Für viele meiner Freunde, Kollegen und Gesprächspartner auf der ganzen Welt ist Edward Snowden ein säkularer Heiliger. Er hat seine Karriere geopfert und seine Freiheit aufs Spiel gesetzt, um systematische Übergriffe westlicher Geheimdienste anzuprangern. Er hat enthüllt, dass Amerika und Grossbritan­nien nicht nur ihre Feinde und Rivalen, sondern auch neutrale und befreundete Länder ausspionieren. Sie hören Gipfelkonferenzen und ausländische Regierungschefs ab. Sie zapfen E-Mails und ­Telefongespräche an, sammeln und speichern gigantische Datenmengen. Mit Genehmigung eines geheimen Sondergerichts zwingen sie amerikanische Unternehmen zur Kooperation. Sie können praktisch den gesamten internationalen Telefon- und E-Mail-Verkehr und andere Kommunikationswege überwachen.

Dank Snowdens mutigen Enthüllungen sind wir über die Aktivitäten der National Security Agency (NSA) bestens informiert. Zu seiner ­eigenen Sicherheit hat Snowden, der wohl meistgesuchte Mann der Welt, die Flucht angetreten und wartet nun in einem Versteck auf die ihm zustehende öffentliche Anerkennung. Das ist der Stoff, aus dem Spionagefilme sind – aber es spielt sich alles in der realen Welt ab.

In der Tat ein spannender Plot. Doch in meinen Augen ist Snowden kein Held, sondern ein Schurke. Die weltweite Reaktion auf sein Vorgehen ist geprägt von einer Mischung aus Nai­vität, Heuchelei und Hysterie. In meinem neuen Buch «The Snowden Operation» erscheint er bestenfalls als «nützlicher Idiot», von dessen Aktionen unsere Feinde profitieren. Der Diebstahl und die Veröffentlichung von Geheimdokumenten ist keine Heldentat, sondern Ausdruck massloser Selbstüberschätzung – mit katastrophalen Folgen.

Test nicht bestanden

Um seinen Vertrauensbruch zu begründen, muss ein Whistleblower drei Dinge tun. Er muss schwerwiegende Rechtsverletzungen offenlegen, die über die normalen Kanäle nicht behoben werden können. Er darf die öffentliche Sicherheit nicht gefährden. Und er sollte nur solche Dokumente stehlen und an die Öffentlichkeit bringen, die für sein Anliegen relevant sind.

Snowden hat diesen Test in allen drei Punkten nicht bestanden. Das von ihm veröffentlichte Material ist schockierend und mitunter besorgniserregend, aber es beweist nicht systematischen, gezielten Rechtsbruch oder Machtmissbrauch seitens der NSA oder ihrer ausländischen Verbündeten. Typischerweise handelt es sich um Powerpoint-Vorlagen, die für in­terne Ausbildungszwecke oder andere Gelegenheiten gedacht sind. In diesen Dokumenten wird – oft durchaus vollmundig – dargestellt, wie verschiedene Abteilungen der NSA abhören und schnüffeln und wie Unmengen gesammelter Daten analysiert werden. Diese Daten werden jedoch ohne Kontext gesammelt. Werden die genannten Programme tatsächlich praktiziert? Noch immer? Wer genehmigt sie, unter welchen Bedingungen? Vieles ist unklar und überholt. Die Story wird ohne elementare redaktionelle Überprüfung der Fakten publiziert.

Die «Snowdenistas», wie ich seine Unterstützer nenne, nutzen dieses eher dürftige Material als Beweis für systematischen Machtmissbrauch von Geheimdiensten, die keiner Kontrolle unterliegen. Doch die Empörung ist hohl. Hat irgendjemand wirklich geglaubt, die Hacker und Codeknacker der NSA in Fort Meade, Maryland, spielen den ganzen Tag Sudoku? Die technischen Möglichkeiten, die ihnen zur Verfügung stehen, sind in der Tat beeindruckend. Aber so sollte es auch sein, wenn man bedenkt, wie viel Steuergelder sie bekommen.

