Bereits nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges vertraten Generalstabsoffiziere der Wehrmacht oder Zeitzeugen aus Kreisen der Diplomatie die Meinung, es habe im Dritten Reich nie ernsthafte Pläne zur militärischen Besetzung der Schweiz gegeben. So kommt Ernst von Weizsäcker, Staatssekretär im Auswärtigen Amt von 1938 bis 1943, in seinen 1950 publizierten «Erinnerungen» zum Schluss: «Meine nachträglich angestellten Nachforschungen besagen, dass es sich um Schreckschüsse, aber nicht um Realitäten gehandelt hat.»

Ein Hauptzeuge für die harmlose Version ist der 1972 verstorbene Generaloberst Franz Halder, Chef des Generalstabs des Heeres von September 1938 bis September 1942. Er hat auf ­Ersuchen von Franz Riedweg, dem Luzerner Arzt, der in der Waffen-SS Karriere gemacht hatte, für dessen persönliche Zwecke am 29. 8. 1960 folgende Erklärung abgegeben: «An Eidesstatt erkläre ich, dass während meiner Amtsführung als Chef des Generalstabes des deutschen Heeres 1939–42 von Seiten der deutschen Heeresführung zu keinem Zeitpunkt eine militärische Aktion gegen die Schweiz geplant oder vorbereitet wurde.»

Hitlers Auftrag

Halder hat die Planungen zur «Operation Tannenbaum» aus seinen Erinnerungen völlig verdrängt, obwohl seine Beteiligung aktenkundig ist. So beauftragte er am 26. August 1940 den Chef der Heeresgruppe C, Generalfeldmarschall Ritter von Leeb, mit der Ausarbeitung eines neuen Operationsplans gegen die Schweiz. Im Gegensatz zu Schlussfolgerungen in früheren Entwürfen sollte dieses Mal davon ausgegangen werden, dass sich die Schweiz einem Einmarsch mit allen Kräften widersetzen würde.

Vom Schweizer Militärhistoriker Hans-Rudolf Kurz 1969 um eine Erläuterung gebeten, antwortete Halder, die Untersuchung sei dazu bestimmt ­gewesen, «im gegebenen Fall auf Hitler abschreckend zu wirken».

Wie ist es möglich, so wäre zu hinterfragen, dass Halder nun doch an der Ausarbeitung von Angriffsplänen beteiligt gewesen war, obwohl er eidesstattlich versichert hatte, dass es gar keine diesbezüglichen Vorbereitungen gegeben habe? Eine kritische Verifizierung erfordert auch ein weiterer ­Widerspruch: Weshalb sollte Halder beim Feldmarschall eine Operationsstudie anfordern, mit der er Hitler im Fall der Fälle von einem Angriff auf die Schweiz abhalten ­wollte, wenn für diese gar keine Gefahr bestand? Und mehr noch: Der gleiche Halder, der ­Hitler mit einem überzogenen Kräfte­bedarf von mindestens 21 Divisionen von einer Besetzung der Schweiz abschrecken ­wollte, reduzierte am 17. Oktober 1940 deren Anzahl ­wieder auf elf.

Dass ihn sein Gedächtnis täuschen konnte, ergab sich auch aus unserer kleinen Korre­spondenz von 1970. Dem hochbetagten General­obersten, der sich dem Widerstand zugehörig verstand, waren die Fragen aus der Schweiz bei aller freundlichen Höflichkeit wohl eher peinlich. Bei einer ersten telefonischen Kontaktnahme zeigte er sich darüber empört, dass ihn Hans-Rudolf Kurz mit derartigen Überfallplanungen in Verbindung gebracht hatte. Dabei hatte dieser ihm doch schon 1957 konzediert, die Entwürfe zur «Operation Tannenbaum» seien «nicht über das Stadium interner ­Operationsstudien hinausgelangt».

Kurz war wegweisend für die Einschätzung, bei den deutschen Studien und Plänen zur Besetzung der Schweiz habe es sich um Aktivitäten unter­beschäftigter Stäbe, um ­Sand­kastenspiele und Schub­ladenentwürfe ohne jeden Reali­tätsbezug gehandelt. Sie fand bis in die 1980er Jahre in der Schweiz ­gutgläubige Aufnahme.

