Plieux liegt zwischen Toulouse und Agen. Der freie Blick in alle Himmelsrichtungen reicht bis zu den Pyrenäen. Auf dem Weg vom Parkplatz zum Schloss hüpft ein Eichhörnchen herum. Kein Mensch weit und breit. Gebaut wurde die Festung im Ancien Régime. Es ist der 22. Mai 2024, zehn Uhr. Zum Klingeln muss der Besucher am Strang der Glocke ziehen. Über den Büchergestellen mit Tausenden von Bänden hängen vom Schriftsteller gemalte Bilder. Mehrmals wird das Gespräch durch anonyme Anrufe unterbrochen. Auch das Strassenverkehrsamt meldet sich. Der Beamte will dem älteren Herrn, der das gar nicht wissen wollte, erklären, wie er den Fahrausweis abgeben kann. Um 13 Uhr serviert der Partner des Gastgebers nach einem Apéro in der Bibliothek im Speisesaal das üppige Essen, das er zubereitet hat: Ente, etwas zäh, mit Bratkartoffeln, Käse und Salat, Dessert. Die Herren schöpfen nach, auch dem exzellenten Rotwein wird reichlich zugesprochen. Zum Kaffee geht es zurück in die Bibliothek und danach zum Verdauungsspaziergang durch das kleine Dorf, an der staatlichen Kirche vorbei. In der Abgeschiedenheit dieser Idylle schuf Renaud Camus den Begriff des «Grand Remplacement», des «Grossen Austauschs». Er ist zum Schlagwort gegen die Einwanderung geworden, die als Bedrohung der Kultur und Identität empfunden wird. Für die «Globalisten» ist er zum Inbegriff von Rassismus und Faschismus geworden. Der Schlossherr wundert sich, dass man das Gespräch mit einem Handy aufnehmen kann.

Weltwoche: Die Präsidentschaftswahl 2002 ist als «Erdbeben der Fünften Republik» in die Geschichte Frankreichs eingegangen. Wem hatten Sie, Monsieur Camus, am 21. April Ihre Stimme gegeben?

Renaud Camus: Ich weiss es nicht mehr. Wer war damals Kandidat der Grünen? Wahrscheinlich habe ich ihn gewählt.

Weltwoche: Und in der Stichwahl dann Jean-Marie Le Pen!

Camus: Wie bitte? Nein, ich habe mein ganzes Leben lang nie Le Pen gewählt – Jean-Marie, den Vater. An der Stichwahl nahm ich nicht teil.

Weltwoche: Dem «Erdbeben» folgten zwei Wochen antifaschistischer Mobilmachung einer ganzen Gesellschaft. Ein kollektiver Exorzismus der Vergangenheit von Vichy und Pétain wurde inszeniert. Dieser war 1940 vom Parlament gewählt worden.

Camus: Ich konnte mich weder mit Le Pen noch mit Jacques Chirac abfinden. Aus Protest gründete ich nach der Wahl eine eigene Partei, «Le parti de l’in-nocence».

«Nicht ich – die Welt ist radikaler geworden. Ich bin der sanfteste Mensch der Welt.»Weltwoche: Diesmal wurde Pétains Rückkehr verhindert, Chirac gewann mit über 80 Prozent. Sie aber, Renaud Camus, waren zwei Jahre zuvor schon in eine Rolle gedrängt worden. Nach einer Radiosendung mit Alain Finkielkraut und Richard Millet nannte Sie die Leiterin des staatlichen Radios «schlimmer als Hitler». Worum ging es in der Sendung?

Camus: Um die französische Sprache. Ich kritisierte deren «Proletarisierung» und die Lehrer, das Schulsystem. Es war heftig, in der Tat. Wir waren alle viel zu sehr einer Meinung. Im Anschluss an die Diskussion veröffentlichte ein Journalist Auszüge aus meinem Tagebuch aus dem Jahre 1994. Ich wurde des Antisemitismus bezichtigt, weil ich sechs Jahre zuvor über eine Sendung geschrieben hatte, in der vorwiegend jüdische Teilnehmer über vorwiegend jüdische Themen debattierten. Ich tat das ohne jede Bösartigkeit oder Hintergedanken, innerhalb des Senders France Culture selbst war dieser Zustand längst ein Running Gag. Zwei Monate dauerte die Polemik, 500 Artikel befassten sich mit mir.

