Am 14. Januar 2008 räumt Helg Sgarbi seine Einzimmerwohnung in Uznach SG. Er werde nach Chile auswandern, sagt der 43-jährige Mann, bevor er mit seinem alten olivgrünen Mercedes S 300 davonbraust in Richtung Österreich. Im Windschatten fährt ein fabrikneuer Audi Q7 mit. Was Sgarbi nicht weiss: Nach der Grenze gesellt sich ein weiteres Auto zum kleinen Konvoi, in dem deutsche und österreichische Fahnder sitzen.

Auf der Raststätte Vomp nach Innsbruck ist die Reise bereits zu Ende. Anstelle der deutschen Milliardärin Susanne Klatten, die ihm 14 Millionen Euro übergeben sollte, erwartet ihn die Sondereinheit «Cobra West». Verhaftet wird auch der Fahrer des schwarzen Audi: der 63-jährige Italiener Ernano Barretta. Während Sgarbi alsbald nach Deutschland ausgeliefert wird, wo er seither wegen Verdachts auf Erpressung und Betrug in U-Haft sitzt. Barretta dagegen, den mutmasslichen Kopf der Erpresserbande, lässt die Polizei wieder laufen.
In seinem abgelegenen Heimatdorf, oben in den Abruzzen, 180 Kilometer östlich von Rom, wähnt sich Barretta sicher. Ein gravierender Irrtum. Auf deutsches Ersuchen hin hat Staatsanwalt Gennaro Varone die Ermittlungen aufgenommen. Und die Italiener machen ganze Sache, installieren Wanzen und hören Telefone ab. Als sie Ende Mai zuschlagen, haben die Fahnder genügend Beweise gesammelt, um neben Barretta auch seine Schweizer Ehefrau sowie seine beiden erwachsenen Stamm- und Statthalter zu verhaften.
In der Luxusresidenz des Barretta-Clans konfiszierten die Behörden zehn Karossen der obersten Luxusklasse (Rolls-Royces, Ferraris, Lamborghinis) und 1,65 Millionen Euro Bargeld. Eine «Schatzkarte» führt die Ermittler zu weiteren 2,5 Millionen in Cash, die er in allen möglichen Winkeln seines 20 Hektaren grossen Anwesens vergraben und versteckt hat. Doch das dürfte nur ein kleiner Teil der Beute sein, die der sektenähnliche Barretta-Clan in den letzten Jahren mit kriminellen Mitteln angehäuft hat. Allein der in Österreich verhaftete Helg Sgarbi soll mit Lügengeschichten und erpresserischen Sexvideos 17 Millionen Euro ergaunert und dem Guru Barretta abgeliefert haben.
Die Story über den «Frauenflüsterer» (Der Spiegel) und seine betuchten Opfer sorgt in ganz Europa seit über einer Woche für Schlagzeilen und Enthüllungen im Tagesrhythmus. Im Zentrum des Interesses steht Susanne Klatten, die «Signora BMW», mit einem geschätzten Vermögen von rund 10 Milliarden Euro die reichste Frau Deutschlands. Klatten löste das Verfahren im letzten Januar aus, «konsequent und ohne Rücksicht auf die für sie unangenehmen öffentlichen Folgen», wie ihr Sprecher sagte. Eine ganze Reihe weiterer mutmasslicher Opfer scheute bislang den Gang zur Polizei. Mit gutem Grund.
Die verruchte Seite der High Society ist ein sicheres und ergiebiges Feld für süffige Geschichten. Das moralische Urteil überlässt man dem amüsierten Publikum, das in den diversen Leser-Foren nun so richtig Dampf ablässt. «Sie dachte, Liebesstunden gibt es umsonst», höhnte es der deutschen Milliardärin aus der Bunten entgegen, «solche Menschen wie die Klatten sind die wahren Asozialen.» – «Ehebetrug bringt Unheil – Strafe muss sein», echot es von einer Schweizer Plattform. Britische Blätter wie der Independent betiteln Susanne Klatten konsequent als «Nazi-Erbin». Häme ist angesagt, die Machenschaften der Betrüger scheinen die Gemüter viel weniger zu bewegen.