Hanspeter Borns Darstellung übergeht ­Widersprüchlichkeiten nicht, kommt aber mit Bezug auf Halder zum Schluss: «Auf das, was er nach dem Krieg zur Schweiz sagte oder schrieb, darf man sich verlassen.» Niemals auch «nur einen Funken einer praktischen Planung oder einer praktischen Vorbereitung» habe es gegeben – selbst eine derart ­radikale Form der Negierung in der rechts­extremistischen Deutschen Soldaten- und National-Zeitung erschüttert Borns Vertrauen in seinen Kronzeugen nicht.

Dass die Realitäten komplexer sind, zeigte sich für mich bei den bis in die Gegenwart fortgeführten Recherchen zu Hitlers Absichten bezüglich der Schweiz. Deren Zukunft war seit Juni 1940 düster überschattet. Die überhastete Ausarbeitung des ersten Operationsplans war von Hitler am 23. Juni 1940 durch Dispositionen initiiert worden, die eine Besetzung der Schweiz in den Bereich des Möglichen rückten. Belegt wird dies durch Halders Eintrag in seinem Kriegstagebuch.

Hitlers Auftrag traf den Generalstab des Heeres, der eine solche Möglichkeit nicht vorausgesehen hatte, völlig unvorbereitet. Wie selbst ein blosser «Schubladenentwurf» plötzlich bedrohliche Aktualität hätte erlangen können, veranschaulicht dieses Versäumnis. Da aber nicht einmal eine Operationsskizze zur Besetzung der Schweiz greifbar war, erhielt der Generalstabsoffizier Otto Wilhelm von Menges am folgenden Vormittag den ­Eilauftrag, einen entsprechenden Angriffsplan zu entwerfen. Die Arbeiten hierzu ­wurden noch in der Nacht vom 24./25 Juni, als der deutsch-französische Waffenstillstand in Kraft trat, intensiv vorangetrieben.

Bereitstellung der 12. Armee

Auf Hitlers Weisung vom 23. Juni, die «Auf­gaben der 12. Armee gedanklich vorzubereiten», folgten weitere Massnahmen. Die 12. Armee wurde unter dem Kommando von Wilhelm List – alsbald einer von Hitlers ­Generalfeldmarschällen – in den Vorraum zur Schweizer Westgrenze herangeführt. Ver­stärkung erhielt sie durch eine zweite Gebirgsdivision und weitere Einheiten, deren Kommandeure Hitler über die «gedankliche Vorbereitung» hinaus bereits namentlich bezeichnet hatte. Bis Mitte Juli stand ein Kampfverband mit erheblichem Offensivpotenzial für die «Sonderaufgabe» auf Abruf bereit. Die Verschiebung dieser Truppen und die Versorgung der 12. Armee mit einer Verpflegungsstärke von schliesslich bis zu 245 000 Mann waren mit logistischen Anforderungen verbunden, die sich nur in der Realität und nicht am Sandkasten erfüllen liessen.

Hanspeter Born fasst den Grund für das Ausbleiben des Angriffsbefehls verkürzt zusammen: «Da der Waffenstillstand hielt, erübrigte sich ein Angriff auf die Schweiz.» Diese Verknüpfung ergibt sich durch die dritte der in von Menges’ Entwurf genannten Zielsetzungen: «Gewinnung der wichtigsten Eisenbahn- und Strassenknotenpunkte sowie der zahlreichen Brücken in unbeschädigtem Zustand, um das Land baldigst als Durchgangsgebiet nach Südfrankreich für alle Transporte nutzbar zu machen.»

Absolute Gewissheit, dass der Waffen­stillstand auch halten werde, gab es nicht. Ob Hitlers Kalkül längerfristig aufgehen würde, Frankreich eine unbesetzte Zone unter der Bedingung zu belassen, dass sich die französischen Kolonien in Nordafrika nicht de Gaulle und England zuwendeten, blieb offen. Eine Folge dieser Verunsicherung war, dass von Menges drei Monate später auch mit Planungen zum Einmarsch in das unbesetzte Frankreich beauftragt wurde.

Im Zusammenhang mit der weiteren Kriegsführung (Unternehmen «Seelöwe», Invasion Englands) kam es auch im erweiterten Grenzraum zur Schweiz alsbald zu diversen Truppenverschiebungen. Solange erneut gegen die Schweiz gerichtete Angriffspläne mit dem Auftrag erstellt wurden, frühere Dispositionen an die noch verfügbaren Kräfte anzupassen, gegebenenfalls auch einen Rücktransport für abgezogene Einheiten vorzusehen und die Angriffsbereitschaft sieben Tage nach Befehls­ausgabe wiederherzustellen, blieb die ­«Sonderaufgabe» Schweiz eine beunruhigende Option.