Weltwoche: Immerhin gab es damals noch eine Debatte. Die Bandbreite der Reaktionen reichte von «Lynchen durch die Medien» bis zu «kriminellen Meinungen», die man Ihnen vorwarf. Die Kulturministerin verlangte einen Gang vors Gericht. Für die Senderchefin waren Sie «schlimmer als Hitler», für die französische Öffentlichkeit sind Sie es geblieben. Michel Houellebecq und Emmanuel Carrère verehren Ihr literarisches Werk. Den «am meisten verteufelten Dichter der Gegenwart» nennt Sie der Philosoph Alain Finkielkraut, der Ihnen «literarisches Genie» bescheinigt. Wie gehen Sie damit um?

Camus: Ich kann es nur konstatieren.

Weltwoche: Hat Sie Ihre Verbannung radikalisiert?

Camus: Nein. Ich keiner Weise.

Weltwoche: Wirklich nicht?

Camus: Nein. Nicht ich – die Welt ist radikaler geworden. Ich bin der sanfteste Mensch der Welt.

Weltwoche: «Im Alter von acht Jahren war ich flammend xenophil», schreiben Sie: mit Leidenschaft fremdenfreundlich.

Camus: Ich bin es noch immer. Ich liebe die Fremde und die Fremden. Die anderen Kulturen. Die deutsche Musik und Philosophie. Die englische Malerei. Die italienische Architektur, die japanische Poesie. Die afrikanische Kunst. Ich wuchs in einem kleinen, etwas heruntergekommenen Kurort in der Auvergne auf. Im Sommer kamen Gäste aus Marokko und Südamerika. Die Frauen trugen grosse Hüte. Ich liebte diesen Duft der grossen weiten Welt.

Weltwoche: Wer waren Ihre Eltern?

Camus: Sie waren gut zu mir, die familiären Verhältnisse aber etwas heikel. Vor zwei Jahren habe ich entdeckt, dass ich nicht der Sohn meines Vaters bin. Ich hatte es geahnt, dass meine Mutter einen Geliebten hatte. Meine Kindheit war nicht unglücklich, aber sehr arm. Meine einst reichen Eltern hatten ihr ganzes Vermögen verloren.

Weltwoche: Sie waren ein Musterschüler und haben in Paris die Sciences Po absolviert. Wie erlebten Sie den Mai 68?

Camus: Ich war auf den Barrikaden; ehrlich gesagt, hat mich vor allem die sexuelle Revolution begeistert. Ihr habe ich intensiv gefrönt.

Weltwoche: Wie deuten Sie im Rückblick die damaligen Ereignisse?

Camus: Ganz anders. Es war eine Revolution zum Lachen, eine Imitation. Aber mit Folgen. Im Mai 68 erfolgte die Machtübernahme der «petite bourgeoisie», des Kleinbürgertums. Es ist eine soziale Klasse der Nachahmung. Am Ende des Monats nahm ich an der Demonstration für de Gaulle teil.

Weltwoche: Sie waren nie versucht, sich den Maoisten anzuschliessen?

Camus: Es war eine verrückte Zeit. Ich war nie Mitglied einer maoistischen Organisation, spürte aber die Faszination des Maoismus sehr wohl. Ich stand unter dem Einfluss der führenden avantgardistischen Zeitschrift Tel Quel, über die ich promovierte, und war mit dem Semiologen Roland Barthes befreundet, der an der Reise der maoistischen Intellektuellen nach China teilnahm.

Weltwoche: Im Mai 68 entstanden militante homosexuelle Vereinigungen. Es gab Homosexuelle, die ihre Diskriminierung mit dem Schicksal der Juden verglichen und die Pädophilie verteidigten.

Camus: Ja, das gab es. Ich hatte damit nichts zu tun, ich bin nicht im Geringsten pädophil veranlagt. Aber natürlich kenne ich die Legende, die man mir heute andichtet.