Kindheit in Brasilien

Helg Sgarbi 1,85 Meter gross, schlank, blond, mit blauen Augen, hohe Stirn, kantiges Kinn, kräftige Zähne, stets adrett gekleidet – der Mann mit dem süffisanten Lächeln scheint auch beim breiten Publikum anzukommen. Selbst als Mittvierziger mimt er noch gern den idealen Schwiegersohn, der auch mal seine 82-jährige Vermieterin mit einem Blumenstrauss beglückt. Am Rückspiegel seines Mercedes baumelte das Bild von Padre Pio samt Rosenkranz. «Er redet viel über sich, und doch habe ich das Gefühl, nichts wirklich über ihn zu wissen», erzählt einer, der ihn gut kennt. Und: «Helg hat etwas Unterwürfiges an sich, doch dieser Zug kann auch völlig unverhofft ins Gegenteil umschlagen.»

Sgarbi wird 1965 als Sohn eines Direktors der Firma Sulzer geboren und heisst damals noch Helg Russak. Seine Kindheit verbringt er hauptsächlich in Brasilien, mit dreizehn Jahren kommt er nach Winterthur. 1992 schliesst er ein Studium der Rechtswissenschaften an der Uni Zürich mit dem Lizentiat ab und heiratet ein erstes Mal. Danach steigt Russak sofort bei der damaligen Kreditanstalt ein und arbeitet sich schnell in eine Kaderposition hoch. 1996 macht er sich selbständig als Berater. So weit der unauffällige Teil seiner Biografie.
Zwei Jahre nach Russaks Heirat wird die Ehe wieder aufgelöst, gemäss Tages-Anzeiger ist der Grund bei der Sekte um Ernano Barretta zu suchen. Hinweis auf einen Bruch in jener Zeit liefert auch seine militärische Karriere: 1995 wird Russak zum Oberleutnant befördert, keine zwei Jahre später lässt er sich aus «medizinischen Gründen» vom Dienst suspendieren. Wie aus einem Gerichtsurteil hervorgeht, das der Weltwoche vorliegt, soll sich Russak Ende der 1990er Jahre «in Nord- und Südamerika als Spieler» über die Runden gebracht haben. 2001 sei er in die Schweiz zurückgekehrt und habe bei McDonalds als Hilfskraft gearbeitet. Der Wahrheitsgehalt dieser überprüfbaren Angaben erscheint zweifelhaft. Sie deuten vielmehr darauf hin, dass sie von der wahren Geschichte ablenken sollen.
Aus Sgarbis Umfeld gibt es viele widersprüchliche Geschichten und Versionen. Was der Mann wirklich trieb, wissen auch seine vermeintlich engsten Freunde nicht. Von seiner Familie hat er sich längst distanziert. 2003 nimmt Russak eine neue Identität an: Er heiratet eine Frau, mit der er zusammengelebt hat, und heisst fortan Helg Sgarbi. Auch die Frau ist Anhängerin von Ernano Barretta, dem «Sprachrohr Gottes».
Ernano Barretta wird 1945 als Sohn eines Taglöhners im süditalienischen Wallfahrtsort Pescosansonesco. Seine Geschichte ist die eines Emigranten, der auf der Suche nach Arbeit Ende der 1950er Jahre in den Norden reist. Als Schweisser und angelernter Automechaniker baut er sich in der Schweiz eine Existenz auf. Im Zürcher Oberland lernt er schon bald eine Schweizerin kennen, seine heutige Ehefrau, mit der er zwei Kinder zeugt.

