Bezirksgericht Baden, am vergangenen 9. August. Hauptverhandlung in einem Strafverfahren wegen Zuwiderhandlung gegen das Strassenverkehrsgesetz. Mit steigender Ungeduld folgt Gerichtspräsident Daniel Peyer dem rund vierzigminütigen Vortrag des Beschuldigten. Artur Terekhov, der kürzlich seinen Bachelor in Rechtswissenschaften erlangt hat, zieht alle Register. Seines Erachtens steht in diesem Fall eines der obersten rechtsstaatlichen Prinzipien auf dem Spiel, die Unschuldsvermutung.

Worum geht es? Am Sonntag, 17. Dezember 2017 bog Artur Terekhov in seinem Jaguar in die Schartenstrasse in Baden ein, vorbei an einem Verbotsschild: «Ausgenommen Fahrten im Verkehr mit den Liegenschaften Schartenstrasse 1–37 und Wettingerstrasse 17–25». Auf dem 350 Meter langen Teilstück mit Sonntags- und Nachtfahrverbot wird Terekhov von einem stationären Blitzgerät fotografiert. Nur zwei Tage später findet der Automobilist in seinem Briefkasten eine Busse über hundert Franken wegen Missachtung des Fahrverbots vor. Unvermittelt ist er in ein Strafverfahren verwickelt, ohne dass er zuvor gefragt worden wäre, was er in der Schartenstrasse zu suchen hatte. Die meisten Leute, sagt sich Terekhov, zahlen wohl einfach, weil sie juristischen Ärger vermeiden wollen. «Nicht mit mir!», sagte er sich. Ein Blechpolizist, der auf Verdacht hin Bussen verschickt? «Das ist der frechste Blitzer der Schweiz!»

Als später der Strafbefehl eintrifft, legt er Einsprache ein. Darin macht er geltend, er sei an jenem Tag als Zubringer in die Schartenstrasse gefahren. Terekhov ist neben seinem Studium als Rechtsberater tätig. Er habe eine Kundin besucht, deren Namen er allerdings aufgrund des Geschäftsgeheimnisses nicht nennen könne. Auch die Identität seiner auf dem Foto ersichtlichen Beifahrerin will Terekhov nicht verraten: Es sei seine Exfreundin, die ihn aufgrund persönlicher Umstände womöglich wahrheitswidrig belasten könnte. Diese habe im Auto gewartet, während er kurz bei der Kundin klingelte.

«Unzulässiger Generalverdacht»

Überhaupt sei es nicht an ihm, seine Unschuld zu beweisen. Die Beweislast liege bei der Staatsanwaltschaft, die der Verhandlung ferngeblieben ist. Bereits der Einsatz des Radargeräts sei rechtsstaatlich problematisch bis illegal. Verschickt die Stadtpolizei Baden etwa Bussen an jeden, der durch das Fahrverbot fährt und dessen Kennzeichen nicht einem Anwohner zugeordnet werden kann? Das wäre laut Terekhov ein «rechtlich unzulässiger Generalverdacht». Bevor das Gericht ihn verurteile, müsse es allermindestens den Beweiswert des Radarfotos am konkreten Standort überprüfen.

Für all das hat Richter Peyer, der im Jahr 2006 auf dem Ticket der CVP zum Gerichtspräsidenten in Baden gewählt wurde, kein Musikgehör. Man vermeint sogar einen Anflug von Ironie zu erkennen, als die Justiz die Ausführungen des Beschuldigten als «teilweise rechtsphilosophisch» abtut. Terekhovs Einsprache wird vollumfänglich abgewiesen. In der schriftlichen Urteilsbegründung erklärt Peyer, das Gericht dürfe die Tatsache, dass sich der Angeklagte auf sein Aussageverweigerungsrecht berufe, in die «Beweisführung einbeziehen».

