Der Schweizer Protestantismus feiert in diesen Wochen den Berner Pfarrer, Schriftsteller und helvetischen Sozialisten Kurt Marti, der am 31. Januar 1921 geboren wurde. Marti zählt mit Friedrich Dürrenmatt und Max Frisch zu den Grossen der Schweizer Literatur des 20. Jahrhunderts. Das bedeutet: Er eckte an, theologisch, politisch und poetisch. Der Deutschlandfunk sprach wenige Monate nach seinem Tod am 11. Februar 2017 von einem «Querdenker, der viele genervt hat». Am bekanntesten sind Kurt Martis Gedichte. Auch seine kurzen Texte verdienen Beachtung. Einer davon stammt aus dem Jahr 1976 und trägt den Titel «Für eine Welt ohne Angst». Er beginnt mit einem Vers aus dem Johannes-Evangelium: «Und das Wort ward Fleisch und wohnte unter uns, und wir schauten seine Herrlichkeit, eine Herrlichkeit, wie sie der einzige Sohn von seinem Vater hat, voll Gnade und Wahrheit» (Joh 1, 14).
Marti bemerkt, dass dieses Wort oft im Zusammenhang mit Weihnachten zitiert wird, obwohl es sich eigentlich auf den erwachsenen Jesus bezieht, auf den Mann aus Galiläa, eine umstrittene Figur des öffentlichen Lebens, der schliesslich in Jerusalem vor Gericht gestellt, zum Tode verurteilt und hingerichtet wurde. Marti berichtet, er habe lange nachgedacht, wie man die Person Jesu in einem Satz fassen könnte. Schliesslich sei ihm diese Formulierung in den Sinn gekommen: «Jesus hat gelebt und gewirkt für eine Welt ohne Angst.»
Gibt es eine schönere Formulierung für unsere heutige Zeit? Weltweit befinden sich Menschen seit einem Jahr in einem Zustand von Angst und Verunsicherung. Täglich müssen wir mit einer aufpeitschend-alarmierenden Medienberichterstattung und mit der Last weitreichender Restriktionen fertig werden. Als Beruhigungspille wurde von Beginn an die Impfung angeboten und mit geradezu messianischen Erwartungen überfrachtet. Zu welch merkwürdigen Blüten dies führt, konnte man vor kurzem in einer Basler Kirchenzeitung lesen: «Gemeinsam mit allen Gutwilligen und moderat Denkenden warten und hoffen wir auf das Licht am Ende des Tunnels, das aufgeschienen ist um die Weihnachtszeit: Für die Herzen ist dies die Geburt des Heilands; für die Körper die kommenden Impfmöglichkeiten.»
Damit wird die Bedeutung der Person Jesu mit der Hoffnung auf eine Welt ohne Angst dem «Herzen», also dem inneren Menschen, zugeordnet – der körperliche Rest, virusanfällig und sterblich, wird der Medizin überlassen. Mit dieser Zweiteilung kommen Religion und Medizin einander nicht ins Gehege. Doch was wird dann aus der neuen Welt, für die Jesus gelebt und gewirkt hat? Ist sie eine Gemeinschaft nur für die «Herzen»? Aber unsere Herzen sind ohne unsere Körper weder vorstellbar noch lebensfähig. Das Wort des Evangeliums (die «gute Nachricht») gilt für Seele und Leib. Es ermutigt uns: Fürchtet euch nicht! Übertragen in die heutige Zeit: Begegnet allen Menschen mit Offenheit, betrachtet sie als Geschöpfe Gottes und nicht als «Gefährder» oder «Gefährdete». (Welches Menschenbild steht hinter solchen Begriffen?) Ignoriert kurzlebige Prognosen und richtet eure Hoffnung auf eine Welt ohne Angst, die alle Menschen umfasst, ob mit oder ohne Impfung – Gott sei Dank!
Matthias Gockel, Ph. D., ist wissenschaftlicher Mitarbeiter in einem Projekt des Schweizerischen Nationalfonds an der Theologischen Fakultät der Universität Basel.