und am 3. November zogen sie ein paar Kilometer getrennt voneinander los in die Unendlichkeit des Eises, in der es keine Geräusche gibt ausser dem Knacken des Eises und dem Heulen des Windes. Als die Absenz von Geräuschen nach den ersten Tagen zu laut wurde, steckten sie sich Kopfhörer in die Ohren. Rudd hört 1980er- Jahre-Musik und die Biografie von Churchill. O’Brady hört Podcasts, und einen Tag hat er nichts anderes gehört als «Graceland» von Paul Simon. Immer wieder.

Beide kommen gut voran. Der arktische Sommer ist ein netter bisher, nur minus 28 Grad Celsius im Schnitt, vielleicht mal minus 35, wenn der Tag Schnupfen hat. Es gab ein paar miese Tage mit dem undurchsichtigen whiteout, aber meist schien die Sonne. Sie leiden beide nicht an Erfrierungen, ihre Mägen sind intakt, und das grösste Problem ist der Schweiss auf der Haut, der gefrieren kann, sobald sie aufhören, sich zu bewegen. Eine tödliche Unterkühlung wäre die Folge.

Zwischen Triumph und Tragödie

Rudd schafft achtzehn Kilometer pro Tag, O’Brady ein paar mehr, und am 9. Dezember, dem 37. Tag der 901 Kilometer langen Reise zwischen Triumph und Tragödie, hat O’Brady den 89. Breitengrad überquert und ist noch 80 Kilometer vom Südpol entfernt. Am Südpol werden drei Fünftel der Gesamtstrecke hinter ihnen liegen, und danach geht es immer leicht bergab. Rudd ist etwa zwei, vielleicht drei Tagesmärsche hinter O’Brady. Das liegt daran, dass O’Bradys Beine jünger sind und Rudd länger schläft. Wenn der Brite um sieben Uhr morgens aufsteht, ist O’Brady schon unterwegs, den Tag aufgeteilt in acht Einheiten zu drei Kilometern.

Man darf Rudd noch nicht die Nummer zwei auf den Rücken heften. Bleiben die Wetterbedingungen gut, ist O’Brady nicht zu schlagen, und er wird etwa fünf oder sechs Tage vor Rudd am andern Ende der Antarktis ankommen. Rudds einzige Chance, das Rennen zu gewinnen, scheint ein massiver Wetterumschwung zu sein, also Stürme und Temperaturen unter minus 50 Grad. Im absoluten Grenzbereich des Lebens, wenn bei jedem Schritt der Tod nicht mehr nur ein paar Zentimeter hinterherläuft, sondern auf gleicher Höhe mitgeht und ein Tempo anschlägt, dem das Leben kaum hinterherkommt, wenn man nur noch sich hinlegen und für immer schlafen möchte, wenn da nur noch Wille ist, scheint Rudd der Coolere zu sein.g