Es gibt Dutzende von kreativen Lichtbildnern, die ich vorschlagen könnte, aber mein Favorit unter den lyrischen Schweizer Fotografinnen ist im Moment Bettina Humm aka Betty Heart. Für ihre Selbstporträts fotografiert sie sich nackt, aber in den Fotografien geht es weniger um Nacktheit als um das Nacktsein selbst. Es sind Selbstbildnisse ohne jeden Anflug von Narzissmus. Sie sind voller Erregung und Unbeherrschtheit, auch weil sie so kraftvoll komponiert sind. In diesen Porträts scheint sie mir gleichzeitig diejenige zu sein, die gebiert, und diejenige, die als ihr voll verwirklichtes Selbst geboren wird.

Es gibt keine Schutzzone zwischen Objekt und Objektiv. Deshalb sind ihre Bilder so ehrlich und schonungslos, voller poetischer Untertöne. In ihren Szenarien verwischen sich die Grenzen zwischen Realität, Erinnerung und Imagination. Es sind Wanderungen zwischen analogen und digitalen Welten, zwischen Wahnsinn und Genie, zwischen Realität und Spiritualität. Sie tauscht die Fiktion der Aussenwelt gegen Autobiografisches aus. Aber für wen macht sie das eigentlich?

«Jeder in seiner eigenen Wahrheit»

Ist es für uns, das Publikum, oder genügt sie sich selbst? Sind alles nur Bruchstücke ihrer Selbstanalyse? Sie will niemandem gerecht werden, nichts unter Kontrolle haben. Und doch alles. «Ich will berühren, ich will den Leuten ihre Schönheit im Spiegelbild zeigen. Kunst ist frei, und ich lasse mich durch nichts einschränken. Wie hat Pippi Langstrumpf vor dreissig Jahren schon gesagt: ‹Ich mach’ mir die Welt, wie sie mir gefällt.› Und jeder darf in seiner eigenen Wahrheit leben», sagt Humm.

So sprunghaft wie ihre Fotografie ist auch ihre Biografie. Wohlbehütet aufgewachsen in den achtziger Jahren in der Nähe von Zürich, neben einem Bauernhof. Die Eltern haben nichts mit Kunst am Hut, und trotzdem hinterlassen sie Spuren. Der Vater arbeitet im Aussendienst: Er verkauft die wunderbaren Flakons des Salvador-Dalí-Parfüms. Die Begegnung mit Dalís surrealem Werk ist ihr erster Türöffner. Als Absprung in die Welt bezeichnet Bettina ihre Ausbildung zur Sozialpädagogin nach Montessori, die sie wie die Ausbildung zur Naturheilpraktikerin nicht beendet. «Aber es hat mich tief beeinflusst, mein Leben baut auf diesen Grundlagen auf.» Lange Zeit verdient sie ihren Unterhalt in der Event-Branche. «Das war mir zu hohl, ohne Inhalt. Aber ich musste überleben!» Dann der Sprung in die Kunst. Sie lässt sich in Bern an der Hochschule SET zur Videoproduzentin ausbilden. Et voilà!

Ein tieferes Geheimnis

Betty Heart ist nicht daran interessiert, die Regeln der Komposition zu beachten. Die 36-Jährige interessiert sich für das, was nicht gelehrt werden kann: Wie man seine Fotos von der Tyrannei der Technik und der Propaganda des Scheins befreit. Aber nicht, weil sie von der Korrelation zwischen Blende und Belichtungszeit nichts verstehen würde. Ihr Fokus ist woanders. Und sie verharrt nicht an Ort und Stelle. Bei ihr ist alles in Bewegung.

«Heute Nacht habe ich Lust, Fotos zu machen, morgen Nacht möchte ich aber vielleicht mal wieder ein Bild malen oder ein Buch lesen oder vielleicht auch tanzen, singen und feiern. Kunst ist unbegrenzt! Kreativität hat mich geheilt und heilt andere», sagt sie. Und: «Ich habe in den verschiedensten Bereichen meine Erfahrungen gesammelt und bin einen bunten, unkonventionellen Weg gegangen. Gefunden habe ich mich jetzt in der Fotografie.»

Je länger ich versuche, das alles zu verstehen, offenbart sich mir in ihren Bildern ein tieferes Geheimnis. Das Werk und die Fotografin sprechen nicht notwendigerweise dieselbe Sprache, auch haben sie nicht immer die gleichen Ambitionen. Sie erleuchten, formen, verführen, scheitern, verraten sich gegenseitig. Sie sind unabhängig voneinander, aber auch füreinander verantwortlich. «Ich liebe die Nacht mit ihrer andersartigen Energie. Wenn alles um mich herum ruhig ist und die Menschen schlafen, spüre ich eine andere Macht, der ich mich gerne ausliefere. Im Augenblick der lauten Stille zerrinnt der Moment irgendwo in der Tiefe der Dunkelheit und der Selbsterkenntnis.»

Alberto Venzago, 72, Fotograf und Filmer, stellte letztes Jahr im Museum für Gestaltung in Zürich seine Retrospektive «Taking Pictures – Making Pictures» vor. Mit vierzig hat er in New York für seine Bildreportage über den ersten Golfkrieg den ICP Infinity Award gewonnen. Er lebt in Zürich. Über Bettina Humm sagt er: «Bettina ist eine aussergewöhnliche Fotografin. Die Autodidaktin liebt den Akt der Verwandlung. Mit einem surrealen Touch nutzt sie ihr eigenes Leben, Erinnerungen, Emotionen, um verblüffende Welten zu schaffen, in denen immer sie das Hauptmotiv ist. Mit ihren Bildern stellt sie Fragen über Identität und Menschlichkeit, dabei bleibt ihre persönliche Welt schwer fassbar. Die Essenz ihrer Arbeit umfasst die Zerbrechlichkeit der menschlichen Psyche und die Verletzlichkeit. Was mich am meisten berührt, ist die Magie, mit der sie direkt ins Herz trifft.»

Bettina Humms Bilder sind vom 13. bis 17. Mai an der Photo Schweiz 22 in der Halle 550 in Zürich Oerlikon zu sehen. Alberto Venzago spricht an derselben Veranstaltung am 15. Mai um 18.30 Uhr über sein halbes Jahrhundert für die Fotografie (Halle 550, EG).

 

 

Alberto Venzago, 72, Fotograf und Filmer, stellte letztes Jahr im Museum für Gestaltung in Zürich seine Retrospektive «Taking Pictures – Making Pictures» vor. Mit vierzig hat er in New York für seine Bildreportage über den ersten Golfkrieg den ICP Infinity Award gewonnen. Er lebt in Zürich. Über Bettina Humm sagt er: «Bettina ist eine aussergewöhnliche Fotografin. Die Autodidaktin liebt den Akt der Verwandlung. Mit einem surrealen Touch nutzt sie ihr eigenes Leben, Erinnerungen, Emotionen, um verblüffende Welten zu schaffen, in denen immer sie das Hauptmotiv ist. Mit ihren Bildern stellt sie Fragen über Identität und Menschlichkeit, dabei bleibt ihre persönliche Welt schwer fassbar. Die Essenz ihrer Arbeit umfasst die Zerbrechlichkeit der menschlichen Psyche und die Verletzlichkeit. Was mich am meisten berührt, ist die Magie, mit der sie direkt ins Herz trifft.»