Die Franzosen sind alle oversexed, die Schweizer undersexed, alle Italiener Spaghetti fressende Steuerhinterzieher, die Österreicher kitschig und schlampert, die Briten schwul und gut gebügelt. Die Polen sind schon nüchtern schwermütig, im Normalzustand der Trunkenheit aber ausnahmslos nachtschwarze Melancholiker. Alles Nonsens, diese Nationalcharakteristiken. Aber dennoch, aber trotzdem und zumindest im Fall der Polen: Der Geiger Michal Urbaniak, vor mehr als einem Vierteljahrhundert in die USA emigriert, hat «auch immer gelacht, wenn ich nach dem polnischen Herz in unserer Musik gefragt wurde. Inzwischen muss ich sagen: Sie hatten Recht. Vielleicht ist sie in den Genen kodiert, diese Schwermut.»
Urbaniaks Freund und langjähriger Weggefährte ist der Trompeter Tomasz Stanko, sechzig Jahre alt und ein Paradox: gleichzeitig eine polnische Institution und nach wie vor ein Geheimtipp. Seine Anfänge reichen zurück in die Zeiten des «Katakombenjazz» Ende der fünfziger Jahre, seine erste eigene Formation galt als erste europäische Free Jazz Band (1962). Dann spielte er mit Krzysztof Komeda, dem Pianisten und Komponisten, der Roman Polanski als Filmmusiker nach Hollywood folgte und dort 1969 einen bis heute rätselhaften Tod starb. Stanko wurde so etwas wie Komedas Statthalter auf Erden, mit exzellenten Gruppen bei spärlichen Auftritten im Westen gefeiert und gleich wieder vergessen. Ausser von jenen paar Junkies, die auf Anhieb süchtig wurden nach diesem Ton, in den dieser Trompeter seine ganze zwiespältige Persönlichkeit investierte, eine unverwechselbare, dunkel schimmernde Verdichtung von Melancholie: «dirty» wie der Sound von Henry «Red» Allen, graulend, voller Glissandi, in jenen «schwarz vertieften Finsternissen» gründend, für die das triumphalste aller Blechhörner so gar nicht konzipiert scheint. Nur gelegentlich schwingt er sich auf zu ätherischen Lichtblicken, wie um die Verschattungen noch dunkler zu machen. Durch Nacht zum Licht, möchte man mit Eisler spotten, wenn die Gegenbewegung nicht noch stärker wäre: der luziferische Sturz aus dem Licht in die Nacht.
Biografisch ist Stankos Geschichte allerdings die der geretteten Zunge oder besser, bei einem Trompeter, der geretteten Lippe. Auch in der Hinsicht ein polnisches Klischee, kämpfte er sich von einem alkoholischen Absturz zum nächsten, bis er Anfang der neunziger Jahre mit seiner Konversion zum Teetrinker aus dem Hades in ein regelmässiges und kontemplatives Leben zurückkehrte. Erstaunlich genug: seine Melancholie (die ja nie mit Resignation zu verwechseln war) verlor darob nicht ihre Bitterkeit, sein Ton nicht die scharfen Ränder. Auf sein sporadisch disparates Zufalls-?uvre bei ECM (eine einzige Platte unter eigenem Namen: «Balladyna», 1975) folgten ab 1994 ziemlich regelmässig fünf CDs für das Münchner Label. Die bisher erfolgreichste ist eine Hommage an den Freund Komeda, die beste aber die jüngste mit dem schönen orphischen Titel «Soul of Things». Erstmal spielt hier Stanko nicht mit skandinavischer Prominenz, sondern mit einer jungen polnischen Rhythmusgruppe.
Stanko sagt von sich, er habe ohnehin sein Leben lang «eigentlich ein einziges Stück gespielt». So sind die 13 Teile von «Soul of Things» eine Art Lebensrückblick, voller Einschlüsse von Fragmenten, Themen, Eindrücken bis zurück zur Jugend.
Wie sagte Walter Benjamin von Robert Walsers Figuren: «Sie kommen aus der Nacht, wo sie am schwärzesten ist, einer venezianischen, wenn man will, mit etwas Festglanz im Auge, aber verstört und zum Weinen traurig.» Die Musik dazu ist die von Tomasz Stanko.
Tomasz Stanko Quartet: Soul of Things. ECM 1788 CD 0440 016374-2