Wunder haben ihren Preis

Die Macht des heiligen Hokuspokus hat Barretta schon als Kind kennengelernt. Seine Heimatgemeinde Pescosansonesco ist ein bekannter Wallfahrtsort für Invalide, die sich vom heiligen Nunzio Sulprizio ein Wunder erhoffen. Auch Ernano Barretta behauptet, über himmlische Wunderkräfte zu verfügen. In der Schweiz reiste er regelmässig nach Einsiedeln, um neue Gefolgsleute anzuwerben. Doch Barrettas Wunder hatten ihren Preis. Anfang der 1990er Jahre eröffnete die Bezirksanwaltschaft Zürich ein Strafverfahren gegen Barretta wegen Betrugs und Erpressung.

Barretta soll zahlreiche Heilsuchende gezielt in seine Abhängigkeit getrieben und bis zur Verelendung ausgesaugt haben. Auch von sexueller Ausbeutung ist die Rede. Nach den Aussagen einer ehemaligen Anhängerin behauptete Barretta, «sein Sperma sei das Blut Jesu Christi, es reinige den Geist». Am Anfang sei in der Sekte viel von Solidarität die Rede gewesen, doch profitiert habe unter dem Strich nur einer. Wer dazugehörte, musste seine irdischen Besitztümer an die «Gruppe» abtreten – also an Barretta. Bis heute gelte die Regel, dass ihm alle Anhängerinnen jederzeit sexuell zu Diensten zu stehen hätten. Unter seinen Jüngern finden sich auch durchaus gebildete Leute vom Schlage eines Helg Sgarbi: Juristen, Banker, Piloten.
1994 setzt sich Barretta in seine Heimat ab. Die Staatsanwaltschaft Zürich tritt das Verfahren an die italienische Justiz ab, wo es versandet. Der Barretta-Clan baut derweil sein Landgut in Pescosansonesco zu einem Luxus-Resort aus, auf dem auch ein Heliport nicht fehlt: das «Country House – Rifugio Valle Grande». Hier stiegen angeblich berühmte Persönlichkeiten ab, die den Umgang mit dem Guru pflegten. Ein grosses Bild im Entree des «Country House» zeigte den Guru an der Seite von Bundeskanzlerin Angela Merkel. Wie sich nach der Polizeirazzia im Frühling herausstellte, handelte es sich um eine plumpe Fotomontage. Doch das ist eine vergleichsweise harmlose Spielerei. Bei Barrettas Sekte handelt es sich gemäss den italienischen Ermittlern um eine straff organisierte kriminelle Organisation. Helg Sgarbi war demnach Barrettas ergebenster und ergiebigster Söldner.

Anfang 2000 macht sich Sgarbi in Monte Carlo an die steinreiche, über 80-jährige Comtesse Verena Du Pasquier heran. Der 35-jährige Schweizer stellt sich der greisen, ursprünglich aus Luzern stammenden Multimillionärin als Jurist und Bankier vor. Er lädt sie zum Essen ein und schickt ihr hernach Blumen aufs Zimmer. Die Comtesse schwärmt von ihrem «jeune homme» und lässt sich die Haare in jugendlichem Rot färben.

Doch das Glück wird alsbald von einer schlimmen Geschichte getrübt. Er habe, so erzählt Sgarbi der Gräfin, in Miami schuldlos die Tochter eines berüchtigten Mafioso angefahren; das Mädchen sitze nun im Rollstuhl, der Mafioso sinne nach Rache und wolle ihn, Sgarbi, «in Stücke schneiden»; der einzige Ausweg führe über eine Bezahlung von 10 Millionen Dollar Schmerzensgeld.

Die Geschichte ist so erfolgreich, dass der Hochstapler sie später bei drei weiteren Frauen anwendet. Zuletzt bei Susanne Klatten. Und alle zahlen. Freunden, welche sie warnen, erteilt die Comtesse eine Abfuhr: «Ihr seid doch alle selber hinter meinem Geld her.»