Weltwoche: Es gibt ja auch die Legende, dass Sie der Geliebte von Barthes waren. Von Louis Aragon, dem kommunistischen Dichter, und Andy Warhol.

Camus: (Plötzlich sehr laut) Nein, nein, aber nicht doch. Wie bitte? Ich war mit keiner dieser drei Personen im Bett. Weder mit Roland Barthes noch mit Louis Aragon. Auch nicht mit Andy Warhol. Das wird von mir erzählt? Woher haben Sie das?

Weltwoche: Irgendwo gelesen, ist in meinem Camus-Dossier. Ich werde Ihnen den Beleg schicken.

Camus: Nicht nötig. Aber Sie können es kategorisch dementieren. Ich habe nie mit Barthes geschlafen. Auch nicht mit Aragon. Na ja, mit Aragon wäre es um ein Haar dazu gekommen.

Weltwoche: Andy Warhol kannten Sie seit Ihrem Aufenthalt in New York?

Camus: Ja. Und in Paris hatte ich einen Freund, der in seiner Wohnung lebte. Die Premieren meiner Bücher feierten wir jeweils bei Andy Warhol.

«Der Tourismus ist ein Motor des ‹Austauschs›. Im Namen der Vielfalt werden Unterschiede eingeebnet.»Weltwoche: Es geht mir nicht um Ihr Sexleben, über das Sie sich in Ihren Tagebüchern ausgiebig ausgelassen haben. Zu Ihrem Kult- und Homosexuellenroman «Tricks» hat Roland Barthes das Vorwort geschrieben, es wurde als Outing gedeutet. Barthes hatte auch die berüchtigte Petition gegen das Verbot der Pädophilie unterschrieben. Verfemt wurde damals, wer sie kritisierte. Einst war der Antisemitismus-Vorwurf für jede Karriere tödlich. Heute ist es die Pädophilie, generell der sexuelle Missbrauch. Dieser Paradigmenwechsel interessiert mich. Waren Sie eigentlich für die Ehe für alle?

Camus: Die Ehe für alle ist so lächerlich, dass ich einen Artikel mit «Nicht einmal dagegen» überschrieb. Sie ist eine Beleidigung, denn sie macht die Heterosexualität zum absoluten Paradigma. Die Ehe ist eine in der Gesellschaft verankerte Institution im Sinne der Familie und zum Schutz der Kinder. Die Homosexuellen haben damit nichts zu tun. Begründet wurde sie mit Gleichheit. Das ist absurd. Übergewichtige können auch nicht das Recht beanspruchen, Jockey zu werden. Mein Partner und ich haben einen «pacte civil de solidarité» (Pacs) geschlossen, der uns die rechtliche Gleichstellung garantiert. Dafür muss man nicht zum Standesamt, sondern zu einem Notar.

Weltwoche: Der Kampf gegen die Diskriminierung war notwendig. Aber seine antifaschistische Verklärung hat zu perversen Folgen geführt. Auch Frankreich will jetzt die Homosexuellen finanziell entschädigen.

Camus: Absurd. Aus Frankreich wurde kein Homosexueller deportiert. Ein Abgeordneter, der das aussprach, wurde der Homophobie angeklagt – ich habe ihn vor Gericht unterstützt. Das 1982 erlassene Gesetz wird als Aufhebung des «Verbots der Homosexualität» gefeiert. Das ist reine Demagogie: Es gab keine strafrechtliche Verfolgung der Homosexualität, es ging um die Anpassung des Schutzalters an jenes für heterosexuelle Beziehungen. Die Politiker, die gegen die Ehe für alle waren, kriechen zu Kreuze: Sie fürchten um ihre Karriere. Auch für einen Homosexuellen, der von den Nazis im damals deutschen Elsass deportiert worden war, habe ich ausgesagt.

Weltwoche: Sie sind offensichtlich häufig vor Gericht.

Camus: Demnächst sogar in Israel. Ein Historiker hat mich zitiert und wurde von einer Zeitung als Nazi bezeichnet. Der Vorwurf ist ihm unerträglich, sein Grossvater starb in Auschwitz. Er hat mich als Zeugen geladen. Meine Gesundheit ist nicht die allerbeste, ich hasse Flughäfen, in denen ich mich nicht mehr zurechtfinde, aber wenn irgend möglich, werde ich nach Tel Aviv reisen.

