Die Hühnchen in Frank Schaeffels Labor sehen aus, als wollten sie Charles Lindbergh Konkur-
renz machen. Doch die Küken tragen ihre Fliegerbrillen für die Forschung. Streulinsen machen die Hühnchen an der Universitätsaugenklinik in Tübingen kurzsichtig: «Die Linsen verlegen das scharfe Bild hinter die Netzhaut», erklärt Schaeffel, «das Hühnerauge wächst daraufhin in die Länge, um es ‹einzufangen›.»

Das kurzsichtige Geflügel dient Schaeffel als Modell. An den Küken will er die Frage klären, die wohl jeder Kurzsichtige seinem Augenarzt schon gestellt hat: Kann man das Fortschreiten der Myopie bremsen? Kann man Kurzsichtigkeit rückgängig machen oder gar ganz verhindern?
Der Sehfehler, der Objekte in der Ferne unscharf erscheinen lässt, ist schliesslich nicht nur lästig, der verlängerte Augapfel birgt ernste Risiken: Die Wahrscheinlichkeit, an grünem Star zu erkranken, ist gegenüber Normalsichtigen verdoppelt, für grauen Star ist sie bis zu fünfmal so hoch. Die Gefahr einer Netzhautablösung ist verzehnfacht. In westlichen Industrienationen ist jeder Dritte kurzsichtig, Tendenz steigend.

Kurzsichtigkeit hat eine starke erbliche Komponente. Aber auch das Verhalten spielt bei der Entwicklung der Myopie eine wichtige Rolle. Von der Geburt an bis zum 15. Lebensjahr wächst der Augapfel von 17 auf 24 Millimeter Länge. Trotzdem wird das Bild nicht einen Tag unscharf. Voraussetzung für ein so genaues Wachstum ist eine normale Seherfahrung. Doch was ist im Zeitalter der Gameboys, Computer und der Medienflut normal?

«Das Präzisionsorgan Auge scheitert an Naharbeit wie Lesen und Bildschirmarbeit», sagt Schaeffel. «Unsere Augen sind faul. Sie stellen das Bild in der Nähe gerade so weit scharf, dass wir lesen können, doch die Schärfe-Ebene liegt hinter der Netzhaut. Wir lesen unmerklich ein wenig verschwommene Buchstaben.» Schaeffel und seine Kollegen haben gemessen, dass Erwachsene beim Lesen in 33 Zentimetern Abstand generell zu wenig akkommodieren. Deswegen ist das Auge beim Lesen praktisch weitsichtig.

Das Auge kompensiert diesen Fehler und wächst – wie bei den bebrillten Testhühnern – in die Länge.
Gegen Akkommodationsfaulheit lässt sich etwas unternehmen: Eine Lesebrille macht das mühsame Scharfstellen auf kurzer Distanz überflüssig. Studien in Singapur und den Vereinigten Staaten lassen vermuten, dass Kinder, die Lesebrillen tragen, weniger stark kurzsichtig werden als ihre Schulkameraden. Dieser Tage werden die Ergebnisse der amerikanischen COMET-Studie (Correction of Myopia Evaluation) veröffentlicht. Dafür trugen 450 kurzsichtige US-Schüler drei Jahre lang entweder bifokale oder normale Brillen. Fachleute erwarten, dass die Kurzsichtigkeit bei Kindern mit normaler Brille stärker zugenommen haben wird als in der Bifokalgruppe.

Für eine Behandlung der Kurzsichtigkeit setzen Augenärzte rund um den Globus neuerdings auf Medikamente. Das Tollkirschengift Atropin lähmt, ins Auge geträufelt, die Muskeln, die für die Akkommodation zuständig sind, und verhindert übermässiges Wachstum des Auges. Zahlreiche Studien belegen die schützende Wirkung des Giftes, doch wegen der starken Nebenwirkungen ist eine Zulassung als Dauermedikament gegen Kurzsichtigkeit unwahrscheinlich.

Zurzeit wird das als Mittel gegen Magengeschwüre zugelassene Pirenzepin getestet. Das Mittel wird in Form eines Gels in Kinderaugen gegeben. Pirenzepin verursacht zwar weniger Nebenwirkungen, Tierversuche deuten aber darauf hin, dass die Substanz längst nicht so wirksam ist wie Atropin.
Wie die Wachstumsregulierung im Auge genau funktioniert und wo zukünftig eine Pille gegen die Brille angreifen könnte, ist noch unbekannt. Sicher ist, dass der Nervenbotenstoff Dopamin eine schützende Rolle spielt. Atropin erhöht die Freisetzung des Botenstoffs im Auge, und Dopamin-Antagonisten hemmen die künstlich ausgelöste Myopie im Hühnchen.

Bis ein wirksames Medikament gegen faule Augen gefunden ist, helfen schlichte Entspannungsübungen: Wer den Blick nur wenige Minuten in die Ferne schweifen lässt, kann damit mehrere Stunden Naharbeit kompensieren. Auch das Wissen über Dopamin lässt sich nutzen. Scharfe Kontraste und gute Beleuchtung sorgen für einen hohen Pegel des schützenden Stoffes. Und die Dopaminkonzentration im Auge schwankt mit dem Tagesrhythmus. Nachts fällt der Spiegel rapide ab – das Auge reagiert dann besonders anfällig auf Nahsehen. Mama hatte also doch Recht: Wer nachts mit der Taschenlampe unter der Bettdecke liest, verdirbt sich die Augen.