Gemäss seriösen Schätzungen leidet jeder vierte Mensch an Depressionen. Wer also ein spezifisches Heilmittel gegen diese Massenerkrankung finden kann, hat Enormes zum Wohl der Menschheit geleistet. Diese sensationelle Entdeckung gelang dem in Biel aufgewachsenen Oberarzt Roland Kuhn. Und zwar nicht an ­einem international renommierten Lehrstuhl für Pharmakologie, nicht im Labor eines globalen Pharmakonzerns und nicht an einer führenden psychiatrischen Universitätsklinik, sondern in der eher provinziellen Thurgauer Anstalt Münsterlingen. Es gibt kaum einen Schweizer, dem eine ähnlich nachhaltige therapeutische Grosstat gelungen ist. Das Imipramin – von der Basler Firma J. R. Geigy 1958 als Tofranil auf den Markt gebracht – hatte nicht nur eine heilende Wirkung auf zahllose depressive Patientinnen und Patienten, das Mittel trug auch ganz wesentlich zu einem Paradigmenwechsel in der Psychiatrie bei.

In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurde nämlich neben der Lehre des «heiligen Marx» gleich auch noch jene des «heiligen Freud» entsorgt, laut der fast alle Seelenleiden vom Unbewussten herrühren. Statt mit der wackligen Ideologie der Psychoanalyse konnten sich die Forscher endlich mit den Wissenschaften von Genetik und Biologie des Gehirnes beschäftigen. Nicht zuletzt dank Roland Kuhn hat sich «der biologische Denkansatz in der Psychiatrie, der psychiatrische Krankheiten als eine genetisch beeinflusste Störung der Hirnchemie betrachtet, als überwältigender ­Erfolg erwiesen» (Edward Shorter).

Neurobiologen statt Psychoanalytiker

Selbstverständlich lief und läuft dieser Erkenntnisprozess nicht ohne Widerstände der Psychoanalytiker ab. Diese haben sich nach 1900 von der unangenehmen, oft hilflosen ­Anstaltspsychiatrie der «Irrenärzte» mitsamt der Anwendung von Zwangsmitteln gegen die «Unruhigen» verabschiedet. Sie lernten rasch, die Annehmlichkeiten eines geregelten Tagesablaufs in einer wohnlichen Praxis zu schätzen, indem sie im Fünfzig-Minuten-Rhythmus ziemlich gesunde und gutzahlende «Patienten» aus gehobenen Gesellschaftsschichten empfingen. Dass sich fast jede Störung aus der frühkindlichen Sexualität erklären lasse, ­glaubten diese Modemediziner für überspannte Seelen wohl selber nicht.

Roland Kuhn steckte zeittypisch auch noch in den Fängen der fast nur ihm verständlichen Daseinsanalyse. Doch mit seiner hartnäckigen, überaus verdienstvollen Forschung hat er einen beachtlichen Anteil daran, dass sein Fachgebiet enorm an wissenschaftlichem Ansehen gewonnen hat und die Psychiater heute wirklich helfen können. Da wäre es eigentlich höchste Zeit, die Geschichtsschreibung der Psychiatrie von Fanatikern und Sektierern zu säubern. Geisteskrankheiten sind keine sozialen Konstrukte, keine Ausflüsse des Kapitalismus, des Patri­archats oder der ärztlichen Professionalisierung, sondern real existierende Leiden, die man diagnostizieren, verstehen und systematisch mit Wirkstoffen behandeln kann. Doch die akademisch betriebene Psychiatriegeschichte wird heute Sozialhistorikern ohne naturwissenschaftliches Verständnis anvertraut; wenn sie nur die verstaubten foucaultschen Unterdrückungs-, Macht- und Ausgrenzungsthesen aus den sechziger Jahren verinnerlicht haben.

So darf gegenwärtig die Gender- und Psy­ch­iatrieforscherin Marietta Meier mit vier Mitarbeitern und fast einem Millionen-Etat des Thurgauer Lotteriefonds das Projekt «Psychopharmakaforschung von Prof. Dr. Roland Kuhn in der Psychiatrischen Klinik Münsterlingen» betreuen. Der Beobachter hatte sich zuvor über «Menschenversuche» Kuhns empört und so den Begründer des psychiatrisch-fliegerärztlichen Dienstes der Schweizer Armee im Zweiten Weltkrieg subtil ins NS/KZ-Milieu gerückt. Ab Frühjahr 2016 sollten – so liess die Kantonsverwaltung verlauten – eine Hauptstudie und zwei akademische Schriften entstehen. Bislang ist allerdings nichts entstanden, wenn man von einem dem Tages-Anzeiger gewährten Interview absieht. Projektleiterin Meier schlug selbstverständlich Grossalarm: «Die Ausmasse der Medikamentenversuche sind weitaus grösser, als wir erwartet haben.»