Anfang 2001 will das ungleiche Paar heiraten. Weil Helg Sgarbi nirgends gemeldet ist, bestellt er seine Papiere direkt in der Heimatgemeinde Dägerlen. die Zivilstandsbeamtin schöpft Verdacht. Da helfen auch die Blumen und Komplimente nicht weiter, mit denen der Charmeur gemäss Blick die Frau eindeckt. Die Frau verzeigt Sgarbi bei der Polizei.
Mittlerweile ist auch die Comtesse misstrauisch geworden. Eine Freundin, die deutsche Ärztin und Jetsetterin Christina Weyer, soll ihr die Augen geöffnet haben. Im August 2001 wird Sgarbi in Genf verhaftet. 27,9 Millionen Franken hat der «jeune homme» der Gräfin bis dahin abgeknöpft. Nachdem er 20 Millionen zurückgezahlt hat, lässt sie ihre Anzeige fallen. Sgarbi zieht sich darauf schmollend nach Zürich zurück. Und stürzt sich ins nächste Beziehungsabenteuer: mit der Frau, die ihm auf die Schliche kam, Christina Weyer.
Die Frau kennt sich aus in der Welt der Hochstapelei. Schliesslich ist sie die Gattin des mittlerweile in die Jahre gekommenen famosen deutschen Lebemannes «Consul» Hans-Hermann Weyer. Weyer hatte in den 1980er Jahren eine zweifelhafte Berühmtheit erlangt, weil er die deutsche High Society mit zweifelhaften Adels- und Diplomatentiteln versorgte. Wegen Verdachts auf Betrug verbrachte der «Consul» mehrere Wochen in Untersuchungshaft. Seither lebt er im brasilianischen Exil.
Will die Christina Weyer ihn erpressen, um selber an die Millionen der Comtesse heranzukommen? Sgarbi behauptet dies. Sie versichert, die Affäre mit dem Gigolo nur eingegangen zu sein, um ihn zu überführen. Tatsache ist, dass Sgarbi seine Flamme während eines Schäferstündchens heimlich filmt. Schriftlich fordert er sie auf, sich aus seinen Geschäften herauszuhalten, und droht: «Du bist dabei, Dein schönes Gesicht für immer zu verlieren.» Den heimlich gedrehten Porno schickt er an die Adresse des gehörnten Ehemanns. Doch Christina Weyer fängt die Sendung ab – und erstattet Strafanzeige.
Am 3. September verurteilt das Bezirksgericht Bülach Helg Sgarbi wegen versuchter Nötigung zu sechs Monaten Gefängnis bedingt. Seine erste und bislang einzige Verurteilung scheint vorübergehend läuternde Wirkung zu zeitigen. Der Sunnyboy bezieht seine bescheidene Einzimmerwohnung in Uznach. Von Frühling 2004 bis 2006 arbeitet er bei der Beschwerdestelle der Firma Sunrise. Er gilt bald als Spezialist für schwierige Fälle. Gegenüber dem Spiegel sagte ein Arbeitskollege: «Helg gab jedem das Gefühl, etwas Besonderes zu sein; er hat die Leute in Sekundenschnelle gescannt und ihre Schwachstellen erkannt.»
Zweifellos ist Helg Sgarbi mit herausragenden Talenten gesegnet. Nach dem Abgang bei Sunrise betreibt der Mann, der sechs Sprachen beherrscht, ein Übersetzungsbüro in seiner Wohnung. Mag sein, dass ihn die Arbeit unterfordert. Es würde ins Bild des Betrügers passen. Dass Wirtschaftskriminelle oft dieselben Fähigkeiten aufweisen wie Topmanager, diese aber nicht sinnvoll einsetzen können, gilt als gerichtsnotorisch.

Jagdrevier im Kurhotel

Spätestens 2005 nimmt Sgarbi seine Tätigkeit als Gigolo wieder auf. Im noblen «Quellenhof» in Bad Ragaz lacht er sich die 64-jährige Marie H. an, die mit einem deutschen Industriellen verheiratet ist. Die Frau gewährt ihm alsbald ein «Darlehen» über 600 000 Euro – um Sgarbi von der tödlichen Rache eines amerikanischen Mafioso zu befreien. Damit ihr Gatte nicht misstrauisch wird, nimmt sie selber einen Kredit auf. Und schon passiert das nächste Unglück. In Italien wird Sgarbis Laptop gestohlen, auf dem auch verfängliche Fotos von Marie H. gespeichert sind. Jetzt ist es die italienische Mafia, die Geld verlangt: 1,5 Millionen Euro; sonst würde die Mafia ihren Ehemann über ihre Affäre mit dem Gigolo informieren. Und das wäre sehr schlecht, zumal im Hinblick auf die Alimente. Denn Marie H. will sich scheiden lassen.

