Agatha Christie: Das fehlende Glied in der Kette – Poirots erster Fall. Aus dem Englischen von Nina Schindler. Atlantik. 224 S., Fr. 28.90


 

So schrecklich kann das letzte Stündlein schlagen: «Ein neuer Anfall hatte die unglückliche alte Dame gepackt. Die Krämpfe waren von schrecklicher Heftigkeit, ihr ganzer Körper bog sich auf schier unvorstellbare Weise.» Endlich kam der erlösende Exitus. Der armen Mrs Inglethorp wurde anscheinend Strychnin in die Kaffeetasse geschmuggelt. Oder doch eher in den spätabendlichen Kakao, den sie sich jeweils mit einem Schluck Rum und einer Schlaftablette zu genehmigen beliebte? Glück also, dass der pensionierte Ermittler Hercule Poirot aus Belgien zur Stelle war, um sich des vertrackten Falls anzunehmen.

Mit dem detailliert geschilderten Todeskampf liess die englische Kriminalschriftstellerin Agatha Christie (1890–1976) die steinreiche Mrs Inglethorp in ihrem ersten Roman, «Das fehlende Glied der Kette», dahinscheiden. Christie hatte sich 1916 für zwei Wochen in das abgelegene Hotel «The Moorland» im südwestenglischen Dartmoor zurückgezogen, um dieses Buch in einem Zug zu schreiben. Je nach Quelle tat sie es, um ihrer Mutter oder ihrer Schwester zu beweisen, dass sie einen Roman schreiben konnte. Er ist jetzt in neuer Übersetzung herausgekommen.

Er erschien allerdings erst 1920 in den USA, vor hundert Jahren also, nachdem ein englischer Verleger die Veröffentlichung zuerst abgelehnt hatte. Das Buch bildete den Auftakt zu einer beispiellosen Laufbahn mit 66 Romanen sowie Theaterstücken und zahlreichen Kurzgeschichten.

Agatha Christie zeichnete mit ihren Krimis das bürgerliche England des 19. Jahrhunderts in seiner imperialen Grösse nach. Hinter dieser Kulisse der Selbstbehauptung lauerte indes das Böse, das die Alte Welt aus den Fugen zu bringen drohte. Der exaltierte Belgier Hercule Poirot musste als Ermittler dafür sorgen, dass alles wieder seine Ordnung hatte und der Übeltäter aufflog. Im Jahr 1930 schuf Christie die tantenhafte Miss Marple, die mit ihrem Scharfsinn Bösewicht um Bösewicht an den Galgen lieferte. Agatha Christie war eine überzeugte Anhängerin der Todesstrafe, die zu ihrer Zeit in Grossbritannien noch verhängt, wenn auch selten vollzogen wurde. Die Autorin mochte Miss Marple übrigens wesentlich besser als den exzentrischen Poirot. Mit der Privatermittlerin identifizierte sie sich, der Belgier ging ihr auf den Geist. Die verblichene Mrs Inglethorp war ebenso steinreich wie geizig, sodass ihre verschuldeten Nachfahren mehr als gute Gründe hatten, sie abzuservieren. Vor allem hatte die Verstorbene zum Entsetzen ihrer Familie noch einmal geheiratet, einen um Jahre jüngeren Schleimer, der es offensichtlich auf ihr Erbe abgesehen hatte. Bereits in diesem Roman setzte Christie auf ihre im Lauf der Jahre verfeinerte Erzähltechnik: Das Drama läuft wie auf einer Bühne in einem klar abgesteckten Rahmen ab. Kleine Einrichtungspläne erläutern dem Leser sogar, wo genau der Nachttisch neben dem Bett des Opfers gestanden haben muss, damit es den letzten, fatalen Schluck zu sich nehmen konnte. Oder war alles ganz anders?

 

Flucht in die Lektüre

Wie später so oft führte Christie der Leserschaft bereits im ersten Buch eine überschaubare Anzahl Verdächtiger vor. Sie alle haben ein Motiv, und sie haben etwas zu verbergen, das nicht zwingend mit der Mordtat in Verbindung stehen muss. Christie hält mit ihrem Urteil über die von ihr erfundenen Protagonisten nicht zurück. So heisst es über den jungen Ehemann der Ermordeten: «Sein Gesicht war so verschlossen wie immer, und wieder fiel mir auf, wie seltsam unecht der Mann aussah.» Der Ich-Erzähler ist nicht etwa Poirot, sondern dessen Freund, der aus dem Ersten Weltkrieg zurückgekehrte Leutnant Arthur Hastings. Er hinkt dem belgischen Ermittler bei der Recherche stets drei Schritte hinterher, genauso wie der Leser.

Agatha Christie wuchs in einem wohlhabenden Elternhaus in der südwestenglischen Grafschaft Devon auf. Der Vater verbrachte die meiste Zeit im Klub, die Mutter dirigierte das Hauspersonal herum. Die kleine Agatha empfand das Milieu als stickig und flüchtete in die Bibliothek zur Lektüre. Nach einer ersten gescheiterten Ehe heiratete sie 1930 den vierzehn Jahre jüngeren Archäologen Max Mallowan, mit dem sie etliche Jahre auf Ausgrabungen im Nahen Osten verbrachte. Ihre erzählerische Meisterschaft erreichte sie mit «Roger Ackroyd und sein Mörder» (1926), ebenfalls mit Poirot als Ermittler. Andere Romane wie «Tod auf dem Nil» fanden als Kinofilme ein Millionenpublikum, haben es beim jüngeren Publikum heute aber eher schwer. Wie treu ihr indes die Älteren sind, belegt ein Besuch im noch immer einsam gelegenen «Moorland»-Hotel im Dartmoor. Es ist heute ein Pilgerort der Agatha-Gemeinde, die dort in der Hotelbar gerne ihren Sherry schlückelt – natürlich ohne Strychnin.