Auslandsspionage ist von Hause aus ein verrufenes Gewerbe: Das Stehlen von Geheimnissen gehört zum Alltag. Wenn Details herauskommen, ist das schockierend. Aber ein Schock ist nicht unbedingt ein Skandal. Unsere ­Feinde, speziell Russland und China, spionieren uns aus. Auch unsere Verbündeten spionieren uns aus. Frankreich betreibt Industriespionage zugunsten der grossen französischen Unternehmen. Deutschland verfügt über einen ausgezeich­neten militärischen Nachrichtendienst, das Kommando Strategische Aufklärung. Unlängst haben die Deutschen den Nato-Verbündeten Estland ausspioniert – mit Hilfe eines Agenten, der pikanterweise auch für die Russen spionierte. In meinem Buch weise ich darauf hin, dass kein Geringerer als Jim Woolsey, der frühere CIA-Chef, vor einigen Jahren in einem Artikel für das Wall Street Journal erklärt hat, warum Amerika seine europäischen Partner ausspioniert und wa­rum man das auch weiterhin tun werde. Daran hat sich bis heute nichts geändert.

Angebliche Sorge um Privatsphäre

Wir sollten die amerikanischen Geheim­dienste jedenfalls nicht verdammen, sondern ihnen applaudieren. Mit ihrer Hilfe können Terroristen, Verbrecher und ausländische Spione gefasst werden. Die Dienste werden streng kontrolliert. Amerika hat diesen schwer fassbaren und dunkelsten Arm des Staates einem System par­lamentarischer und richterlicher Kontrolle unterworfen. Amerika ist auch Partner des einzigen weltweit funktionierenden sogenannten No-Spy-Abkommens mit Verbündeten, etwa Grossbritannien, Kanada, Australien und Neuseeland. Würde die Schweiz mit Deutschland ein No-Spy-Abkommen schliessen, weil man dem Nachbarn vertraut? Vermutlich nicht.

Die Enthüllungen Snowdens enthalten Mate­rial, das nichts mit seinen angeblichen Sorgen um den Schutz der Privatsphäre zu tun hat. Es zeigt, auf welche Weise Länder wie Norwegen und Schweden in Russland Spionage betreiben. Inwiefern ist es im öffentlichen Interesse, zu zeigen, dass Demokratien Diktaturen ausspionieren? Die Empörung der Snowdenistas rührt daher, dass diese Spionage in Zusammenarbeit mit den Vereinigten Staaten stattfindet, dem «grossen Satan» der Geheimdienstwelt.

Auch andere Enthüllungen sind kaum zu rechtfertigen. Ist es im öffentlichen Interesse, zu verraten, wie die NSA E-Mails, Telefonate und Funksprüche von pakistanischen Taliban ausspäht oder dass sie die Sicherheit des pakistanischen Atomwaffenarsenals verstärkt überprüft? Snowden enthüllte sogar, auf welche Weise die NSA Computer und Handys in China und Hongkong ausspioniert.

Der weltweite Hype um diese Enthüllungen hat ein hartes, verzerrtes und negatives Licht auf die Arbeit von Nachrichtendiensten geworfen. Der entstandene Schaden ist immens. Im Vergleich dazu ist der durch die Spione im Kalten Krieg angerichtete Schaden minimal. Unsere Spionagechefs sind erschüttert, halten sich aber mit öffentlichen Stellungnahmen zurück, um die Sache nicht noch schlimmer zu machen.

In Wahrheit könnte es kaum schlimmer sein. In der Spionagewelt müssen enorme Anstrengungen unternommen werden, wenn auch nur eine Handvoll Geheimdokumente an die Öffentlichkeit gelangt oder gestohlen wird. Wenn Zehntausende von Dokumenten publik werden, lähmt das die Arbeit. Unsere Nachrichtendienste müssen davon ausgehen, dass das Material bereits in Moskau oder Peking ist oder letztlich dorthin gelangt. Viele wichtige Operationen müssen nun eingestellt oder neu aufgebaut werden. Ein seriöser Nachrichtendienst riskiert nicht das Leben von Mitarbeitern, nur weil man vage hofft, der Gegner werde unsere Schnitzer schon nicht ausnutzen.