Die Frau verflüssigt ihre Lebensversicherung und zahlt. Auch das zweite «Darlehen» überreicht sie ihm in einem Plastiksack. Ohne Quittung. Schliesslich stehen die beiden kurz von der Heirat. Als sie ihn auf die versprochene Rückzahlung anspricht, lacht der Gigolo die Frau eiskalt aus: «Dein Geld siehst Du nie wieder.» Und schon ist der nächste Erpresser mit Sexfotos im Anzug. Marie H. schaltet einen Anwalt ein. Helg Sgarbi gibt sofort nach und verschwindet von der Bildfläche.
Der Gigolo verlegt sein Jagdrevier nun nach Österreich, ins Kurhotel «Lanserhof» bei Innsbruck. Der Wellness-Tempel, wo vornehmlich in die Jahre gekommene Damen der Hautevolée gegen ihr Verfalldatum ankämpfen, ist das ideale Terrain. Sgarbi passt seinen Opfern in der Hotelbar ab, mit einem Glas Whisky in der Hand und einem gedankenverlorenen Blick, der «ein permanentes SOS an die weibliche Seele aussendet» (Corriere della Sera). Danach folgt das einstudierte Programm. Mindestens zwei weitere Opfer zahlen Millionenbeträge. Ernano Barretta koordiniert und kassiert im Hintergrund.
«Du hast gesagt, Du lebst für die Liebe», schreibt Sgarbi an eine Verehrerin, «die Momente von gestern kommen nicht mehr zurück. Aber wir haben einen Schatz daraus gemacht.» Die Nachricht ist so simpel wie verführerisch: Vergiss deine Sorgen, lebe das Hier und Heute – und hör auf zu denken. Kann man Menschen dafür verachten, wenn sie sich für einmal von einem süssen Traum leiten lassen? Wenn sie sich, nachdem die Illusion geplatzt ist, selber belügen und den Traum weiter spinnen, weil sie den Gedanken nicht ertragen, dass alles nur ein Betrug war?
Hochstapler sind Spezialisten für verdrängte und verleugnete menschliche Schwächen. Die Geschichten von intelligenten Menschen, die auf (im Rückblick plumpe) Räuberpistolen hereinfallen, faszinieren. Sie wiegen einen in der wohligen Gewissheit, selber gegen derartige Dummheiten gefeit zu sein. Hochstapler inszenieren die verrücktesten Intrigen. Doch es ist wie bei allem Zauber: Wenn man die Tricks dahinter kennt, fällt die ganze Faszination dahin, öffnet sich hinter der bunten Kulisse trostlose Leere. Und Elend.
Vom 9. bis zum 22. Juli 2007 weilt die deutsche Milliardärin Susanne Klatten im Hotel «Lanserhof». Sgarbi checkt am 12. Juli ein. Ins Gespräch kommen die beiden mutmasslich erst am 19. Juli. Weiss er, wer sie ist? Gut möglich. Der Gigolo spricht sie umgehend an auf sein angebliches Lieblingsbuch («Der Alchimist», von Paulo Coelho), das zufälligerweise auch zu ihren Favoriten gehört. Er fabuliert von einer Reise zum Katharinen-Kloster im Sinai, von der seltsamerweise auch sie schon immer geträumt hat. Damals glaubte sie an eine Seelenverwandtschaft. Heute hegt Klatten den Verdacht, dass ein Bekannter ihre Sehnsüchte dem Hochstapler verraten hatte.
Die beiden unternehmen mehrere Bergwanderungen. Sgarbi hält sich vornehm zurück. Er stellte sich vor als «Sonderberater der Schweizer Regierung» und ist angeblich mit hochgeheimen Missionen für den Frieden betraut. Das Thema fasziniert die engagierte Frau. «Er war charmant, aufmerksam», gibt sie später zu Protokoll, «zudem wirkte er sehr traurig. Das weckte ein Gefühl bei mir, dass wir etwas gemeinsam haben.» Zum Abschied gibt sie ihm ihre Visitenkarte.
Das nächste Treffen findet vier Wochen später statt, Mitte August, im Münchner Hotel «Holiday Inn». Jetzt geht es schnell zur Sache. Der Mann hat Leidenschaften in ihr geweckt, welche die als gewissenhaft geltende Managerin und Mutter Susanne Klatten lange vernachlässigt hat. Das weitverbreitete Klischee der überheblichen, in Saus und Braus lebenden Jetsetterin geht völlig an Klatten vorbei. In ihrer Geschichte findet sich wenig Glamouröses, und schon gar nichts Verruchtes.