Weltwoche: Ihre Produktivität jedenfalls ist ungebrochen. Sie schreiben wie verrückt.

Camus: Ja, das kann man sagen. Zweifellos zu viel, ich arbeite zwischen zwölf und fünfzehn Stunden pro Tag.

Weltwoche: Ihr tägliches Tagebuch ist ein wichtiger Teil Ihres literarischen Werks. Früher wurden Sie von renommierten Verlagen gedruckt. Wie viele zahlende Abonnenten haben Sie im Internet?

Camus: Zweihundert. Jeden Tag lesen etwa hundert Menschen meine Prosa. Ich führe auch eine Agenda, die man gratis lesen kann.

Weltwoche: Ihre Berühmtheit verdanken Sie den politischen Büchern.

Camus: Mit den politischen Büchern ist es zu Ende, ich habe geschrieben, was ich zu sagen hatte. Ich bin kein politischer Mensch. Politik entspricht nicht meinem Geist und auch nicht meinen Interessen. Politische Debatten langweilen mich schnell, vor allem mit Gleichgesinnten. Das alles ist mir fremd. Ich fühlte mich gezwungen, diese Essays zu schreiben. Ich sah eine Entwicklung, die von niemandem wahrgenommen wurde. Und ich sah es als meine Aufgabe an, sie zu beschreiben.

Weltwoche: Sie nennen es «Le Grand Remplacement». Wie ist der Begriff entstanden?

Camus: Ich weiss es nicht. Ich habe ihn wohl in den achtziger Jahren erstmals in meinem Tagebuch verwendet.

Weltwoche: Inzwischen gibt es auch den kleinen, «Le Petit Remplacement».

Camus: Er steht für den Niedergang der Hochkultur, die durch die Kulturindustrie ersetzt wird. Der Prozess ihrer Ausmerzung begann mit der Machtübernahme der «petite bourgeoisie» im Mai 68.

Weltwoche: Wie definieren Sie den «Grand Remplacement»?

Camus: Als Austausch eines Volks und einer Zivilisation durch die Masseneinwanderung. Sie ist ein «Genozid durch Substitution». Diesen Begriff hat der Schriftsteller und Politiker Aimé Césaire geprägt. Aber der grosse und der kleine «Remplacement» sind lediglich relativ nebensächliche Aspekte eines globalen Prozesses, den ich «Remplacismus» nenne. Ich halte es für eine glückliche Fügung, dass ich auf diesen Begriff gekommen bin. Er umfasst sehr präzise, worum es bei der Moderne geht: um die Geste des Ersetzens. Es begann mit der industriellen Revolution: Die Maschinen ersetzten die Manufakturen. Inzwischen leben wir in einer Gesellschaft, in der alle und alles ersetzt werden können.

Weltwoche: Alles wird ersetzt – wodurch?

Camus: Durch dasselbe, durch das Nichtfremde. Mir geht es darum, das Fremde, das überall dem Austausch geopfert wird, zu retten. Alle reden von Diversität – aber die Uniformität, die Gleichheit aller, war nie so verbreitet wie heute. Die Städte der Welt gleichen sich: überall die gleichen Geschäfte, Hochhäuser, Hotelzimmer. Der Tourismus ist ein Motor des «Grossen Austauschs». Im Namen der Vielfalt werden die Differenzen, Unterschiede, Eigenheiten eingeebnet und die Grenzen aufgehoben.

Weltwoche: Auch zwischen den Geschlechtern.

Camus: Die Auflösung der Rassen, deren Existenz im Namen des Antirassismus geleugnet wird, war das grosse Projekt der Gegenwart und ist weitgehend abgeschlossen. Jetzt werden die Grenzen zwischen den Geschlechtern aufgelöst. Der Mensch wird zum austauschbaren Einheitsprodukt. Der «globale Remplacismus» ist ein Totalitarismus, der in sich den Nationalsozialismus und den Stalinismus vereinigt.

Weltwoche: Sie verlegen heute alle Ihre Bücher im Eigenverlag?

