Von allen schottischen Erfindungen ist diese wahrscheinlich die erstaunlichste: Comics. Im Jahr 1825 wurde «The Glasgow Looking Glass» veröffentlicht – eine illustrierte Satire auf die Tagespolitik. Das Magazin war ein erstes Beispiel für grafischen Journalismus, ein Genre, das im Laufe des 19. Jahrhunderts immer beliebter wurde.

Rasch wurde Schottland zu einer Hochburg für Comic-Helden. Und ist es bis heute geblieben. So findet das Finale des jüngsten «Batman»-Films auf der düsteren Nekropolis von Glasgow statt. Robert Pattinson und Zoë Kravitz fetzen auf ihren Batcycles durch die gotische Gräberstadt, bevor sie im nächtlichen Nebel entschwinden. «Glasgow ist ein ganz besonderes Gotham für Batman», konstatierte die BBC begeistert.

Doch das neue Gotham endet nicht an den Grenzen von Glasgow. Die schottischen Zeichenkünstler tragen ihre Geschichten in die Welt hinaus. Allen voran ein Mann: Mark Millar. Er hat der Comic-Industrie in den letzten zwanzig Jahren weltweit zu einem neuen Boom verholfen. Millar hauchte den alten Marvel-Superhelden neues Leben ein, gründete sein eigenes Imperium, Millarworld, das so erfolgreich wurde, dass Netflix – in seiner ersten Akquisition überhaupt – die Firma 2017 aufkaufte.

Wir treffen den schottischen Comic-Magier bei einer Magnumflasche Clos des Papes und gehen dem Geheimnis seiner atemberaubenden Erfolgsgeschichte auf den Grund.

Weltwoche: Schottland blickt auf eine actionreiche Comic-Tradition zurück – vom ersten Comic «The Glasgow Looking Glass» bis zum Finale des neusten «Batman»-Films auf der Glasgower Metropolis spannen sich zwei Jahrhunderte. Mark Millar, warum ist ausgerechnet Schottland ein Hotspot für Comics?

Mark Millar: Das hat mit der ausgeprägt keltischen Tradition des Geschichtenerzählens zu tun. Es gibt unverhältnismässig mehr Autoren in Schottland und Irland als irgendwo sonst. Die grosse Tradition des Erzählens reicht weit vor die schriftlich abgefassten Geschichten zurück, Volksmärchen zum Beispiel haben eine uralte Vergangenheit. Ausserdem gab es in Schottland sehr einflussreiche Verlagshäuser. Es gibt einen Verlag namens DC Thomson in Dundee, gegründet 1905. Es wird gemunkelt, dass die Besitzer die Sunday Times bezahlen, damit sie nicht auf der Liste der reichsten Briten erscheinen, denn sie wollen nicht, dass die Leute wissen, wie wohlhabend sie sind. Sie haben ein Verlagsimperium aufgebaut, das neben vielen anderen Zeitschriften bereits sehr früh auch Comics für Kleinkinder, Jungen und Mädchen herausgebracht hat. Es gab Kriegs-Comics, Science-Fiction-Comics, Humor-Comics und alles Mögliche, und sie wurden im ganzen Königreich verkauft.

«Die Tradition des Erzählens reicht weit zurück, Volksmärchen haben eine uralte Vergangenheit.»Weltwoche: Comics waren also ein Exportschlager?

Millar: Im Vereinigten Königreich wurden zu Spitzenzeiten jede Woche 200 000 Exemplare Comics verkauft. Die meisten dieser Comics wurden in Dundee hergestellt. Das Geschäft florierte, und an jeder Strassenecke gab es Zeitungshändler. In Amerika, in einem Land mit 300 Millionen Einwohnern, wurden weniger Comics verkauft als in Grossbritannien. Die meisten wurden in Schottland produziert.

Weltwoche: Schottland hat Figuren und Traditionen von beinahe kosmischem Ausmass. William Wallace, der legendäre «Braveheart», zum Beispiel, oder John Knox, der rigide Reformator. Dann gibt es den seltsam aussehenden und klingenden Dudelsack und alle möglichen verrückten Sportarten wie das Baumstammwerfen. Hat die Fülle an schottischer Skurrilität die Comic-Industrie beflügelt?

Millar: Ja, auf jeden Fall. Ich merke erst, wenn ich um die Welt reise, wie ungewöhnlich die Menschen sind, mit denen ich aufgewachsen bin. Alle meine Freunde in Schottland sind echte Charaktere. Da ist zum Beispiel der Mann, mit dem meine Schwester ein Date hatte. Er hatte bloss einen Arm und war lange im Gefängnis gesessen. Ich fragte: «Warum war er im Gefängnis?» Sie sagte: «Oh, weil er jemanden umgebracht hat.» Ich fragte: «Warum hast du dich mit diesem Typen verabredet, wenn er ein Mörder ist?» Sie sagte: «Er ist kein Mörder. Er hat nur einen Menschen getötet.» Ich sagte: «Nun, das macht ihn vielleicht nicht zu einem Serienmörder, aber er ist trotzdem ein Mörder.» Diese Art von Gesprächen gibt es in England nicht. In Schottland sind sie normal.