Der Generalstab des Heeres war dafür besorgt, dass diese Möglichkeit Hitler weiterhin zur Verfügung stand. Darin lag die Bedeutung und Gefährlichkeit dieser Alternativplanungen, die im Kontext einer zeitlich vor­gezogenen definitiven Neuordnung der Herrschaftsverhältnisse in Kontinentaleuropa zu beurteilen sind. Sie erfolgten auf einem Be­drohungslevel, der durch die enge Verflechtung von operativen Planungen mit Vorar­beiten zur Bereitstellung der benötigten Kräfte ganz wesentlich erhöht worden war. Am 11. November 1940 erklärte das Oberkommando des Heeres (OKH), die «Operation Tannenbaum» sei nicht mehr aktuell, was impliziert, dass sie es einmal gewesen war.

Der «Führererlass» vom 11. Januar 1940 regelte grundsätzlich die strikte Einhaltung der Geheimhaltung. Keine Dienststelle und kein Offizier durften von einer geheim zu haltenden Sache mehr erfahren, als es für die Auftragserfüllung unbedingt notwendig war. Hitler selbst hielt sich in seinen Absichten absolut ­bedeckt, vermied jeden Alarmismus, mit der Folge, dass seine Wortwahl («gedankliche Vorbereitung», «gelegentlich») zum Teil bis in die Gegenwart für bare Münze genommen wird. Die Formulierung «Gedankliche Vorbereitungen treffen» findet sich unter anderem auch in seiner Anweisung vom 21. Juli 1940, als er in seiner Hybris das «russische Problem» noch im gleichen Jahr in Angriff nehmen wollte. So wurden von ihm Entwicklungen angestossen, die ins Leere laufen oder aber in einen weiteren Einmarsch münden konnten.

Besetzung – «eine bescheidene Aufgabe»

Der Auftrag vom 23. Juni, «Aufgaben der 12. Armee gedanklich vorbereiten», richtete sich an das OKH beziehungsweise an Halder als dessen Generalstabschef. Sein Ansehen bei Hitler ­hatte arg gelitten. Zusammen mit Walther von Brauchitsch, dem Oberbefehls­haber des Heeres, hatte er den Angriff auf Frankreich für undurchführbar erklärt. Der rasche Sieg bestätigte Hitler, dass er als ­«Oberster Befehlshaber» alles besser wusste. Mit dem Oberkommando der Wehrmacht (OKW) verfügte er über einen eigenen Arbeitsstab und ein willfähriges Planungs­instrument, das er nun auch im Fall Schweiz für seine Zwecke nutzte.

Wie er ohne Wissen des OKH und Halders zusätzlich eine ihm genehme Zweitbeurteilung veranlasste, wird von Hanspeter Born ausgeblendet. Hier fehlen ihm im Puzzle wichtige Teile. Die Schlussfolgerung, Hitler habe die Stu­dien oder Pläne zur Besetzung der Schweiz «wahrscheinlich ­überhaupt nie gesehen», weshalb diese ohne Bedeutung gewesen seien, erweist sich als zu voreilig.

Zwei gewichtige Indizien sprechen für eine gegenteilige Wahrscheinlichkeit. Um sich ein eigenes Bild zu machen, erteilte Hitler General Alfred Jodl, dem Chef des Wehrmachtführungsstabes im OKW, den Auftrag, ohne Beteiligung des OKH oder anderer Dienststellen prüfen zu lassen, «wie gegebenenfalls ein Einmarsch in die Schweiz durchgeführt werden könne». Auf Italien, das er explizit nicht einbeziehen wollte, sollte keine Rücksicht genommen werden.

Bernhard von Lossberg, der die gewünschte Operationsstudie mit einem kleinen Team ausarbeitete, schrieb 1949 in seinen Erinnerungen: «Zweifellos handelte es sich um einen Auftrag Hitlers.» Der flüchtige Entwurf verschwand, so Lossberg, «wohl nach Vortrag bei Hitler, in Jodls Schreibtisch».

