Mittlerweile gelten die 2020er Jahre als die goldenen Jahre der Märchen – der Energiemärchen. Sechs davon sind speziell interessant. Denn sie sind besonders einfach, wurden aber trotzdem weitherum geglaubt. Mein liebstes ist: «Velos sind klimaschonend.» Dabei verbrennen ihre Fahrer und Fahrerinnen für jeden Kilometer viel zusätzliche Energie und brauchen dafür zusätzliche Nahrung. Diese hat einen so grossen CO2-Fussabdruck, dass Velofahrer das Klima pro Personenkilometer ähnlich belasten wie mit zwei Personen besetzte sparsame Benzinautos.

Das zweite ist: «Elektroautos sind nachhaltig.» Dabei waren sie in den 2020ern Fossile ohne Strasse. Denn wegen ihres zusätzlichen Strombedarfs konnten weniger fossile Kraftwerke abgeschaltet werden, als sonst abschaltbar gewesen wären. Und sie leisteten anders als Benziner keine Treibstoffabgaben zur Finanzierung der Strassen.

Das dritte Märchen lautet: «Kernkraftwerke können abgeschaltet werden, denn zur Not könnten Importe den Bedarf decken.» Dabei trieb die Energiewende weg von der Kernenergie ja viele Länder zur gleichzeitigen Abschaltung ihrer Kernkraftwerke, so dass die Importstrategie nicht aufgehen konnte.

Das vierte Märchen: «Die Energiewende ist realistisch und für die Schweiz finanziell stemmbar.» Doch was für die Schweiz stemmbar ist, ist für die meisten unbezahlbar. Weil also nur wenige mitziehen konnten, scheiterte die Weltklimapolitik – und die technologische Entwicklung war langsamer und die Kosten für die Schweiz weit höher als erwartet und bald nicht mehr stemmbar, da so die technologische Entwicklung viel langsamer als erwartet verlief und die Kosten explodierten. Das fünfte Märchen war: «Die Energiewende ist alternativlos.» Denn wenn schon nur die Hälfte des für die Energiewende benötigten enormen Innovationsaufwands für die Anpassung an die Klimaentwicklung eingesetzt würde, böte diese keine grossen Probleme.

Die Kraft von Ohrwürmern

Das sechste Märchen schliesslich: «Die Energiezukunft ist Wasserstoff.» Dabei ist dieser zum einen hochexplosiv und deshalb seine Verteilung und Lagerung höchst problematisch, teuer und für ärmere Länder völlig ungeeignet, und zum anderen bedingt er wegen der grossen Energieverluste bei seiner Herstellung und Verbrennung praktisch Gratisstrom. Damit aber war er anderen nichtfossilen Energieträgern unterlegen: E-Fuels sind weit besser lager- und transportierbar. Dass sie bei der Herstellung noch mehr Strom als Wasserstoff brauchen, spielt angesichts der für Letzteren notwendigen Strompreise keine entscheidende Rolle mehr. Zugleich wirkte der für den Erfolg von Wasserstoff notwendige technologische Fortschritt natürlich auch positiv auf die Kernenergie, die den anderen Technologien mit Siebenmeilenstiefeln ganz märchenhaft davoneilte.

Die interessante Frage ist, weshalb die Menschen damals gerade die besonders einfachen Märchen glaubten und weshalb das wohl schon immer so war und wohl auch immer so sein wird. Meine Antwort ist diese: Damit Menschen Märchen fest glauben, müssen sie sie verinnerlichen, und dafür müssen sie sie zigfach in immer gleicher Form hören.

Komplexe Märchen verändern sich beim Weitererzählen immer wieder, halt so wie beim Telefonspiel. Deshalb hört man sie in immer wieder anderer Form, und deshalb werden sie selten verinnerlicht.

Nur ganz einfache Märchen können in unveränderter Form weitergegeben und so immer wieder in gleicher Form gehört und letztlich verinnerlicht und tief geglaubt werden. Es ist so wie bei Schlagern und Gassenhauern: Je einfältiger, desto eingängiger und desto mehr Leute summen die immer gleiche Melodie.

Reiner Eichenberger ist Professor für Theorie der Finanz- und Wirtschaftspolitik an der Universität Freiburg und Forschungsdirektor des CREMA.