Weltwoche: Wie hat die schottische Gesellschaft Sie als Künstler geprägt?

Millar: Sie hat mir Furchtlosigkeit eingeimpft. Meine Freunde in Hollywood sind immer besorgt. Sie haben sehr gut bezahlte Jobs, ein schönes Leben, ihre Kinder gehen auf die besten Schulen und so weiter. Aber sie haben Angst, alles zu verlieren. Sie treffen nie mutige Entscheidungen. Die meisten meiner Freunde in Schottland dagegen haben überhaupt kein Geld. Sie leben nach dem Motto: «Fürchte dich nicht». Wir haben nie Angst, alles zu verlieren, wir denken einfach: «Das wird lustig. Ich werde es ausprobieren.»

Weltwoche: Welches war das erste Comic, das Sie in die Hand bekommen haben?

Millar: «The Amazing Spider-Man, #121».

Weltwoche: Diese schreckliche Geschichte, in der Spider-Mans Freundin stirbt? Wie haben Sie das Heft gekriegt?

Millar: Von meinem Bruder. Er ist vierzehn Jahre älter als ich. Er war an der Universität und ein Riesenfan, aber genierte sich dafür. Also sagte er, er kaufe die Hefte für seinen kleinen Bruder. Er hat sie verschlungen und sie dann mir weitergereicht. Ich erinnere mich, wie ich meine erste Ausgabe las, in der Spider-Man seiner Freundin versehentlich das Genick bricht. Sie fällt von einer Brücke, und er versucht vergeblich, sie aufzufangen. Ich dachte nur: «Oh, mein Gott.»

Weltwoche: Wie alt waren Sie?

Millar: Sechs. Die Geschichte war verrückt. Der Green Goblin wird von Spider-Man versehentlich aufgespiesst und getötet, und dann geht Spider-Man nach Hause und findet seinen besten Freund auf LSD. (Lacht) Ich dachte: «Das ist das Beste, was ich je in meinem Leben gelesen habe.» Denn vorher hatte ich bloss Sachen wie «Bugs Bunny» und «Tom and Jerry» gekannt.

Weltwoche: Es gibt das Gerücht, dass Sie von Spider-Man so fasziniert waren, dass Sie sich kurz vor Ihrer Kommunion ein Spinnennetz aufs Gesicht malten.

Millar: Das stimmt zu 100 Prozent. Es war sieben Tage vor meiner ersten heiligen Kommunion, als ich mit meinen Freunden spielen ging. Wir spielten Soldaten und Superhelden, und ich nahm einen dicken, schwarzen Filzstift und malte mir Spider-Mans Netz ins Gesicht. Ich zog mir Handschuhe an und rief: «Ich bin Spider-Man!» Zu Hause fragte mich meine Mutter entsetzt: «Was zum Teufel hast du getan?» Ich weiss noch, wie sie zur alten Bürste griff und versuchte, mich sauber zu schrubben, aber sie schaffte es nicht. Auf dem Kommunionsfoto sieht man mich mit perfekt sitzender Schuluniform und einem Spider-Man-Netz quer über das Gesicht. (Lacht)

Weltwoche: Was hat Sie an den Superhelden so fasziniert?

Millar: Als ich ein kleines Kind war und meinen ersten Superhelden sah, wusste ich, dass ich mein Leben lang etwas damit zu tun haben würde. Es war so, wie sich ein junger Gläubiger zur Priesterkarriere berufen fühlt. Ich kaufte einen Umhang von Christopher Reeve und hängte ihn in meinem Haus auf. Für mich war das Superman-Cape das, was für gläubige Katholiken das Turiner Grabtuch ist, eine Reliquie.

«Auf dem Kommunionsfoto sieht man mich mit einem Spider-Man-Netz über dem Gesicht.»

Weltwoche: Sie haben beide Eltern verloren und waren als Teenager bereits Vollwaise. Sigmund Freud würde sagen, dieser Junge flüchtete sich in die Comic-Welt und suchte Halt bei den Superhelden.