Was sich bei Hitler auf höherer Ebene während einer ­Lagebesprechung abspielte, schilderte General Walter ­Warlimont, Jodls Stellvertreter, Hans Rudolf Humm und mir während unseres Tonband­interviews vom 20. Juli 1968.Hatte Jodl über die Ergebnisse der von Hitler veranlassten Prüfung Vortrag gehalten? Jedenfalls hörte Warlimont, wie «Hitler mit einer gros­sen Handbewegung meinte, dass dann ja wohl im Zuge oder nach Abschluss des Westfeldzuges die Schweiz zu besetzen doch nur eine bescheidene Aufgabe wäre. Und ich erinnere mich genau, dass dieser Ihnen sicher auch bekannte verstorbene SS-Gruppenführer Dietrich dabei war, der die sogenannte Leibstan­darte der SS führte, und Hitler in einer spöttischen, abschätzigen Weise für die militärische Stärke der Schweiz meinte: ‹Das macht mir dann der Dietrich mit meiner Leibstandarte.› So etwa hat der Ausspruch gelautet.»

Die geschilderten Vorgänge im OKW, die sich nicht exakt datieren lassen, ereigneten sich vor oder nach Inkrafttreten des Waffenstillstands. Hitlers Leibstandarte wurde gemäss Angriffsdispositiv noch Mitte August 1940 für einen Einsatz in der Schweiz vor­gesehen.

Zusammengefasst ergibt sich für mich als naheliegende, «wahrscheinliche» Konklu­sion: Hitler misstraute Halder und verfuhr mehrgleisig, wie es seinem Führungsstil entsprach. Bei Lossberg stiess er auf keine Vor­behalte. Dieser schätzte die Stärke der Schweizer Armee äusserst gering ein und rechnete nur mit «etwa 50 000 unter den Waffen stehenden Milizsoldaten, ausserdem einigen Reservejahrgängen». Im Gegensatz hierzu ging das OKH bei der Gesamtstärke von zu hohen Zahlen aus.

Indirekte Kriegsführung gegen die Schweiz

Hitler sah sich, so erlangt das Puzzle Plausibilität, nach Jodls Vortrag in seiner Meinung bestärkt, dass die Besetzung der Schweiz «eine bescheidene Aufgabe» sei, deren Lösung bei Bedarf jederzeit möglich wäre. Diese Gewissheit sowie die vom OKH offengehaltene Op­tion, das «Problem Schweiz» gegebenenfalls mit militärischer Gewalt rasch lösen zu können, genügten ihm vollauf. Mit Halder brauchte er darüber nicht zu sprechen. Die am 23. Juni angestossenen Planungen und Dispositionen zur Bereitstellung von Divisionen, die für eine Besetzung der Schweiz vorgesehen waren, liess er im Sommer 1940 aber auch nicht stoppen. Dass weitere Schritte bekanntlich ausblieben, bedeutet nicht, dass 1940 für die Schweiz ein Jahr ohne Gefahren gewesen ist.

Die Fokussierung auf militärische Aspekte verdeckt diejenigen Entwicklungen, die dann in der täglichen Realität zur existenziellen Bedrohung wurden. Diese nahmen ebenfalls im Juni 1940 ihren Anfang. Sie machen ersichtlich, dass Hitlers Interesse an der Schweiz auch nach dem Waffenstillstand bestehen blieb. An seinem prioritären Ziel hielt er fest: an der Erpressung und Ausbeutung des im Zentrum Europas übriggebliebenen Kleinstaates, um ihn den Forderungen der Achsenmächte gefügig zu machen. Sie basierte auf der vollständigen Umschliessung der Schweiz. Diese ergab sich jedoch nicht von selbst.

Erwähnt sei hier lediglich das Treffen am 18. Juni 1940 in München, während dessen Hitler mit Mussolini eine Militäraktion zur vollständigen Abschnürung der Schweiz vereinbarte. Der zu späte Vorstoss der 12. Armee aus dem Raum Lyon in Richtung Grenoble–Chambéry und der alsbald steckengebliebene Angriff der Italiener an der Alpenfront können durchaus als indirekte, gegen die Schweiz gerichtete Kriegführung verstanden werden. Als sich am 23. Juni deren Misserfolg abzeichnete, erfolgten neue Dispositionen, mit denen die Schweiz direkt in Hitlers Visier geriet. Am nächsten Tag entdeckte dieser kurz vor Inkrafttreten des Waffenstillstandes, dass in der Umschliessung eine Lücke bei Genf verblieben war, die der Schweiz letzte Verbindungen in das unbesetzte Frankreich offen liess. Was nun folgte, war ein Eklat, der den Ge­nerälen im OKW, Wilhelm Keitel und Walter Warlimont, noch nach dem Krieg in Erinnerung geblieben ist. Auch Franz Halder erhielt von dem Vorfall Kenntnis. Dabei handelte es sich nicht nur um einen Zornesausbruch, der – wie verschiedentlich vermutet – alsbald wieder verraucht war. Hitler, den schon die Fliegerzwischenfälle Anfang Juni empört hatten, sah die von ihm insgeheim verfolgte Erpressungsstrategie durch ein Versäumnis torpediert, das er und Mussolini mit ihrer mangelhaften Kommunikation allerdings selbst verursacht hatten.