Nutzniesser Russland

Es ist töricht, wenn Snowdens Freunde sagen, das gestohlene Material sei bei ihnen sicher aufgehoben. Sie verfügen nicht über die entsprechenden Fähigkeiten. Ebenso töricht ist ihre Erklärung, mit den Enthüllungen würden keine Sicherheitsinteressen verletzt. Woher wollen sie wissen, was schädlich und was harmlos ist? Vermeintlich harmlose Informationen können – kombiniert mit anderen – durchaus eine Gefahr darstellen. Wie viele Dokumente Snowden auch gestohlen hat (Schätzungen schwanken zwischen Zehntausenden und 1,7 Millionen) – sie sind unendlich kombinierbar, und der Schaden ist kaum zu ermessen.

In meinem Buch lege ich dar, dass die Enthüllungen vor allem einen Nutzniesser haben – Russland. Durch die marktschreierische und irreführende Interpretation der Dokumente ist das Verhältnis Amerikas zu Europa und anderen Verbündeten erheblich beeinträchtigt worden. Die Sicherheitsbeziehungen zwischen den Verbündeten sind beschädigt. Das Vertrauen in die westlichen Sicherheits- und Nachrichtendienste ist untergraben. Das Ansehen des Westens im Rest der Welt ist beschädigt, unsere Geheimdienste sind gelähmt.

All das wird unsere Welt verändern, und zwar zum Schlechten. Das atlantische Bündnis war schon vor Snowden in einer prekären ­Verfassung. Inzwischen ist der Antiamerikanismus in Deutschland und anderen euro- pä­ischen Ländern voll entbrannt. Eine be­schleunigte Abkehr der Amerikaner von Europa würde aber nur den Russen nützen. Russland und China verstärken ihre Anstrengungen, den Amerikanern die Macht über das Internet zu entreissen und es unter eigene Kontrolle zu bringen (was mehr Zensur und Überwachung bedeutet). Die westliche Besorgnis in Sachen Internet-Freiheit und Datenschutz klingt hohl. Das Ansehen der führenden westlichen IT-Unternehmen hat wegen ihrer angeblichen Zusammenarbeit mit den Geheimdiensten stark gelitten. Ihre Konkurrenten in Russland und China reiben sich die Hände. Die Snowdenistas vergessen offenbar, dass der Westen Feinde und Rivalen hat. Und wenn wir Probleme haben, nutzt das der anderen Seite.

Die grösste Sorge des Snowden-Lagers ist vielmehr die unkontrollierte Macht der westlichen Geheimdienste. Wer gibt diesen Diensten das Recht, uns auszuspähen? Die Antwort auf diese Frage ist einfach: die gewählten Regierungen und Politiker der jeweiligen Länder, die Richter und parlamentarischen Gremien, denen die Kontrolle der Geheimdienste obliegt, und die Chefs der Dienste, die ihre Macht rechtmässig ausüben.

Die Frage nach der unkontrollierten Macht sollte vielmehr an einen anderen Adressaten gerichtet werden. Was gibt den Snowdenistas und ihren Partnern in den Medien das Recht, unsere bestgehüteten und kostspieligsten ­Geheimnisse zu enthüllen?

Fairerweise muss man einräumen, dass durch die Unbekümmertheit, Selbstgefälligkeit und Selbstgerechtigkeit des Snowden-­Lagers nicht alle ihre Argumente entkräftet werden. Eine Debatte über das Sammeln und Speichern von Metadaten (Angaben über Ort, Dauer und Empfänger eines Telefonats, nicht aber über den Inhalt) ist überfällig. Das Sammeln und Analysieren von Metadaten kann die Privatsphäre verletzen. Wenn man weiss, wer wo und wann einen Notdienst für Suizid­gefährdete angerufen hat, ist der Inhalt dieses Gesprächs nicht so wichtig wie der Umstand an sich.

Die Enthüllungen zeigen auch, dass Nachrichtendienste und ihre Mitarbeiter Fehler machen, dass sie in ihrer Arbeit bis an den Rand dessen gehen, was politisch und juristisch zulässig ist, und dass sie mitunter Konflikte mit den Kontrollgremien haben. Besonders beunruhigend ist die (bislang unbewiesene) Behauptung, die NSA habe gezielt Einbaumodule für Produkte amerikanischer IT-Unternehmen entwickelt, um diese Schwachstellen für eigene Zwecke nutzen zu können. Sollte das tatsächlich geschehen sein, wäre das ein taktischer Triumph, aber ein schwerer strategischer Fehler.

