Meine erste Begegnung mit einem Hai ist mir heute noch peinlich. Es ist schon ein paar Jahre her, als ich durchs glasklare Wasser vor Sant’Andrea auf Elba schnorchelte und mich an der Unterwasserwelt und diesem Gefühl der Schwerelosigkeit begeisterte. Ein knapp unterarmlanger, graublauer, sehr schlanker Fisch hatte es mir besonders angetan. Fasziniert sah ich zu, wie er mit müheloser Eleganz durchs Wasser pendelte. Plötzlich blieb mein Blick an der asymmetrischen Schwanzflosse hängen. Das Wundertier vor mir war ein Hai! Nach der ersten Schrecksekunde war ich vor allem fassungslos über mich selbst: Ich war zusammengezuckt, weil mir ein Haikleinkind über den Weg geschwommen war!

In der Badewanne der Deutschen

Leider geht es vielen Menschen so wie mir damals: Seit Steven Spielbergs Reisser «Der Weisse Hai» die Kinosäle füllte, klebt an Haien das Image des hirnlosen Killers wie Kaugummi an der Schuhsohle. «Hai-Alarm vor Malle», meldete die Bild-Zeitung im Juni, nachdem mallorquinische Fischer versehentlich einen etwa drei Meter langen Sechskiemerhai geangelt hatten. Verletzt wurde dabei nur der Hai. «Hai-Alarm im Mittelmeer», meldeten die Stuttgarter Nachrichten, als im Juni ein verletzter, mittelgrosser Blauhai an einem Badestrand an der Costa Blanca herumschwamm und wenig später verendete. «Riesen-Hai vor Mallorca!», las man im April in der Welt, nachdem ein halbstarker Blauhai von der Strömung in eine mallorquinische Bucht gezogen worden war und wenig später den Weg zurück ins offene Meer fand.

Ich war zusammengezuckt, weil mir ein Haikleinkind über den Weg geschwommen war!

Liest man solche Titelzeilen, könnte man glauben, dass Haie seit einiger Zeit das Mittelmeer regelrecht stürmen. Die Wirklichkeit sieht ganz anders aus: Haie sind in der Badewanne der Deutschen zu Hause, und das seit Jahrtausenden. Mindestens 46 Haiarten leben und jagen im Mittelmeer, vom etwa halbmeterlangen Samtbauchbai bis zum zehn Meter langen Riesenhai. Nur fünfzehn der Mittelmeer-Haiarten könnten dem Menschen gefährlich werden – theoretisch. Aber die meisten Haie ziehen ihre Bahnen kilometerweit vor der Küste oder leben im tieferen Wasser weitab der Badestrände.

Surfbretter, Kajaks, Boote

Dass uns die Haie dennoch gefühlt immer näherkommen, könnte mit unserem Freizeitverhalten zu tun haben. Die Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit schätzte 2021, dass jährlich rund 400 Millionen Touristen im Mittelmeerraum Urlaub machen, zum erheblichen Teil am und im Meer. Wenn wir uns zu Millionen in den Lebensraum der Haie stürzen, ist es nicht verwunderlich, dass wir ihnen häufiger begegnen.

Verwunderlich ist etwas ganz anderes: Bei diesen Begegnungen kommt es nur selten zu Zwischenfällen, die in der Regel moderat ausgehen. Wer sich bei Global Shark Attack File auf die Suche macht, stellt schnell fest, dass die angeblichen Angriffe allenfalls Zwischenfälle sind. Da beisst vor Granada ein Hai den Fischer, der ihn aus dem Fangnetz holen will. Da schnappt ein gestrandeter Blauhai zu, als Menschen ihn zurück ins Wasser ziehen wollen. Da erleidet eine Schwimmerin vor Mallorca Hautabschürfungen, weil ein vorbeischwimmender Hai sie mit seiner sandpapierrauen Haut gestreift hat. Gelegentlich attackieren Haie Surfbretter, Kajaks oder kleinere Boote; und selten, sehr selten kommt es zu ernsteren Verletzungen, die – das sei nicht verschwiegen – auch tödlich ausgehen können.

Allerdings liegt der letzte tödliche Haiunfall im Mittelmeer 35 Jahre zurück. Er ereignete sich im Golf von Baratti in Italien. Das Opfer war Luciano Costanza, der anderthalb Kilometer vor der Küste in 27 Meter tiefem Wasser tauchte und von einem Weissen Hai attackiert wurde.

Mit etwas Wissen und Umsicht lässt sich das ohnehin schon geringe Risiko eines Haiunfalls noch weiter herunterfahren: Haie jagen gerne nachts, in der Dämmerung und in trübem Wasser. Sie haben einen hervorragenden Geruchssinn und wittern verletzte Beute noch aus über einem Kilometer Entfernung. Ausserdem reagieren sie interessiert auf hektische, zappelnde Bewegungen. Wer also nicht ausgerechnet dort schwimmen geht, wo Fischer ihrem Handwerk nachgehen oder wo mit der Harpune gejagt wird, wer sich ausserdem den Schwimmausflug bei Mondschein oder bei schlechter Sicht verkneift und zudem nicht wie ein verletzter Fisch durchs Wasser zappelt, sondern sich ruhig und gelassen bewegt, der wird im Mittelmeer kaum jemals einem Hai begegnen.

Gefährliche Situationen

Aber wenn Haie keine hirnlosen Killer sind, was sind sie denn dann? «Der nette Fisch von nebenan», wie vor Jahren die Zeitschrift Mare titelte? Was ist von den Aktionen der Taucherin Ocean Ramsey zu halten, die sich von einem gut sechs Meter langen Weissen Hai ein Stück weit mitziehen liess? Sie wolle die Weltöffentlichkeit auf die Bedrohung der Haie aufmerksam machen, sagte sie. Eines haben ihre Filme bestimmt bewirkt: Tauchausflüge zu grossen Haien sind gefragt wie nie zuvor. Haikuscheln ist der neue Trend, sozusagen das Hailight des Urlaubs.

Zum Glück ist dieser Trend noch nicht ins Mittelmeer übergeschwappt. Wer dort Haien in ihrem Element begegnen will, muss sich schon in das riesige Meerwasseraquarium in Palma de Mallorca begeben. Die freie Hai-Society des Mittelmeers aber wird weiter ungestreichelt ihrer Wege ziehen, wird gelegentlich einem Fischer die Beute klauen oder sich auch mal an einen Strand verirren. Und selten wird es weiterhin zu Zwischenfällen kommen – besonders dann, wenn Menschen den Hai provozieren, ihn falsch deuten oder nicht ernst nehmen. Wie sagte der grosse Haiforscher Erich Ritter? Es gibt keine gefährlichen Haie, es gibt nur gefährliche Situationen. Und die kann man vermeiden.