Das Ringen um die Kontrolle der letzten Zufahrtswege gehört zur Fortsetzung dieses der Bedrohungsthematik gewidmeten Kapitels. Um die letzte verbliebene Eisenbahnlinie lahmzulegen, veranlasste Hitler ein Sprengstoffattentat in Hochsavoyen. Als dieses keine Wirkung zeigte, befahl er ein zweites geheimes Kommandounternehmen, mit dem das Viadukt von Lavillat bei Evires im September 1940 weitgehend zerstört wurde. Beide Anschläge verletzten die Waffenstillstandsvereinbarungen.

Hitler hat mehrfach bewiesen, dass ihm die Verhältnisse an der Grenze zwischen der Schweiz und dem unbesetzten Frankreich zunehmend vertraut wurden: zuerst die missglückte Militäraktion in Hochsavoyen, dann die von ihm entdeckte und von seinen Generälen im OKW übersehene Lücke bei Genf, in der Folge die von ihm veranlassten Sprengstoff­anschläge, aber auch 1942/43 die Erkenntnis, dass er in die Defensive geraten war und dass sich seine Erpressungsstrategie nunmehr nur mit taktisch bedingter Mässigung wirksam weiterführen liess. Im August 1944, als das Auf­brechen des Umschliessungsringes unmittelbar bevorstand, versuchte Hitler zum letzten Mal, die Abschnürung der Schweiz mit seiner persönlichen Intervention so lange wie möglich aufrechtzuerhalten.

Die Frage der Bedrohung ist von der Expertenkommission Schweiz – Zweiter Weltkrieg gemäss ihrem Schlussbericht von 2002 nicht systematisch untersucht worden, weil diese nicht zu ihrem Auftrag gehört hat. Um das Verhalten der Schweiz im Zweiten Weltkrieg adäquat beurteilen zu können, sind aber auch diejenigen Aspekte mit einzubeziehen, die erst verständlich machen, in welch schwieriger ­Lage sich die Schweiz während der Kriegsjahre befunden hat.

Wie es ihr nach dem sogenannten Endsieg ergangen wäre, ist kein Rätsel mehr. Sowohl Hitler wie Mussolini überboten sich in vertrautem Kreis mit abschätzigen Äusserungen zur Schweiz. Sind diese eindeutig genug, so hat sich Hitler in der geheimen Rede vom 24. Oktober 1939 im engsten Kreis seiner Reichs- und Gauleiter, denen er mehr als ­seinen Generälen vertraute, ganz offen zu ­seinen Kriegszielen bekannt: «Wenn er dann England und Frankreich auf die Knie gezwungen habe, werde er sich erneut dem ­Osten wieder zuwenden und dort klare Verhältnisse schaffen [. . .] Habe er auch dieses Ziel erreicht, so werde er darangehen, ein Deutschland zu schaffen, wie es früher bestanden ­habe, d.h., er werde Belgien und die Schweiz einverleiben» (Helmuth Groscurth: Tage­bücher eines Abwehroffiziers 1938–1940.Stuttgart 1970. S. 385).

 

Klaus Urner ist emeritierter ETH-Titularprofessor. Er gründete das Archiv für Zeitgeschichte der ETH ­Zürich und leitete dieses für viele Jahre. Urner ist ­Verfasser des Standardwerks «‹Die Schweiz muss noch geschluckt werden!› Hitlers Aktionspläne gegen die Schweiz: Zwei Studien zur Bedrohungslage der Schweiz im Zweiten Weltkrieg».Verlag Neue Zürcher Zeitung, 4. Aufl. Zürich 1997, ISBN 3-85823-303-X. Überarbeitete und aktualisierte Neuausgabe: Pendo, Zürich/München 1998. ISBN 3-85842-516-8. Nach der französischen (1996) und englischen Ausgabe (2001) ist eine ­aktualisierte italienische Edition für 2019 geplant.