Während Elektrofahrzeuge immer populärer werden, sind H2-Autos noch Nischenprodukte. Experten jedoch sind überzeugt: Ohne Wasserstoff kann die Energiewende nicht gelingen.

Mit den entsprechenden politischen Vorgaben und Verboten ist für die Automobilindustrie immerhin Klarheit geschaffen worden, wohin die Reise gehen soll: Zumindest für Europa ist die Elektrifizierung des Individualverkehrs das Ziel. Die grossen deutschen Hersteller, aber auch französische Marken und zunehmend jene aus Italien bringen fast im Monatstakt batterieelektrische Fahrzeuge (BEV) auf den Markt, in die Entwicklung von Technik und Software werden Milliarden investiert.

Doch während im grossen europäischen Reich weitgehende Einigkeit herrscht, gibt es eine Art gallisches Dorf, das den Aufstand probt. Die Elektrifizierung des Verkehrs – und sogar die gesamte Energiewende –, davon sind viele Experten überzeugt, kann alleine mit Strom aus Batterien nicht gelingen. Das gallische Dorf, wenn man so will, heisst Wasserstoff. Als farb- und geruchloses Gas (H2) ist Wasserstoff heute schon die Antriebskraft für Raketen, er wird in der Industrie verwendet, und vor allem kann darin Energie gespeichert werden und damit – über eine Brennstoffzelle in Strom umgewandelt – wiederum ein Auto oder ein Lastwagen angetrieben werden.

Für den Schweizer Automobilingenieur Christian Bach ist klar, dass es bei der Mobilität der Zukunft auch darum geht, «die stark fluktuierenden Energiequellen Sonne und Wind das ganze Jahr nutzbar zu machen». Bach leitet seit zwanzig Jahren die Abteilung Fahrzeugantriebssysteme bei der Empa, der Material- und Technologieforschungsanstalt der ETH. Er beklagt in der Diskussion um Nutzen und Nachteile von Wasserstoff eine zu oberflächliche Betrachtungsweise. Man müsse die Energiewende in ihrer ganzen Komplexität betrachten: «Wir werden durch die Fotovoltaik vor allem im Sommer grosse Stromüberschüsse sehen, wenn drei Viertel der Jahresleistung von Solaranlagen anfallen. Gleichzeitig wird sich der Stromimportbedarf im Winter massiv verstärken. Wasserstoff ist hier einer der Schlüssel, indem man ihn beispielsweise in der Mobilität nutzt.» Der Verlust an Wirkungsgrad bei der Erzeugung von Wasserstoff, der oft als Nachteil aufgeführt werde, überzeugt Bach als Argument nicht: «Das ist vergleichbar mit dem Verlust, der bei der Stromspeicherung in Pumpspeicherkraftwerken entsteht», sagt er. «Niemand würde sagen, Pumpspeicherkraftwerke schalten wir wegen Wirkungsgradverlusten ab.»

Die Elektrifizierung des Verkehrs kann alleine mit Strom aus Batterien nicht gelingen.

Bei der Empa ist der 59-jährige Techniker mitverantwortlich für den sogenannten Mobilitätsdemonstrator Move, mit dem wissenschaftliche Erkenntnisse praktisch sichtbar gemacht werden. So wird zurzeit eine Anlage des Schweizer Unternehmens Climeworks in Betrieb genommen, mit der CO2 aus der Atmosphäre gefiltert und, kombiniert mit Wasserstoff, zu synthetischem Methan, einem weiteren erneuerbaren Energieträger und Kraftstoff, verdichtet werden kann. Auch die erste Wasserstofftankstelle der Schweiz ist dort zu besichtigen sowie eine neuartige Fotovoltaikanlage, die über eine Salzschmelzbatterie mit einer Elektroladesäule gekoppelt ist.

Autos als Energiespeicher

Als jemand, der seit vielen Jahren am Schnittpunkt zwischen Forschung und praktischer Umsetzung tätig ist, ist für Christian Bach klar, dass eine wichtige Aufgabe der Mobilität der Zukunft darin besteht, die Integration von erneuerbarer Energie in das Energiesystem zu unterstützen: «Bezieht man aus dem System erneuerbare Energie für die Mobilität, nimmt man diese möglicherweise anderen Anwendungen weg, wo sie dann mit fossilen Quellen ersetzt werden müssen», erklärt er.

Einen ganzheitlichen Ansatz verfolgt auch der Automobilhersteller BMW in München, wo Jürgen Guldner als verantwortlicher Manager für die Entwicklung des Wasserstoff-Fahrzeugs iX5 Hydrogen und die entsprechende Forschungstätigkeit des Konzerns zuständig ist. Guldners Einstellung zur Energiefrage ist pragmatisch: «Man muss jede sinnvolle Technologie für die Dekarbonisierung nutzen. Dabei geht es darum, alle Menschen mitzunehmen. Wenn man mehr Optionen anbieten kann, wird der Umstieg auf neue Antriebsarten schneller gelingen», sagt der Ingenieur, der in Tokio, München und Kalifornien studiert hat.

Mittlerweile ist die Schweiz ein Vorzeigeland für die Erzeugung und Nutzung von grünem Wasserstoff.