Was geschah in Münsterlingen? 1950 fragte die Firma J. R. Geigy an, ob man nicht das in Basel entwickelte Antihistamin als Beruhigungsmittel einsetzen könne. In ihrer Antwort schrieben die Münsterlinger Ärzte, darunter der biochemisch gutgeschulte Roland Kuhn, sie hätten keine schlaffördernde, dafür aber eine anti­depressive Wirkung beobachtet. Dieser erste Briefwechsel blieb folgenlos. Man hatte gegen Depressionen weiterhin fast nichts zur Hand als medikamentös ausgelöste epileptische Krampfanfälle oder künstlich erzeugte Elek­trokrämpfe, was nicht ohne schwerwiegende Nebenwirkungen blieb.

Kuhn leitete die pharmakologischen Versuche in Münsterlingen, wo er die ärztliche Direktion erst 1971 bis 1980 innehaben sollte. 1954 kam er mit der Firma Geigy überein, ein anderes Mittel aus der Antihistamin-Reihe zu erproben. Die Basler übersandten ihm am 4. November 1000 Dragées «G 22 355» und offenbarten ihm auch die Strukturformel, mit der Bitte um «absolute Diskretion». Bei Schizophrenen verschlechterte sich der Zustand durch die Abgabe dieser Dragées, doch 1955 testete Kuhn sie bei Depressiven. Die Wirkung bei vierzig behandelten Patienten war unglaublich, und er schrieb darüber: «Die Patienten werden lebhafter, freundlicher, [. . .] Schuldgefühle und depressive Wahnideen verschwinden.» Sie standen morgens fröhlich auf, nahmen aktiv am Klinikleben teil und zeigten wieder Interesse an ihren Familien. Gemäss Roland Kuhns Erstveröffentlichung in der Schweizerischen Medizinischen Wochenschrift von 1957 sprachen selbst die Patienten von «Wunderkuren». Kuhn und die Firma Geigy hatten gemeinsam ein Medikament gegen Depressionskrankheiten entdeckt. Roland Kuhn markierte jetzt mehr Distanz zur Psychotherapie, die «äusserst langwierig und schwierig» sei; das manisch-depressive Leiden – so seine Erkenntnis – erwies sich als eindeutig organisch bedingte Krankheit und war medikamentös zu beeinflussen.

Wohltäter der Menschheit

Die beeindruckte, ja begeisterte Beschreibung dieser sensationellen Vorgänge trägt alle Züge einer eigentlichen Auferstehung der Betroffenen. Auch die Angehörigen äusserten ihr Erstaunen über die markanten Veränderungen. Mit der Leistung der Entdeckung der anti­depressiven Wirkungen von Imipramin habilitierte sich Kuhn bei Professor Manfred Bleuler in Zürich. Durch seine systematische Arbeit ermöglichte der Münsterlinger Arzt, dass depressive Patienten fortan zunehmend ambulant ­behandelt werden konnten. Es gelang ihm, das Los der Depressiven zu erleichtern und eine wirksame Suizidprophylaxe einzuleiten.

Das Tofranil von 1958 war der Prototyp einer heute riesigen Klasse von Psychopharmaka. Vor allem aber begann mit Kuhns Entdeckung die systematische Erforschung der biologischen Grundlagen von Depressionen, eine Forschungsrichtung, die sich weltweit rasch ausbreitete. Wie es dem damals geltenden Rahmen ohne Humanforschungsgesetze und ohne Ethikkommissionen entsprach, hat Kuhn seine Patienten nicht oder kaum orientiert. Das ­Konzept der informierten Einwilligung («informed consent») im heutigen Sinn war noch nicht geboren, schon gar nicht bei psychiatrischen Patienten. Kuhn wollte zweifellos helfen und niemandem schaden. Die von ihm angewandten Wirkstoffe bedeuteten nach seinen ­Erkenntnissen keine Gefahr für Leib und Leben. «Viele Patienten leben noch», titelte unlängst Radio SRF empört. Wäre es etwa besser, sie würden nicht mehr leben?

Kuhns Familie hat der Forschung sämtliche vorhandenen Akten zur Verfügung gestellt. Gut so. Weniger gut ist das öffentliche Gegacker und Gegeifer, mit dem jetzt sogenannte Psychiatriehistoriker über diesen Akten brüten, ohne nur ein erstes Ei gelegt zu haben. Gegenüber solchem Personal brauchte sich Roland Kuhn mit seiner Lebensleistung für die Leidenden in aller Welt nicht zu schämen. Statt den 2005 verstorbenen Gelehrten mit öffentlichen Geldern durch den Schmutz zu ziehen, wären Ehrungen, Denkmäler und Böllerschüsse für diesen Wohltäter der Menschheit angebracht. Professor Kuhn hat sich übrigens zeitlebens gegen die Unterstellung verwahrt, es habe sich bei seinen Entdeckungen um den «blossen Zufall» eines kleinen Landarztes gehandelt. Gegen die weit schwereren gegenwärtigen Unterstellungen kann er sich leider nicht mehr wehren.