Camus: Ich habe keine andere Wahl. Von den Medien werden sie totgeschwiegen, vom Buchhandel boykottiert. Nur bei Amazon sind sie erhältlich.

Weltwoche: Auch die Verwaltung Ihres Schlosses ist wohl nicht ganz einfach.

Camus: Es geht. Der wichtigste Posten sind die Kosten für das Heizen. Es handelt sich um ein einfaches, kompaktes Schloss. Vor zehn Jahren haben wir das Dach neu gemacht.

Weltwoche: Warum sind Sie hierhergezogen?

Camus: Wegen der Bücher. In Paris hatte ich eine Wohnung, 45 Quadratmeter, sechste Etage ohne Aufzug. Mit dem Erlös konnte ich dieses Schloss kaufen und es auch noch einigermassen instand setzen.

Weltwoche: Es steht zum Verkauf.

Camus: Nicht zum ersten Mal. Manchmal habe ich Sehnsucht nach einer Rückkehr in meine Heimat, in die Auvergne. Ich bin auch nicht mehr der Jüngste. Wir hatten einen Käufer, der Vertrag war schon unterschrieben, aber dann ist er abgesprungen. Der Druck der Banken ist permanent. In materieller Hinsicht ist mein Leben nicht einfach. Gestern war ich beim Zahnarzt. Die Rechnung wird sich auf 3000 Euro belaufen. Genau die Summe, die ich gerade für eine amerikanische Übersetzung bekommen habe. Mit dem Geld wollten wir eigentlich im Sommer nach Deutschland reisen. Daraus wird wohl nichts.

Weltwoche: Ich habe Hunderte Seiten von Ihnen gelesen: Sie sind kein Nazi und kein Antisemit. Ihre Begriffe und Schlagworte, die etwas überraschende Systematik Ihrer Theorien eignen sich zur Verbreitung in Verschwörungstheorien. Es gibt Stellen, die man als geschmacklos und allenfalls rassistisch empfinden kann. Zum Beispiel, wenn Sie den Schaden in Europa beschreiben, den man mit der Verteilung von Präservativen in Afrika vermeiden könnte.

Camus: Ich habe die meisten Prozesse verloren, in dieser Sache aber dreimal gewonnen. Es war ein Leichtes, zu beweisen, dass ich für eine Beschränkung aller Bevölkerungen bin, auch der weissen. Ich habe immer wieder geschrieben, dass mir Frankreich mit fünfzig Millionen Einwohnern sehr viel lieber ist als mit siebzig.

Weltwoche: Der Niedergang der Bevölkerungszahlen fördert doch den «Grossen Austausch»: Man benötigt die Gastarbeiter.

Camus: Nein. Japan ist das Gegenbeispiel. Der Bevölkerungsrückgang ist noch stärker als in Europa. Japan ist sehr wohl vom globalen Remplacismus betroffen, auch vom «Kleinen Austausch». Aber ein «Grosser Austausch» der Bevölkerung findet dort nicht statt, trotz der sich daraus ergebenden Probleme.

Weltwoche: Seit Anders Breiviks Massaker in Norwegen werden Sie nach jedem Attentat eines rechtsextremen Terroristen der geistigen Anstiftung bezichtigt. Als Brenton Tarrant am anderen Ende der Welt, im neuseeländischen Christchurch, mehrere Dutzend Muslime tötete, behauptete Marlène Schiappa, Macrons Ministerin für Gleichstellung, der Terrorist habe Ihr Buch bei sich gehabt.

Camus: Man muss sich das einmal vorstellen: Ein Terrorist greift zum Gewehr und hat im Rucksack mein Buch, einen 500-Seiten-Wälzer. Den Prozess gegen Schiappa habe ich weder gewonnen noch verloren. Das Gericht hielt fest, dass ihre Aussage jeglicher Grundlage entbehre. Dennoch wurde sie nicht verurteilt. Ihre Bemerkung, befanden die Richter, sei im Rahmen einer hitzigen Debatte mit Éric Zemmour gefallen und könne deshalb entschuldigt werden. Brenton Tarrant hatte zwar ein Pamphlet «The Great Remplacement» geschrieben, aber keine Ahnung von meiner Existenz. Es gab von meinem Buch gar keine englische Übersetzung. Tarrant bewundert die Kommunistische Partei Chinas, und im Gegensatz zu mir propagiert er das Wachstum der weissen Bevölkerung. Hätte er meine Bücher gelesen, wäre er nie zum Massenmörder geworden. Kein Terrorist hat je «Le Grand Remplacement» gelesen.