Märchenhaftes Vermögen

Susanne Klatten, geborene Quandt, stammt aus einer der reichsten Familien Deutschlands. Nach dem Abitur arbeitete sie sich im Berufsleben hoch, zuerst in der Werbebranche, danach bei BMW in untergeordneter Stellung. Damit ihre Arbeitskollegen nicht merkten, dass sie die Tochter des Hauptaktionärs war, legte sie sich ein Pseudonym zu.

Selbst ihr späterer Ehemann wusste während Monaten nicht, wer die Frau wirklich war. Weil sie Panik davor hatte, dass man sie nur ihres märchenhaften Vermögens wegen «mögen» würde. Das ganze Leben der Frau scheint darauf ausgerichtet zu sein, Typen wie Sgarbi aus dem Weg zu gehen.
Nach seiner Verhaftung liess Ernano Barretta medial verbreiten, Sgarbis Aktion sei ein Racheakt für dessen Grossvater gewesen, der als jüdischer Zwangsarbeiter in den Fabriken von Klattens Vorfahren gelitten habe. Die Version, die das Opfer zur Täterin machen sollte, baut auf einem Mix von Lügen und Halbwahrheiten, der typisch ist für das Vorgehen der Betrügerbande. Angefangen beim Grossvater Sgarbis: Nach Angaben der Familie mag er wohl ein Jude gewesen sein, vom Terror der Nazis sei er aber verschont geblieben.
Richtig ist, dass Susanne Klattens Grossvater, der Batterienfabrikant Günter Quandt, in die Wirtschaftspolitik der Nazis verstrickt war. Doch ihr heutiges Vermögen generierte die Familie erst Jahre nach dem Krieg, als Herbert Quandt 1959 in die damals maroden Bayrischen Motorenwerke einstieg und den Betrieb wieder auf Vordermann brachte. Richtig ist sodann, dass sich die Quandts Ende der 1990er weigerten, Geld in einen undurchsichtigen Zwangsarbeiter-Fonds einzuzahlen, der damals auf Druck des New Yorker Winkeladvokaten Ed Fagan gegründet wurde. Man kann die Weigerung auch als Charakterstärke auslegen.
Am 21. August trifft sich die verheiratete Mutter zum zweiten Mal mit Sgarbi im Zimmer 629 des «Holiday Inn». Ernano Barretta hat das Nebenzimmer angemietet und filmt die Szenen der heimlichen Leidenschaft. Möglicherweise ist er auch bei späteren Treffen als versteckter Beobachter dabei. Vielleicht ist es auch so, wie die Münchner Klatschpresse behauptet, dass Susanne Klatten mit 46 Jahren den Reiz des Unvernünftigen entdeckt und sich mit ihrem Lover in der freien Natur und im Stadtpark liebt.
Am 26. August bestellt Sgarbi die Milliardärin per SMS zu sich ins Hotel. Seine Zurückhaltung hat er mittlerweile abgelegt, der Mann redet viel, vor allem über seine Probleme. Nun tischt er auch ihr die Story vom Mafiaboss in Miami auf. Die erfahrene Geschäftsfrau misstraut ihm, weicht aus und geht vorerst auf Distanz. Doch in den folgenden Tagen macht sie sich Vorwürfe: «Ich habe einem Menschen nicht geholfen, der Hilfe braucht.» Ist es nicht genau der Vorwurf, den man ihren Vorfahren über ihr Verhalten im Dritten Reich machte – nämlich dass sie das Ungeheuerliche nicht sehen und glauben wollten?