Story von Täuschungsmanövern

Aber all das rechtfertigt nicht einmal ansatzweise den entstandenen Schaden. Snowden selbst hat seine Enthüllungen nicht mit dem Hinweis begründet, dass wir in einer Welt à la «1984» leben, sondern bloss mit der Befürchtung, dass wir auf dem Weg dorthin seien. Um uns vor dieser hypothetischen Bedrohung zu schützen, haben er und seine Freunde immensen Schaden angerichtet. Snowden hat sehr viel mehr Dokumente gestohlen, als er zur Rechtfertigung seines Anliegens brauchte, und er ist dabei ausserordentlich bedenkenlos vorgegangen. Denn die NSA muss nun mühsam herausfinden, welche Systeme geknackt wurden und welche vielleicht noch sicher sind.

Die umstrittenste Frage ist die, ob Snowden allein gehandelt hat. Ich finde es erstaunlich, dass Kollegen, welche die Politik ihres Staates so überaus misstrauisch beobachten, in Bezug auf die ­Bestrebungen und Möglichkeiten der russischen Regierung so gutgläubig sind – der Regierung ­eines Landes, in dem Snowden unter so merkwürdigen Umständen eintraf und wo er unter solcher Geheimhaltung lebt (einiges könnte darauf hindeuten, dass er sich in Jassenowo im Süden Moskaus aufhält, in der Zentrale des russischen Auslandsgeheimdienstes oder in der Nähe).

Ich behaupte nicht, Snowden oder seine Verbündeten seien russische Agenten. Aber es gibt viele Beispiele in der Geschichte, bei denen der Kreml hinsichtlich politischer Bewegungen, die den Interessen des Westens nachhaltig geschadet haben, indirekt involviert war. Wie die Anti-Atomkraft-Bewegung der frühen 1980er sehen die modernen Vorkämpfer für Datenschutz und digitale Freiheit die Schwachstellen ihrer eigenen Länder mit grosser Klarheit, während sie diejenigen repressiver Staaten in anderen Teilen der Welt ignorieren. Ihr Misstrauen gegenüber den eigenen Politikern und politischen Institutionen ist so gross, dass Stellungnahmen von Regierungen ihnen nichts bedeuten. Aber in ­ihrem Bestreben, Schaden anzurichten, gehen die Snowdenistas noch viel weiter als die Atomkraftgegner. Die eigene Regierung zu kritisieren, ist eine Sache, ihre Handlungsmöglichkeiten zu sabotieren, ist etwas ganz anderes.

Die Snowden-Affäre ist in der Tat eine Story von Geheimnissen und Täuschungsmanövern – aber nicht auf Seiten der Geheimdienste. Viel zu wenig wird nach der politischen Agenda der prominentesten Snowdenistas gefragt – von Leuten wie dem bombastischen Blogger Glenn Greenwald in Brasilien, dem hysterischen «Hacktivisten» Jacob Applebaum und dem Wikileaks-Gründer Julian Assange. Diese ­Leute kleiden ihre extremistischen und undurchsichtigen Auffassungen in die Rhetorik von Datenschutz, Bürgerrechten und Internet-Freiheit. Im Unterschied zu den meisten ihrer Mitbürger wollen sie aber offenbar nicht akzeptieren, dass gewählte demokratische Regierungen ein Recht auf Geheimnisse und deren Schutz haben. Sie könnten eine Partei gründen. Aber damit würden sie nicht weit kommen. Stattdessen bereiten sie dem Westen durch ihre Aktionen die grösste Niederlage zu Friedenszeiten. Das ist keine ehrenwerte Kampagne. Aus meiner Sicht ist es Sabotage – oder Hochverrat.

Aus dem Englischen von Matthias Fienbork

Edward Lucas ist Journalist beim Economist in London und war 1998 bis 2002 Bürochef dieser Zeitung in ­Moskau. Jüngste Publikation: «The Snowden ­Operation», 2014 (Kindle Edition).