Es sind meist Kinder, die Erwachsene daran erinnern, wie die Zeit vergeht. Der Sohn von Eva Quadbeck, einer Journalistin in Berlin, wollte eines Tages von ihr wissen, ob Männer eigentlich auch Kanzler werden könnten. Angela Merkel regiert Deutschland seit dreizehn Jahren, und wenn sie spätestens 2021 als Kanzlerin abtreten wird, ist es nicht unwahrscheinlich, dass ihr eine Frau im Amt nachfolgen wird. Niemand wäre überrascht, schon gar nicht die Jungen.
Aktuell konkurriert Annegret Kramp-Karrenbauer, die CDU-Generalsekretärin, mit Jens Spahn, dem Gesundheitsminister, und Friedrich Merz, dem früheren Unions-Fraktionschef, um den Parteivorsitz, der am Freitag in Hamburg vergeben wird. Sie gilt als Favoritin, obschon es nicht einfach ist, die Lage einzuschätzen. Am Ende entscheiden 1001 Delegierte über die Personalie, und die meisten von ihnen halten sich bedeckt. Sollte Kramp-Karrenbauer sich durchsetzen, wäre sie zugleich designierte Kanzlerkandidatin der ewigen Kanzlerpartei, als die sich die CDU versteht. Adenauer, Erhard, Kiesinger, Kohl – die Traditionslinie reicht weit zurück.
Eva Quadbeck hat mit ihrer Kollegin Kristina Dunz ein Buch über Annegret Kramp-Karrenbauer geschrieben. Es heisst «Ich kann, ich will und ich werde» und zitiert den bekannten Ausspruch, mit dem sich Kramp-Karrenbauer im Februar 2018 um das Amt der CDU-Generalsekretärin bewarb. Auf der Buchrückseite steht gross die Frage: «Kann sie auch Kanzlerin?» Die Autorinnen schreiben: «Die? Wer 2013 in den ersten Nachfolgedebatten um Kanzlerin Angela Merkel den Namen der saarländischen Ministerpräsidentin Annegret Kramp-Karrenbauer schon aussprechen konnte und dies auch tat, erntete ein müdes Lächeln.» Fünf Jahre können eine Ewigkeit sein.
Kramp-Karrenbauer wurde oft unterschätzt – und ergriff instinktsicher jede Chance, die sich ihr bot. Jetzt steht sie zwei Schritte vor dem Kanzleramt. Bald könnte sie als erste Frau in Europa eine Frau im Regierungsamt ablösen und damit eine neue Tradition begründen. Eine weitere Biografie, die soeben erschienen ist, gibt schon einmal die Richtung vor: «Die Macht ist weiblich» lautet der Titel.
Die Geschichte beginnt 1962 im Saarland, das damals erst seit fünf Jahren zur Bundesrepublik gehörte. Annegret, im lokalen Dialekt «es Anne» genannt, kam als fünftes Kind einer bürgerlichen Familie zur Welt. Der Vater war Sonderschullehrer und kümmerte sich nebenher um Arbeitslose und Randständige, die Mutter führte den Haushalt, der noch um ein weiteres Kind anwachsen sollte. Es galt die klassische Rollenteilung, auch für die Kinder: Die Söhne putzten das Auto, die Töchter halfen in der Küche. Der Kanzler hiess Konrad Adenauer und hatte Jahrgang 1876.
Es war, wie Annegret Kramp-Karrenbauer heute findet, eine ideale Vorbereitung auf ihr Leben in der Politik. «Wenn man in einer Grossfamilie zu den Jüngsten gehört, will man immer auch das machen, was die Älteren können», sagt sie im Buch von Quadbeck und Dunz. «Wenn mir Möglichkeiten verschlossen waren oder Grenzen gesetzt wurden, hat mich das immer besonders angepikst. Dann sagte ich immer: ‹Das werden wir jetzt erst einmal sehen.›» Die Grossfamilie entpuppte sich als politische Schule: «Man kann lernen, wie man Koalitionen bildet, um Interessen durchzusetzen, und wie man taktisch vorgeht.» Und Annegret Kramp, wie sie damals hiess, war eine fleissige Schülerin.
Rudolf Müller, der ehemalige Bürgermeister von Püttlingen, wo Kramp-Karrenbauer aufwuchs und bis heute lebt, entdeckte ihr politisches Talent früh. Er bezeichnet sie als «blitzgescheit, ehrgeizig und durchsetzungsstark» und attestiert ihr einen «eisernen Willen zur Macht». 1981 trat sie der CDU bei, 1984 übernahm sie als Stadträtin ihr erstes öffentliches Amt. Der Kanzler hiess Helmut Kohl, und in seinem Kabinett sass eine einzige Frau.
Annegret Kramp, vom Vater immer gefördert («Ich war das Papa-Kind»), studierte Rechts- und Politikwissenschaften in Trier und Saarbrücken und heiratete Helmut Karrenbauer, den sie seit Kindestagen kannte. Während sie für die Familie «es Anne» blieb, war sie nun öffentlich Annegret Kramp-Karrenbauer, kurz AKK: eine junge Frau, die ihre ersten beiden Kinder bekam, zudem politisierte und studierte, ehe sie 1991, nach dem Abschluss, eine Stelle in der CDU Saar antrat.
«Kann sie auch Kanzlerin?» Die Frage schien damals mehr als ein Leben entfernt zu sein.
Die Karriere von Annegret Kramp-Karrenbauer kam vergleichsweise langsam in Gang. Erst 1998, kurz nach der Geburt ihres dritten Kindes, zog sie in den Bundestag, den sie ein halbes Jahr später bereits wieder verlassen musste. Sie war nun 36, eine abgewählte Politikerin in der deutschen Provinz. Konnte so jemand eine Zukunft in Berlin haben? Jens Spahn, ihr Konkurrent um höchste Ämter, ist 38 und seit sechzehn Jahren im Bundestag.