Am 11. September übergibt die Frau Sgarbi die geforderten 7,5 Millionen Euro, in Cash und ohne Quittung, in der Tiefgarage des «Holiday Inn». Zehn Millionen forderte der Mafioso angeblich, 3 Millionen will Sgarbi angeblich aus eigener Tasche beisteuern. Nach Erkenntnissen der italienischen Polizei leitet der Schweizer die Beute umgehend an Barretta weiter. Dieser jubelte, wie aus den Abhörprotokollen hervorgeht, noch ein halbes Jahr später: «Ich hatte das Geld in der Hand. Was für ein Gewicht. Es ist mindestens ein Kubikmeter Geld!»
Die Affäre dauert keine zehn Wochen. Am 9. Oktober 2007 will Klatten einen Schlussstrich ziehen: «Ich habe gemerkt, dass er nicht der Mann ist, den er vorgab zu sein.» Gemäss Focus ist mittlerweile auch ihr Gatte misstrauisch geworden, wegen ihrer Handy-Rechnung. Doch so einfach ist Sgarbi nicht loszukriegen. Zuerst schickt er ihr «sanfte» Erinnerungsbriefe nach Hause: «Weisst Du noch, Liebste, als wir uns nach Deinem Urlaub in einem Hotelzimmer in München Nord am helllichten Tag trafen?» Anfang November folgt das erste knallharte Erpresserschreiben. Der Betrüger fordert 49 Millionen Euro Schweigegeld. Dem Brief liegt eine CD bei mit Standbildern des heimlich aufgenommenen Sexvideos.
Im Dezember, nach dem Eingang des nächsten Erpresserbriefs, schaltet Klatten einen Anwalt ein. Diesmal lässt sich Sgarbi nicht beeindrucken. Ist es der famose «letzte Coup», mit dem er seine Existenz für immer sanieren will? Um sich danach vielleicht auf eine Insel im Nordosten Brasiliens abzusetzen und ein neues Leben anzufangen? Einiges deutet darauf hin. So unvorsichtig und dreist war Sgarbi bislang noch nie vorgegangen. Unmittelbar vor der geplanten Übergabe reisst er seine Zelte in der Schweiz ab. Auch das ist neu.
Kurz vor Weihnachten 2007 schickt der Erpresser sein letztes Ultimatum nach München: «Du wolltest Deine schmutzige Wäsche zwischen Dir und mir waschen – schade, ich habe im Gegensatz zu Dir nichts zu verlieren.» Sgarbi ist bereit, seine Forderung auf «2 · seven up» (14 Millionen) zu reduzieren, als letztes Angebot. Die Übergabe soll am 15. Januar 2008 statt finden, in Österreich, auf neutralem Boden. Der Brief ist unterzeichnet mit «Dein sanfter Krieger». Susanne Klatten geht zum Schein auf das Angebot ein. Und schaltet die Polizei ein. Die 14 Millionen wären für sie ein Schnäppchen gewesen. Doch auch im Leben einer Milliardärin gibt es bisweilen Dinge, die wichtiger sind als Geld.
Anmerkung: Sektenführer Ernano Barretta meldete sich letzte Woche erstmals aus dem Gefängnis mit einem Brief an die Öffentlichkeit: «Ich hoffe, dass ich mit Gottes Hilfe beweisen kann, dass ich mit allem nichts zu tun habe.» Auch Sgarbi liess sich erstmals vernehmen und beklagt sich im Namen der «sogenannten Opfer», dass es zu einer «öffentlichen Debatte» gekommen sei, die «für das Gerichtsverfahren schädlich» sei.