Vertraut sind die Szenen an Schwingfesten, wenn der Siegermuni in die Arena geführt wird. Der Applaus brandet auf, der Schwingerchampion strahlt, aber zwischendurch mischt sich Kritik in die Stimmung. Dass der Stier an einem Nasenring geführt wird, ruft immer wieder Debatten hervor, sei es an Schwingfesten oder auf Märkten und an Viehversteigerungen. Der Nasenring sei nicht mehr zeit- und artgerecht. Kürzlich erhielt Gantrufer Andreas Aebi von Tierschützern eine Anzeige, weil er es toleriert habe, dass ein Stier am Ring über den Platz geführt wurde. Wie ist die Kritik am Nasenring zu beurteilen? Ist dieser noch zeitgemäss? Wie sieht die Praxis aus?

Unser genossenschaftliches Unternehmen Swissgenetics, das auf Rindviehgenetik und künstliche Besamung spezialisiert ist, hält an drei Standorten gegen 400 Zuchtstiere im Alter von vier Monaten bis vierzehn Jahren, das Gewicht variiert von 250 bis 1200 Kilogramm.

Wir setzen den Stieren ungefähr im Alter von zehn Monaten einen Nasenring ein. Für die Sicherheit unserer Stierenpfleger ist die tägliche Auseinandersetzung mit Charakter und Verhalten jedes Stieres entscheidend. Auch ein Jungstier wiegt 250 Kilogramm und ist jedem Stierenpfleger körperlich überlegen.

Individuelles Gefahrenpotenzial

Eine «Zusammenarbeit» mit dem Stier ist nur möglich, wenn der Stier kooperiert, er muss sich kontrollieren lassen. Es ist eine Illusion, zu meinen, dass ein Stier mit dem Nasenring zu etwas gezwungen werden könne, was er gar nicht will.

Viel wichtiger als die Durchsetzung des Willens des «Stierenführers» ist die persönliche Beziehung zum Tier. Unsere Stierenpfleger kennen ihre Stiere und deren guten wie auch heiklen Charakterzüge. Diese Kenntnis und das Vertrauen der Tiere erreichen sie durch eine gute Beobachtung der Tiere wie auch durch einen respektvollen Umgang bei der Pflege und beim Füttern der Kolosse. Selbstverständlich ist dies zeitaufwendig, was sich aber letztlich im Sinne der Sicherheit bezahlt macht.

Der Umgang mit den Stieren ist das tägliche Brot unserer Stierenpfleger. Sie haben fast jeden Tag sehr nahen Kontakt mit den Tieren, sei es für die Klauenpflege, das Scheren, Führen, Waschen, die Probenahmen von Samen oder zum Fotografieren. Am wichtigsten ist es, die Stiere bereits früh an den Umgang mit den Pflegern zu gewöhnen, sie ruhig und sachte zu führen, unvorhersehbare Situationen möglichst zu vermeiden. Nach dem Einsetzen des Ringes darf während zwei bis vier Wochen keine Manipulation daran erfolgen, damit die Wunde abheilen kann und der Stier keine unnötigen Schmerzen erleidet.

Für die Sicherheit unserer Pfleger ist die tägliche Auseinandersetzung mit dem Gefahrenpotenzial jedes einzelnen Stieres entscheidend, dieses wird laufend beurteilt. Abhängig vom Befund wird dann entschieden, wie der Stier geführt beziehungsweise wie mit ihm umgegangen werden soll. Stiere ohne spezielle Risikofaktoren werden mit dem Halfter geführt. Dabei wird das Halfterseil in der Regel einmal durch den Nasenring gezogen, und geführt wird direkt am Halfter. Weitere Massnahmen zur Risikominderung bestehen dann zum Beispiel darin, dass spezifische Pfleger zum Führen bestimmt werden oder dass gewisse Stiere nicht zur gleichen Zeit wie andere Stiere herumgeführt werden.

So risikoarm wie möglich

Zusätzlich besteht die Möglichkeit, dass das Tier mit der Stange geführt und so auf einer gewissen Distanz gehalten wird. Das heisst, dass der Stier neben der Stange gleichzeitig auch am Halfter geführt wird. Das Halfterseil muss hier genügend lang sein, damit eben ein bestimmter Abstand – als kalkulierter Sicherheitsabstand – zum Stier eingehalten werden kann. In Einzelfällen werden Stiere auch von zwei Betreuern gemeinsam zu zweit geführt. Hier ist ein langes Seil im Einsatz, das entweder um den Hals oder um die Hörner geführt wird. Alle diese Massnahmen dienen dazu, den Umgang mit dem Stier auf unserem Betrieb für unsere Stierenpfleger so risikoarm wie möglich zu gestalten.

Der Nasenring ist für den Pfleger eine zusätzliche Hilfe, um ein Tier kontrollieren zu können. Es soll aber so behandelt und geführt werden, dass möglichst keine gefährlichen Situationen eintreten. Manipulationen am Nasenring sind zurückhaltend durchzuführen. Wird zu heftig am Ring gezerrt, kann dies die Wirkung reduzieren, und der Stier wehrt sich. Das würde also genau dann, wenn der Nasenring zuverlässig seinen Zweck erfüllen sollte, seine Wirkung vermindern. Der Nasenring ist keine Notbremse und auch keine Lebensversicherung für den Stierenführer. Er erhöht lediglich die Sicherheit in für den Stier ungewohnten Situationen, auf die er naturgemäss mit Flucht oder – häufiger – mit Angriff reagiert.

René Bucher ist Leiter Kommunikation beim Viehzuchtunternehmen Swissgenetics.