«Die Soldaten von Verdun hätten sich nie als Identitäre zu bezeichnen. Sie waren Franzosen.»Weltwoche: Auch als Vordenker der Identitären werden Sie gehandelt.

Camus: Ich bin kein Identitärer. Für die symbolischen Aktionen der Identitären im Rahmen des Gesetzes habe ich viel Verständnis. Doch schon der Bezug auf eine Identität ist eine Konzession an den «Grossen Austausch». Die Soldaten in den Schützengräben von Verdun wären nie auf die Idee gekommen, sich als Identitäre zu bezeichnen. Sie waren Franzosen. Und Franzose sein heisst: sich diese Frage gar nicht stellen. Identität heisst, das etwas identisch ist, also gleich. Und damit ist es bereits nicht mehr das Ursprüngliche. Ich war oft in Belgien, wo ständig über die Frage diskutiert wurde, was es bedeute, Belgier zu sein. Alle waren es auf eine unterschiedliche Weise, und damit war auch keiner wirklich Belgier. Letztlich sagte ich mir: Welch ein Glück, Franzose zu sein. Franzose sein heisst: sich diese Frage nicht stellen.

Weltwoche: Prägnanter kann man die Krise, in der Frankreich steckt, wohl nicht auf den Punkt bringen: Es ist eine Krise seiner Identität. Gibt es eine europäische Identität?

Camus: Ich fühle mich durch und durch als Europäer. Ich bin mehr Europäer als Franzose. Meine Kultur ist europäisch.

Weltwoche: Deutsche Musik, italienische Architektur, Sie haben es gesagt. Sind Sie auch in politischer Hinsicht ein Europäer?

Camus: Ich war nie ein nationaler Souveränist. Ich plädiere für den Verbleib von Frankreich in der EU. Der Brexit hat mich geschmerzt: Grossbritannien gehört zu Europa. Die EU hat lauter Verbrechen begangen, sie ist ein Motor der Zerstörung. Aber wir dürfen Europa nicht aufgeben, wir müssen es erobern. Ich bin für einen europäischen Staatenbund, als dessen Hauptstadt mir Wien vorschwebt.

Weltwoche: Das klingt sehr nach den Theorien des Schweizers Denis de Rougemont.

Camus: Der Vergleich gefällt mir sehr, ich liebe die Schweiz. Ihre Musik. Ich habe auch schon mal vorgeschlagen, dass die EU der Schweiz beitreten solle.

Weltwoche: Denis de Rougemont war ein Pionier der Ökologie und plädierte für Grenzen des Wachstums. Sein Denken hat einiges mit Ihrem Ideal der «in-nocence» zu tun. Sie haben diese Wortschöpfung im Namen Ihrer Partei verankert. Wie muss man den Begriff verstehen?

Camus: Er ist von «innocence» hergeleitet (deutsch: Unschuld). «Nocence» hat damit zu tun, ist aber nicht das pure Gegenteil. Man darf darunter nicht die Unschuld verstehen. Ich glaube an die Ursünde des Menschen, an das Böse. Mit «nocence» meine ich den Schaden, den der Mensch anrichtet und den er anderen zufügt. Ich plädiere für einen «Pakt der in-nocence», der darauf beruht, möglichst wenig Schaden auf der Erde anzurichten. Auf ihm beruht die Zivilisation, ihn muss der Staat garantieren. Die Zivilisation wurde erfunden, um den Menschen das Alleinsein zu ermöglichen und sie vor der wilden Horde zu schützen. Die Einsamkeit und das Schweigen sind nur in der Zivilisation möglich. Zu diesem Pakt gehört, dass man die Menschen in Ruhe lässt, nicht belästigt, sie von Lärm verschont. Ich könnte nicht mehr in einer Stadt leben. «In-nocent» sein bedeutet den anderen nicht stören. Ihm keinen Schaden zufügen. Das ist mein gesellschaftspolitisches Ideal.