Im Vergleich zu einem BEV biete der Wasserstoffantrieb für bestimmte Situationen und Fahrzeuge klare Vorteile. «Für Just-in-time-Logistik fehlt beispielsweise die Zeit, um Fahrzeuge zu laden, deshalb macht Wasserstoff im Schwerlastverkehr mehr Sinn», sagt er. Die heute bereits erhältlichen Wasserstoff-PKW wie Hyundai Nexo und Toyota Mirai sind schon in wenigen Minuten mit H2 vollgetankt, während das Laden eines BEVs auch an einer Schnellladesäule ein Mehrfaches an Zeit beansprucht. Je schwerer ein Fahrzeug sei, desto sinnvoller sei ausserdem der H2-Antrieb. Kälte wiederum reduziere die Reichweite einer Batterie um rund 20 Prozent, auch für diesen Fall sei Wasserstoff eine sinnvolle Alternative, findet Guldner.

Wie Empa-Abteilungsleiter Bach plädiert auch Guldner für eine ganzheitliche Sicht auf die Dinge: «Man muss den Betrachtungshorizont erweitern. Beim Elektrofahrzeug gilt es zum Beispiel, den gesamten Nutzungszyklus im Auge zu haben. Von den Rohstoffen, die man aus der Erde holen muss, bis zum Recycling der Fahrzeugkomponenten am Ende von dessen Lebenszyklus.» Die Batterie eines H2-Fahrzeugs beispielsweise brauche 90 Prozent weniger kritische Rohstoffe als die eines BEVs, was wiederum Abhängigkeiten verringere.

Zurzeit hat BMW eine kleine Flotte von iX5-Hydrogen-Erprobungsfahrzeugen im weltweiten Einsatz. «Wir wollen verstehen, wie das Thema von den Menschen aufgenommen wird», sagt Guldner. Auch wenn asiatische Hersteller bereits Serienfahrzeuge auf dem Markt haben und BMW seit zehn Jahren eine Wasserstoffkooperation mit Toyota pflegt, stehe das Thema Wasserstoff erst am Anfang. Ein Serienprojekt werde wohl noch in diesem Jahrzehnt vorgestellt, aber man müsse für jede Technologie den richtigen Zeitpunkt erwischen. «Beim Wasserstoff geht es auch um die Infrastruktur. Zuerst werden die Tankstellen für LKW gebaut, diese werden künftig bei multimodalen Tankstellen gleichzeitig auch PKW zur Verfügung stehen», sagt Jürgen Guldner.

Für genau diese Infrastruktur ist die Schweiz ein weltweites Musterbeispiel. Vor dreizehn Jahren hat der ETH-Ingenieur und Firmengründer Rolf Huber mit seiner Firma H2 Energy angefangen, das Thema Wasserstoff unternehmerisch anzugehen. Der 57-Jährige bezeichnet sich als grünen Liberalen – er sei aber kein Grünliberaler, sagt er lachend. «Das Thema Energiewende hat mich interessiert, und ich habe angefangen, Modellrechnungen zu machen. Mir wurde schnell klar, dass es ohne Wasserstoff nicht geht. Der heutige Gesamtenergieverbrauch in Europa beträgt rund 16 000 Terawattstunden, bloss 2000 davon sind Strom», führt Huber an.

Für die Schweiz gehe es um 225 Terawattstunden Gesamtverbrauch und heute sechzig Terawattstunden Strom. «Man darf Wasserstoff nicht auf die Funktion als Treibstoff reduzieren. Wir haben heute schon erneuerbare Kraftwerke, deren Energie nicht vollständig ins Netz gelangt, weil die Netzkapazitäten fehlen», erklärt Huber. Die Speicherung in Wasserstoff entschärfe dieses Problem. Die vielfach als einzige Lösung vorgebrachten Batterien seien dazu nicht ausreichend in der Lage oder schlicht nicht vorhanden.

Wasserstoff hat «etwas Mysteriöses»

Dass Wasserstoff als Speichermedium in Europa einen schweren Stand hat, führt Rolf Huber darauf zurück, dass «jeder dank seinem Handy weiss, wie Strom in einen Akku gelangt, während Wasserstoff etwas Mysteriöses hat». Mittlerweile ist dank dem Unternehmergeist Hubers die Schweiz ein Vorzeigeland für die Erzeugung und Nutzung von grünem Wasserstoff. In zwei Kraftwerken, in Niedergösgen und St. Gallen, wird das Gas aus erneuerbaren Quellen erzeugt und an die vierzehn H2-Tankstellen im Land verteilt. Bis Ende Jahr sollen es zwanzig Tankstellen sein – das dichteste Pro-Kopf-Wasserstofftankstellennetz der Welt. Mittlerweile haben die fünfzig Wasserstoff-LKW in der Schweiz problemlos sieben Millionen Kilometer zurückgelegt und wurden Tausende Male betankt.

Bei seinen Aktivitäten hat Rolf Huber bewusst und von Beginn weg auf Subventionen verzichtet. «Wenn man auf staatliche Förderung setzt, fehlt der Optimierungsreflex des Unternehmers. Man muss mit Behörden verhandeln; das dauert mir einfach zu lange, und es werden meist falsche Anreize gesetzt», erklärt er. Um die Energiewende voranzubringen, davon ist Huber überzeugt, «müssen wir Unternehmer motivieren, etwas zu unternehmen. Nur vom Reden entsteht nichts.»