Die Maske im Auto vergessen, dumm, nein, kein Problem, am Empfang der Klinik erhält man sogleich eine frische gereicht. Nur ein paar Minuten brauchte man, um aus der belebten Fussgängerzone in Brunnen am Vierwaldstättersee zur Seeklinik zu gelangen, die still und etwas erhöht auf einem Hügel in einem stattlichen Haus liegt. Man sieht von da auf den See und kann sich vorstellen, dass das sicher hilft beim Gesundwerden. Die Klinik ist auf die Behandlung von psychischen Störungen ausgerichtet, und in der Corona-Zeit ist zu vermuten, dass die Nachfrage gross ist. Ja, sagt Marco Gebbers, Chefarzt und ärztlicher Direktor, das Haus sei voll, sechzig Patienten seien in Behandlung und angesichts der längeren Warteliste erfolgten Neueintritte jetzt verstärkt nach gesundheitlicher Dringlichkeit.
Noch nie sei die Nachfrage nach psychotherapeutischen Leistungen so gross gewesen wie dieses Jahr, meint Gebbers. Hängt das mit Corona zusammen? Kommen andere Leute in die Behandlung als in normaleren Zeiten? «Der Zusammenhang ist da. Mit Blick auf die Corona-Auswirkungen gibt es unter den besonders betroffenen Menschen so etwas wie zwei Pole», sagt Gebbers. «Zu der einen Gruppe gehören die Leute, die in einem eigenständigen Netzwerk lebten, die neben Familie, Partnerschaft und Arbeit auch in der Freizeit ihre Beziehungen bei kulturellen und sportlichen Aktivitäten, beim Wandern, Kochen und so pflegten.»
All das werde jetzt durch Epidemiemassnahmen ja massiv eingeschränkt – und was diese Leute nun erführen, lasse sich am besten mit «Vereinzelung» umschreiben, das sei treffender als Vereinsamung. Ihnen fehle nun der zwischenmenschliche Austausch, der helfe, die eigene Befindlichkeit immer wieder zu justieren, zu kalibrieren, in ein Gleichgewicht zu bringen.
Und der andere Pol? «Das sind Leute in beengten Wohn- und Lebensverhältnissen», sagt Gebbers, Menschen, die in Haushalten mit ausgeprägter interner Kontrolle lebten, psychisch und physisch wenig Spielraum hätten, perfektionistisch seien und unter dem Einfluss der Epidemie würden diese Verhältnisse erst recht zum engen Korsett. Tendenzen zu Zwangsverhalten würden verstärkt, so dass es in Familien zu mehr Spannungen komme, die psychische und physische Gewalt zunehme, vor allem auch gegenüber Kindern, wie dies jüngste Studien zeigten.
Wer kommt denn in Brunnen in Behandlung? Grundsätzlich Patienten, die durch Hausarzt, Vertrauensarzt oder Psychiater überwiesen werden, Menschen, für die eine mehrwöchige Behandlung ausserhalb der normalen Umgebung als notwendig erachtet wird. Das zur Schweizer Ameos-Gruppe gehörende Seeklinikum Brunnen ist auf stationäre Behandlung von psychischen Störungen wie Burnout und Depressionen, auch auf die ambulante und stationäre Behandlung von Schlafstörungen ausgerichtet. Ein Aufenthalt dauert nach Gebbers’ Worten rund sechs Wochen: «Das ist die Zeit, die die Biologie braucht, damit das psychische System wieder in ein gewisses Gleichgewicht kommt», meint er. Die Patienten seien dann zwar nicht geheilt, aber bereit, den weiteren Weg wieder weitgehend eigenständig zu gehen.
Kann man sich denn darauf verlassen, dass das einigermassen klappt, quasi – aus Laiensicht – wie die Reparatur eines Systems, das aus dem Gleichgewicht geraten ist? Oder wäre das zu viel Machbarkeitsglaube? Gebbers weist darauf hin, dass man tatsächlich viele Erkenntnisse darüber habe, wie man ein aus der Balance geratenes menschliches Nervensystem durch Therapie wieder so lernfähig und anpassungsfähig machen könne, dass der betreffende Mensch dann wieder sein Leben bewältigen könne. In den sechs Wochen würden die Patienten darauf vorbereitet, sich nachher wieder möglichst selbständig den Herausforderungen ihres Lebens zu stellen – auch durch wiederholte kurze Besuche zu Hause, die schrittweise aufs Heimgehen vorbereiten sollen. Anschliessend folge eine längere Nachsorge mit Psychotherapie, Gesprächen, Bewegung, Kunst und Weiterem aus Schulmedizin wie aus Komplementärmedizin.
Wenn jetzt das Alltagsleben durch Corona gestört ist – macht das eine Rückkehr nicht erheblich schwieriger? «Tatsächlich ist dieser Übergang jetzt oft anspruchsvoller, je nach Typ und Verhältnissen», meint Gebbers. Allgemein sei bei Erkrankungen jetzt die Angst-Komponente grösser als sonst, und das erfordere entsprechende Anpassungen der Therapien, pharmakologisch und psychotherapeutisch.
Haben denn die Leute, grob gesagt, eher Angst vor dem Virus oder eher vor den Folgen der Corona-Massnahmen? «Am Anfang war es sicher eine ausgeprägte Angst vor dem Virus», sagt Gebbers. Aber insgesamt habe er den Eindruck, jetzt kippe es langsam in die Richtung, dass eher die Konsequenzen der Massnahmen Sorgen machten. Aber auch eine Entschärfung zeichne sich ab: Seiner Ansicht nach haben die Menschen mittlerweile einen pragmatischeren Umgang damit gefunden und fühlen sich eher befähigt, kritische Fragen zur Sinnhaftigkeit der Massnahmen zu stellen und auch zur eigenen persönlichen Lage. Etwa: «Wie stark will ich mein Leben eigentlich dieser einen Gefahr unterordnen?» Die Einschätzung, Corona sei zwar eine zusätzliche Gefahr, die das Leben mit sich bringe, aber bei weitem nicht die einzige, gewinne an Bedeutung. Auch dies sei eine Art Justierung des Systems.