Kramp-Karrenbauer, die nie ausserhalb der Politik gearbeitet hat, setzte weiterhin auf die Fähigkeiten, die sie sich zu Hause erworben hatte: Koalitionen schmieden, Interessen durchsetzen. Sie kandidierte für den saarländischen Landtag und war bald Parlamentarische Geschäftsführerin der Fraktion. Und als Peter Hans, der Fraktionschef, erkrankte, übernahm sie faktisch dessen Aufgaben. «Sie weiss, wie man führt. Sie weiss, wie man Machtpositionen einnimmt», sagt Tobias Hans, der sie damals aus der Nähe beobachtete. Er ist der Sohn von Peter Hans und heute Ministerpräsident des Saarlands.
Dass Kramp-Karrenbauer in dieser schwierigen Situation so entschieden auftrat, beeindruckte auch Peter Müller, den damaligen Ministerpräsidenten. Bald schon liess er sondieren, ob sie saarländische Innenministerin werden wolle. Es ist ein hartes Amt, man ist zuständig für die Sicherheit. Die bekanntesten deutschen Innenminister waren damals Otto Schily (SPD) im Bund und Günther Beckstein (CSU) in Bayern. Sie gefielen sich in ihrer Rolle als roter und schwarzer Sheriff, die Law and Order durchsetzten. Innenpolitik – das war eine Männerwelt.
Ein Emissär wurde losgeschickt. «Jetzt sag bitte nicht nein», bat er Kramp-Karrenbauer.
«Warum sollte ich nein sagen?», entgegnete sie.
Wenig später gab es in Deutschland erstmals eine Innenministerin: eine dreifache Mutter, deren Mann als Bergbauingenieur in der Nacht arbeitete, um tagsüber die Kinder zu betreuen. Es war das Jahr 2000. Eine neue Zeit hatte begonnen.
Kramp-Karrenbauer machte sich im saarländischen Kabinett schnell unverzichtbar. Sie wurde Bildungs- und auch Arbeitsministerin, und als Peter Müller zurücktrat, wurde sie 2011 schliesslich Ministerpräsidentin. Sie bildete mit den Grünen und der FDP eine Regierung, aber nach einem halben Jahr warf sie die FDP raus, ausgerechnet am 6. Januar, an dem die Partei ihre traditionelle Dreikönigstagung beging. Es war eine Machtdemonstration.
Angela Merkel, damals schon lange die erste Kanzlerin, hatte damit nicht gerechnet. Sie koalierte mit der FDP im Bund und war entsetzt über das Signal aus dem Saarland. Sofort liess sie sich mit Kramp-Karrenbauer verbinden – und verlor die Contenance. Merkel schrie, Merkel tobte. Aber AKK blieb Ministerpräsidentin und gewann die nächste Landtagswahl.
Das Verhältnis der beiden sollte sich bald verbessern. Sie stehen sich politisch nahe, zudem ist Kramp-Karrenbauer der Kanzlerin seither nicht mehr in die Parade gefahren. Mit ihren Wahlerfolgen im Saarland stützte sie vielmehr deren Position in Berlin, zuletzt im Frühjahr 2017, als die SPD mit Martin Schulz, ihrem frischgekürten Kanzlerkandidaten, in Umfragen massiv zulegte. Die SPD ist im Saarland mit seiner Bergbautradition stark verankert, aber die CDU gewann die Wahl haushoch. Es war der Anfang vom Ende des Schulz-Hypes.
Oskar Lafontaine (Linke), der bekannteste Politiker aus dem Saarland, sagte noch am Wahlabend zu Kramp-Karrenbauer: «Na ja, 35 Prozent hätte ich Ihnen ja zugetraut, aber über 40 nun wirklich nicht.» Lafontaine war einmal Kanzlerkandidat der SPD gewesen – in einer anderen Zeit.
Merkel erkannte, dass sie Kramp-Karrenbauer in ihrer Nähe brauchen könnte. Im Frühjahr 2018 bot sie ihr an, nach Berlin zu wechseln. Man sass in einem Restaurant und trank Rotwein, die Stimmung war gelöst. Merkel hatte an einen Ministerposten gedacht, aber Kramp-Karrenbauer schlug stattdessen vor, das Generalsekretariat der Partei zu übernehmen. Es ist ein Amt, das normalerweise an eine hoffnungsvolle Nachwuchskraft geht. «Das war spontan, aus dem Bauch heraus», sagt Kramp-Karrenbauer heute. «Danach war auf beiden Seiten erschrockenes Schweigen. Wir haben vereinbart, dass wir diese Idee erst einmal sich setzen lassen.» Sie brauchten dafür nicht lange.
Am 26. Februar sagte Annegret Kramp-Karrenbauer vor den CDU-Delegierten: «Ich kann, ich will, ich werde.» Sie hatte – ob spontan oder nicht – erkannt, dass sie sich als Generalsekretärin mit allen politischen Themen beschäftigen und zugleich die Partei besser kennenlernen würde. Das ist in einer Zeit, in der eine Ära zu Ende geht und man sich neu profilieren muss, von unschätzbarem Vorteil.
Eva Quadbeck und Kristina Dunz schreiben in ihrem Buch über Kramp-Karrenbauer: «Sie kann, sie will und – wenn es gut für sie läuft – wird sie auch.» Plötzlich steht AKK für «Annegret kann Kanzlerin». Die Zeit ist schnell vergangen.
Kristina Dunz, Eva Quadbeck: Ich kann, ich will und ich werde. Annegret Kramp-Karrenbauer, die CDU und die Macht.Propyläen. 334 S., Fr. 37.90