Millar: Nein. Ich habe mich schon zehn Jahre vor ihrem Tod mit Comics beschäftigt. Vielleicht war es eine Flucht vor dem Leben der Arbeiterklasse in Schottland. Es war alles andere als glamourös. Superhelden boomen in schwierigen Zeiten, das ist mir schon immer aufgefallen. Superman wurde 1938 während der amerikanischen Depression erfunden. Die Marvel-Helden waren während des Kalten Krieges sehr beliebt. Finanzkrisen und Kriege machen Superhelden gross. Der Grund, warum sie in den letzten zwei Jahrzehnten im Kino so gut liefen, hat mit einer Kombination aus ewigem Krieg und scheinbar endlosen Finanzkrisen zu tun. Die Leute brauchen diese kleine Fluchtmöglichkeit.

Weltwoche: Während der 1990er Jahre gab es jedoch eine Zeit, in der sich kaum jemand mehr für Superhelden interessierte. Den einst mächtigen Comic-Häusern ging das Geld aus. Dann kamen Sie und brachten frisches Blut in die Branche. Wie haben Sie das geschafft?

Millar: Ich hatte Glück, was das Timing anging. Die Verkaufszahlen von Marvel waren eingebrochen, sie waren kurz vor dem Konkurs. Ich weiss noch, wie ich im Marvel-Büro vorsprach und fragte: «Könnte ich bitte einen Kaffee bekommen?» Sie sagten: «Hier gibt’s keinen Kaffee. Wir haben die Kaffeemaschine verkauft.»

«Ich habe alle alten Helden neu kalibriert. Mir gefiel die Idee, sie zu politisieren.»Weltwoche: Marvel habe sogar die Bürotüren verkauft, habe ich gehört.

Millar: Ja, ja. (Lacht) Sie hatten diese tollen Türen mit Spider-Man-Netzen drauf, und die haben sie für 500 Dollar auf Ebay verkauft. Sie hatten kein Geld. Ich war damals noch ein recht unerfahrener Autor. Aber ich hatte dieses eine Buch mit dem Titel «The Authority» geschrieben. Es war ein Buch, genau so, wie ich es gerne lesen würde. Skandalös und extrem brutal. Ein Superheld war drogensüchtig, es gab zwei schwule Superhelden, was damals noch ungewöhnlich war. Niemand hatte so etwas vor mir gemacht. Doch die Verkaufszahlen gingen durch die Decke. Als es mit allem anderen bergab ging, ging es mit mir aufwärts.

Weltwoche: «The Authority» wurde so populär, dass Marvel auf Sie aufmerksam wurde.

Millar: Sie sagten zu mir: «Sie scheinen ein interessanter Autor zu sein, und Sie sind billig genug. Wir lassen Sie alles machen, was Sie wollen, denn wir wollen die Marke Marvel neu erfinden.» Ich fragte: «Ihr lasst mich alles machen?» Sie sagten: «Ja.» Ich habe die meisten Figuren neu erfunden und ins 21. Jahrhundert gebracht.

Weltwoche: Sie hatten also maximale Freiheiten bei Marvel?

Millar: Buchstäblich keine einzige Einschränkung. Sie gaben mir «X-Men», die sich schlecht verkauften. Ich legte Hand an, und sie kamen direkt auf Platz eins. Also vertrauten sie mir und sagten: «Könntest du jetzt all unsere anderen Figuren machen?» Sie gaben mir Captain America, Thor, Iron Man, Hulk und all diese Figuren.

Weltwoche: Sie haben die alten Helden wieder zum Leben erweckt.

Millar: Ich habe sie alle neu kalibriert. Ich dachte einfach, die sind in den 1960er Jahren stehengeblieben, bringen wir sie in das Jahr 2001, in die Zeit nach den Terroranschlägen vom 11. September. Mir gefiel die Idee, sie zu politisieren. George W. Bush war zu dieser Zeit amerikanischer Präsident, und er war eine interessante Figur, weil er so umstritten war. Amerika war plötzlich ein ganz anderer Ort. Wir nannten die Serie «The Ultimates». Sie beginnt direkt nach den Anschlägen. Die US-Regierung sagt: «Seht mal, ihr Superhelden habt die Macht, für uns in den Irak zu gehen. Wir brauchen keine Soldaten zu schicken. Wir können Iron Man schicken, wir können Captain America schicken. Captain America hat im Zweiten Weltkrieg gekämpft, warum kämpft ihr nicht in diesem Krieg für uns?» So entstanden plötzlich ganz moderne, andere Geschichten.

Weltwoche: Was damals niemandem klar war: Mit Ihrer Serie «The Ultimates» haben Sie die Blaupause für Marvels Filmuniversum geschrieben. «The Ultimates» war die Hauptinspiration für den «Avengers»-Film von 2012 und wurde von Time zum «Comic Book of the Decade» gekürt. Was an Ihren Figuren fasziniert: Sie sind nicht nur Superhelden, sie sind auch supermenschlich.