«Mein Idol ist Gandhi, ihm ist die fast perfekte Dekolonialisierung fast ohne einen Schuss gelungen.»Weltwoche: Sie wollen keine politischen Bücher mehr schreiben. Dann wäre das soeben erschienene Ihr letztes, gewissermassen Ihr Testament. Es hat einen Titel, den Sie Raul Hilbergs Standardwerk über den Holocaust entlehnen und mit dem Sie den Austausch auf die Spitze treiben. Sie ersetzen Wort für Wort den Juden durch den Europäer: «La Destruction des Européens d’Europe», die Vernichtung der europäischen Europäer. War der Holocaust das Original? Mit dem Begriff Genozid wird heute gefährliche Schindluderei betrieben.

Camus: Die Form ist eine völlig andere. Was ich sagen will: Es geht um die gleiche Geschichte. Den Begriff Genozid verwende ich im Sinne von Aimé Césaire. Er meinte damit die Präsenz der Franzosen aus dem Mutterland. Die aus Guadeloupe stammende Politikerin Christiane Taubira, die als Justizminister von François Hollande die «Ehe für alle» durchsetzte, spricht bezüglich der Situation in Neukaledonien ebenfalls von «Genozid durch Substitution». Ich verurteile das Vorgehen der Kanaken, die Plünderungen, die Gewalt und so weiter, aber ich unterstütze sie. Natürlich darf es nicht geschehen, dass die Europäer ins Meer getrieben werden. Aber die Kanaken sind ein Opfer des «Grand Remplacement». Sie haben ein Recht auf ihre Insel. Das wollen die Rechtsextremisten nicht wahrhaben. Sie bekämpfen den «Grossen Austausch» in Frankreich und propagieren ihn in Neukaledonien. Es ist wie in Tibet: Ein Volk wird ersetzt. Mit einer Abstimmung kann man das Problem nicht lösen, denn die Ureinwohner sind längst in der Minderheit.

Weltwoche: Wer hat wen in Palästina verdrängt und ersetzt?

Camus: Israel gehört den Juden. Es handelt sich bei dieser Frage um den «Goldstandard», das Urbeispiel der «Grossen Umvolkung». Wenn Israel nicht den Juden gehören soll, gehört Frankreich auch nicht den Franzosen.

Weltwoche: Sie springen ein paar Jahrtausende zurück.

Camus: Ja. Und deshalb spreche ich vom Goldstandard. Ähnlich alt ist allenfalls der Anspruch der Chinesen auf China. Im Abendland ist die Verbindung von Juden und Israel die Quintessenz der Zugehörigkeit und Authentizität. Ich bin ein Hyperzionist.

Weltwoche: Nochmals: Die Einwanderung in Europa ist wie die französische Kolonialisierung ein «Genozid durch Substitution»?

Camus: Der Begriff trifft die Verhältnisse und Vorgänge. In der Definition seines Schöpfers Raphael Lemkin setzt ein Genozid, die Ausrottung eines Volks, keineswegs ein Massaker voraus. Alles, was Milan Kundera in den sechziger und siebziger Jahren über Mitteleuropa schrieb, kann im Sinne von Aimé Césaire als Genozid eingestuft werden: Eine Kultur wurde vernichtet. Dabei handelt es sich um unsere Kultur, um unsere Zivilisation, die eine der wertvollsten ist, die es je gegeben hat.

Weltwoche: Am Schluss Ihres Buchs überraschen Sie mit der Pointe, dass die vertriebenen Europäer in 2000 Jahren vielleicht in ihre Heimat zurückkehren können.

Camus: Eine leise Hoffnung, ein ironischer Trost dafür, dass meine Partei nur Niederlagen kennt.

Weltwoche: Es sei denn, Europa entschliesse sich zur Remigration. Dieser Begriff stammt nicht von Ihnen, sondern von einem Theoretiker des Antirassismus und Antikolonialismus. Sie und Ihre Partei plädieren für die Remigration, Marine Le Pen hat sie abgeschrieben.