Am 8. September reicht Terekhov seine Berufungsbegründung beim Obergericht Aargau ein. Drei Tage später folgt die Antwort der Staatsanwaltschaft Baden. In einem Einzeiler («Zur Begründung wird auf die zutreffenden Erwägungen der Vorinstanz verwiesen») beantragt die Staatsanwaltschaft die Abweisung der Berufung. Diesem Antrag folgt das Aargauer Obergericht zwei Wochen später. Am 27. September wird Artur Terekhov in zweiter Instanz verurteilt. Der Beschuldigte gibt sich weiter kämpferisch: «Ich werde den Fall vor Bundesgericht ziehen!»

Die Badener Schartenstrasse ist in Lausanne keine Unbekannte. Bereits 1995 bestätigten die obersten Richter, dass das dortige Sonntags- und Nachtfahrverbot juristisch grundsätzlich zulässig ist. Es wurde vom Badener Stadtrat aufgrund einer eigentumsrechtlichen Lärmbeschwerde der Bewohner eingeführt. Seither wird der Durchgangsverkehr zu den fraglichen Zeiten durch das Nadelöhr der Wettingerstrasse geleitet, damit die mehreren hundert Anwohner der Schartenstrasse ihre Ruhe haben. In der Zwischenzeit, zuletzt vor drei Jahren, wurden mehrere Bürgerinitiativen zur Beseitigung des Fahrverbots vom Stadtrat abgeschmettert.

Auf Anfrage der Weltwoche bestätigt der Kommandant der Stadtpolizei Baden, Andreas Lang, die Hypothese Terekhovs: Jedes Auto wird von einer Kontrollschild-Erkennungs-Kamera erfasst. Eine Software gleicht das Nummernkennzeichen mit einer Liste von «durchfahrtsberechtigten Kontrollschildern» ab. Per Computer herausgefiltert werden laut Stadtpolizei beispielsweise «Anwohner selbst, gemeldete Besucher von Anwohnern und registrierte Lieferanten». Die verbleibenden Autos werden fotografiert, und die Bilder werden zur «manuellen Auswertung» der Stadtpolizei übergeben. Mit anderen Worten: Wer auf der weissen Liste ist, kann durch die Schartenstrasse fahren, egal, ob dies im Verkehr mit den entsprechenden Liegenschaften passiert oder um deshalb das Nadelöhr zu umfahren. «Wo bleibt da die saubere Beweisführung?», fragt Terekhov.

Zweifelhafter Einsatz

Jetzt also zieht der Rechtsstudent Artur Terekhov den zur Durchsetzung eingesetzten Blitzer vor Bundesgericht. Handelt es sich um eine aussichtslose bis querulatorische Beschwerde eines juristisch hypersensiblen Störenfriedes?

Nein, sagt Stephan Reinhardt. Der auf Strassenverkehrsrecht spezialisierte Rechtsanwalt und frühere Kommandant der Kantonspolizei Aargau kann «den Ausführungen des Beschuldigten über weite Strecken folgen». Es sei «sehr zweifelhaft», ob der Einsatz einer «Kontrollschild-Erkennungs-Kamera für die Überwachung eines partiellen Fahrverbots verhältnismässig» sei. Und dies sowohl aus juristischer als auch aus staatspolitischer Sicht. «Die Stadtpolizei Baden», rechnet Reinhardt vor, «hat lediglich etwa 60 Angestellte.» Wenn ein Mitarbeiter für das Bussen-Verschicken abkomman-diert wird, fehlten die personellen Ressourcen möglicherweise in wichtigeren Bereichen.

Weiter überrasche ihn an dem Fall, so Reinhardt, dass sich das Obergericht «keine eigenen Gedanken» zu den interessanten Grundsatzfragen gemacht habe, sondern das Urteil der Vorinstanz «tel quel übernommen» habe. Sollte das Bundesgericht am Einsatz nichts Grundsätzliches auszusetzen haben, könnte es aber anders aussehen. «Das Bundesgericht wird für diesen Einzelfall prüfen, ob sich der Beschuldigte unter den gegebenen Voraussetzungen auf die Unschuldsvermutung berufen kann.» Affaire à suivre.