Millar: Ja. Das unterscheidet Marvel von DC Comics. Die Helden von DC Comics wie Superman, Batman, Wonder Woman sind gottgleich. Superman ist makellos, und Wonder Woman ist einfach die perfekte Aphrodite. Die Figuren von Marvel hingegen sind komplett anders, sie sind unvollkommen. Das hat mich fasziniert. Ich habe mir angesehen, was der legendäre Marvel-Schöpfer Stan Lee 1961 gemacht hat. Er hat Spider-Man zu einem Typen von nebenan gemacht. Er war nur ein Junge in der Schule, ein Teenager. Thor hatte eine Behinderung und eine geheime Identität. Jede der Figuren war sehr menschlich. Tony Stark (Iron Man) war ein Waffenhändler. Stan Lee hat alle sehr dreidimensional und komplex entworfen. Ich habe das einfach für die moderne Welt adaptiert. Ich verlieh ihnen diese erwachsenere Dimension ihrer Persönlichkeiten.

Weltwoche: Stan Lee war der wichtigste kreative Kopf von Marvel. Er führte das Unternehmen von einer kleinen Verlagsabteilung zu einem Multimediakonzern, der die Comic- und Filmindustrie dominierte. Im Jahr 2003 haben Sie ihn zu einem Interview getroffen. Und dieses Treffen erwies sich als Segen für Ihre Karriere.

Millar: Ich schrieb damals vier der fünf bestverkauften Comics, und ich dachte, Stan wäre wirklich von mir beeindruckt. Nun, er war es nicht. Er sagte: «Du bist verrückt.» Ich fragte: «Warum?» Er sagte: «Du solltest deine eigenen Figuren entwerfen. Ich glaube, du wärst gut darin.»

Weltwoche: Und Sie haben seinen Rat befolgt.

Millar: Wenn Stan Lee dir sagt, du sollest etwas tun, dann ist das ein bisschen so, wie wenn Moses vom brennenden Dornbusch einen Auftrag bekommt. Am nächsten Tag kaufte ich mir einen Block, setzte mich in den Zug und schrieb die Idee für «Wanted» auf.

Weltwoche: Und ein paar Monate später hatten Sie einen Vertrag für einen Film mit Universal, mit Angelina Jolie und Morgan Freeman in den Hauptrollen.

Millar: Ja, alles passierte ganz schnell. Stan hatte recht.

Weltwoche: Sie gründeten ihre eigene Firma – Millarworld. Ihre Geschichten wurden mit Topbesetzungen verfilmt. Samuel L. Jackson, Michael Caine, Hugh Jackman, Colin Firth, Robert Downey Jr., Scarlett Johansson und viele mehr spielten Ihre Helden. Kommen die Schauspieler manchmal zu Ihnen, um sich beraten zu lassen?

Millar: O ja. Die Schauspieler tun das sehr gerne. Ich liebe es, mich mit ihnen auszutauschen. Für mich sind meine Figuren sehr real. Ich weiss, was sie zu Abend essen, welche Fernsehsendungen sie sich ansehen.

Weltwoche: Welche Begegnung mit einem Filmstar ist Ihnen besonders in Erinnerung geblieben?

Millar: Jene mit Nicolas Cage, der in «Kick-Ass» spielte. Er ist der beeindruckendste Schauspieler, den ich je gesehen habe. Was mich bei Cage verblüfft: Er macht bei jedem Take etwas anderes, auch wenn die Szene zehnmal wiederholt wird. Er bringt jedes Mal etwas Neues und Brillantes in die Szene. Man begreift, warum er einen Oscar gewonnen hat.

Weltwoche: Sie hatten mit Millarworld einen riesigen Erfolg, dann verkauften Sie die Firma 2017 an Netflix. Ich glaube, das war die erste Akquisition von Netflix in zwanzig Jahren.

Millar: Wir waren die erste Firma, die sie gekauft haben, ja.

Weltwoche: Das scheint ein Beweis dafür zu sein, dass Comics noch lange florieren werden.

Millar: So wie Romane immer verfilmt werden, werden auch Comics immer verfilmt werden. Ich habe gehört, dass die Leute der Superhelden überdrüssig geworden sind. Ich schätze, dass es vielleicht noch zehn Jahre Superheldenfilme geben wird. Aber es gibt andere Arten von Comics, die verfilmt werden. Wie zum Beispiel «American Jesus», der Film, den wir gerade produziert haben. Es ist ein biblischer Comic und völlig anders als alles, was man bisher in einem Comic gesehen hat. Comic hat ausserdem eine grosse Zukunft als Form des Geschichtenerzählens in Hollywood. Die Studios können sich einen Comic anschauen und sehen, wie der Film aussehen wird. Comics mit ihren Zeichnungen und Erklärungen sehen aus wie ein Storyboard. Ein Regisseur hat sofort den Überblick und weiss: «O ja, das wird funktionieren.»