Stellen Sie sich folgende Situation vor: Ihr Kind, Lebenspartner oder Ihre Mutter wird entführt. Der Gesundheitszustand des Opfers verschlechtert sich drastisch. Der Kidnapper ist in Polizeigewahrsam, kennt das Versteck, verweigert aber die Aussage – würden Sie ihn foltern lassen?

Wenn Sie es für Ihre Liebsten täten – würden Sie Folter auch dann befürworten, wenn das Leben Fremder auf dem Spiel steht? Konkret: Ein Anschlag steht unmittelbar bevor. Ein Mitglied der Terrorbande sitzt vor Ihnen in einer Gefängniszelle. Sie könnten, wenn Sie ihn folterten, vermutlich Hunderte von Menschen vor dem sicheren Tod bewahren. Würden Sie es tun? Würden Sie Folter verordnen, um Leben zu retten?*

Haben Sie eine der oben aufgeworfenen Fragen mit Ja beantwortet? Dann stehen Sie mitten in einer Debatte, die nach Ansicht zahlreicher Rechtsexperten, Staatsschützer und Ethi- ker nicht geführt werden darf, weil sie an einem Tabu rüttelt, einem der grössten Tabus der westlichen Zivilisation: dem absoluten Folterverbot.

Folter sei das schrecklichste Signum des totalitären Staats und dürfe unter keinen Umständen toleriert werden, sonst drohe ein Rückfall in die Barbarei, wird argumentiert. Wer es dennoch «wagt», das Undenkbare zu denken, wird diffamiert, wie das Beispiel des Münchner Professors Michael Wolffsohn zeigt, der sich letztes Jahr Gedanken über eine streng limitierte Wiedereinführung der Folter im Kampf gegen den Terrorismus machte und in aller Öffentlichkeit zur Unperson degradiert wurde.

Aufgeflammt ist die Diskussion über Folter nach dem 11. September 2001. Dabei ging es in erster Linie um die Verhörmethoden von Gefangenen in Guantánamo oder die Quälereien irakischer Gefangener in Abu Ghraib, die unter keinen Umständen zu rechtfertigen sind. Die zentrale Frage indessen ist bis heute meist ausgeblendet worden: Ist Folter in jedem Fall zu verwerfen? Oder stellt der islamistische Terror eine Bedrohung ungekannter Qualität dar, so dass in extremen Fällen über den Einsatz von Folter nachgedacht werden muss?

«Die Würde des Menschen ist unantastbar», heisst es in der EU-Grundrechts-Charta. Darauf stützt sich ein Hauptargument der Verteidiger des absoluten Folterverbots. Durch Folter würde die Würde des Menschen verletzt. Doch was ist mit der Würde des Opfers? Zählt sie weniger als die des Täters? Muss in einer Situation, in der Würde gegen Würde steht, die Rechtsordnung nicht dem Opfer beistehen und dem Täter die Preisgabe des Geiselverstecks beziehungsweise des Attentatplans zumuten? Kurz: Sind zwei zerquetschte Daumen weniger zu verantworten als der Verlust von Menschenleben?

Die Politik hat sich bisher weitgehend dem Tabudiktat gebeugt und das Thema umschifft. Wer sich dennoch in die «verbotene» Thematik vorwagt, verlagert die Diskussion auf eine halb abstrakte Ebene. Otto Schily zum Beispiel, der deutsche Innenminister, sagte in einem Interview im Zusammenhang mit islamistischen Terroristen sinngemäss: «Druck ja, Folter nein.» Doch was heisst Druck? Mehr noch: Wo hört der Druck auf – und wo fängt Folter an?

Die USA lösen das Folterdilemma auf eigene Weise. Die dringend des Terrorismus Verdächtigten verstecken sie in geheimen Gefängnissen oder deportieren sie zum Verhör in arabische und nordafrikanische Staaten, wie die Journalistin Jane Mayer auf einzigartige Weise dokumentiert. In den Drittstaaten werden in Amerikas Namen jene Methoden angewendet, die nach US-Verfassung verboten sind.

Ehrlicher wäre es, die Folter zu Hause im Rechtsstaat zu regeln. Dies ist der Standpunkt des Harvard-Professors Alan Dershowitz. «Zum Schutz ihrer Zivilität braucht die Demokratie ein begrenztes Recht auf Folter», sagt der überzeugte Demokrat und stellt – Tabubruch par excellence – strikte Regeln auf fürs Foltern: Jeder Fall müsse einzeln geprüft werden und, wenn nötig, durch richterliche Entscheidung, ja gar vom Präsidenten gebilligt werden.

Damit wäre auch das gewichtigste Argument der Gegner entkräftet, dass eine Auflockerung des Folterverbots einem Dammbruch, einer Verwilderung und einem Zerfall des Rechtsstaats gleichkomme. Doch die Gegner lassen sich durch Dershowitz’ Argumente nicht erweichen. Mit ihrem Unwillen, über eine Problemlösung nachzudenken, nehmen Politiker und Juristen nicht nur in Kauf, dass die Gesellschaft zur Geisel von Terroristen wird – die Regierungen kommen ihrer elementaren Aufgabe, Leben, Freiheit und Eigentum ihrer Bürger zu schützen, nicht nach.

Die Tabuisierung der Folterdebatte lässt sich nicht aufrechterhalten. Das Thema steht auf der Tagesordnung. Die Kernfrage lautet: Wie weit soll und darf eine liberale Gesellschaft gehen, um eine extreme Gefahr abzuwenden? Wer sich der Debatte verweigert oder Folter als heimliches Laster der Demokratie abtut, darf sich nicht wundern, wenn sie ausser Kontrolle gerät.

*Die Beispiele sind nicht aus der Luft gegriffen: 1995 verriet der Pakistaner Abdul Hakim Murad unter Folter Attentatspläne, wonach elf Flugzeuge gleichzeitig hätten gesprengt werden sollen; ein Blutbad an rund 4000 Menschen konnte verhindert werden. 2002 wurde der Bankierssohn Jakob von Metzler entführt. Der Frankfurter Vizepolizeichef Wolfgang Daschner liess dem inhaftierten Entführer mit Folter drohen, um das Versteck des Jungen herauszufinden. Er war zu diesem Zeitpunkt bereits tot. Daschner wurde später verurteilt.