Camus: Wir müssen der Kolonialisierung Europas ein Ende bereiten. Die Masseneinwanderung hat Frankreich tiefer, stärker, gründlicher kolonialisiert und beschädigt, als es selbst je die Welt kolonialisiert hat. Die französische Kolonialisierung war eine imperiale und ist in keiner Weise mit der englischen vergleichbar, die überall das Englische durchgesetzt hat. Frankreich machte das nur in Quebec und ansatzweise in Louisiana. Und in Algerien. Als Algerien seine Unabhängigkeit erlangte, praktizierte es die Remigration mit einer Brutalität, von der man nie spricht. Zehn Prozent der Bevölkerung, Angehörige einer anderen Rasse und Religion, wurden vertrieben. Ich bin keineswegs dafür, dass wir diese gleiche Gewalt übernehmen. Aber man darf ruhig auch festhalten, dass Algerien und die anderen Maghreb-Staaten überhaupt keine Einwanderer wollen. Ich bin zuversichtlich, es geht auch mit sanfteren Methoden.

Weltwoche: Sie rechtfertigen die Remigration mit den Klassikern des Antikolonialismus. Sind die Verhältnisse tatsächlich so ähnlich?

Camus: Man muss sie lesen, um zu verstehen, was uns geschieht. Frantz Fanon hat in «Die Verdammten dieser Erde» den Prozess der Kolonialisierung und die Folgen für die Einheimischen akribisch beschrieben. Man kann das auf Europa übertragen und damit den Zustand, in dem es sich befindet, erklären. Wenn in Neukaledonien die «Caldoches», die Neo-Kaledonier, der Remigration entgehen können, freut mich das für sie. Aber die Kanaken, Opfer einer immer stärker werdenden Kolonialisierung und Entfremdung, haben das Recht, sie von der Insel zu vertreiben. Mein Idol ist Gandhi, ihm ist die fast perfekte Dekolonialisierung praktisch ohne einen Schuss gelungen. Fürchterlich war der Bürgerkrieg danach. Und Gandhi wurde ermordet.

Weltwoche: Welcher Partei werden Sie bei der Europawahl Ihre Stimme geben?

Camus: Éric Zemmours Reconquête. Ihre Spitzenkandidatin ist Marion Maréchal-Le Pen. Es ist die einzige Partei, die sich für die Remigration ausspricht.

Weltwoche: Haben Sie keine Angst vor der Homophobie der Rechtsextremisten?

Camus: Doch. Und es gibt sie, das kann ich bezeugen. Ein grosser Teil der Rechtsextremisten hasst mich.

Weltwoche: Deswegen?

Camus: Ja. Weil ich homosexuell bin. Und wegen der Legende, ich sei pädophil. Sie ist absurd, aber sie kehrt immer wieder. Jean-Marie Le Pen ist nicht nur antisemitisch, sondern auch homophob.

Die 3 Top-Kommentare zu "«Die Masseneinwanderung ist ein Genozid an Europa»"
  • Eliza Chr.

    «Die Masseneinwanderung ist ein Genozid an Europa». So ähnlich haben sich auch Helmut Schmidt und sogar Franz Josef Strauss schon vorausgesagt. Das war also nicht erst kürzlich. Sie sahen die Katastrophe kommen!

  • pierre19

    Das Beste was ich darüber gelesen habe. Deshalb muss die Personenfreizügigkeit weg, das ist möglich. Und Kulturfremde dürfen nicht hereingelassen werden, auch in deren Interesse.Muslime sind apriori Verräter gemäss Koran. da kann man es nachlesen , die Rückeroberung. Rekonquista.Aber unsere Landes- verräter - väter sehen das anders.

  • Vera natura

    Wenn wenigstens ein guter Gedanke dahinter wäre am Experiment der Massen Migration, aber nicht einmal dass . Die Geschichte und Kultur der europäischen volker wird zum verschwinden gebracht. Zweck ist es , das Volk besser manipuliert zu können und Macht gewinnen. Es wird aber auch für die Deep State Eliten nicht funktionieren und den Kontinent Europa im Chaos stutzen. Nur auf der Etikette heisst es gutmenschen, dahinter die Überraschung