Von all den Meeren und Ozeanen ist es doch das Mittelmeer, das mich am dauerhaftesten durchflutet. Ich dachte lange, der Indische Ozean sei das Gewässer, das eine Heimat sein könnte. Ich mochte seine Farbe, sein Rauschen, seine Wärme, die Sanftmut, mit der er die Inseln umspült auf ihrer einen, und die Kraft, mit denen er auf ihrer anderen Seite anbrandet. Als ob er da streicheln und dort vernichten wollte.
Eine Zeitlang war die Südsee der Topos, in dem ich das wirkliche Leben sah, weil ich wie alle Romantiker, Tagediebe und auch Taugenichtse das wahre Leben immer woanders vermutete. Aber ich konnte so oft in der Südsee sein, wie ich wollte, so viel Conrad oder Somerset Maugham lesen, wie ich konnte, aber nie ummantelte sie mich wie der Indische Ozean. Der Atlantik ja, aber nur dort, wo er nicht kalt ist. Seine nördlichen Wellen haben mich nie wirklich berührt.
Das Mittelmeer wahrscheinlich deshalb, weil es einmal das mir nächstgelegene Meer ist, aber viel mehr noch, weil fast alles, was uns heute im ausgehenden Holozän zu Menschen macht, an den Gestaden des Mittelmeers seinen Anfang nahm. Und weil die Schönheit seiner Küsten, sein Licht und seine Inseln mich jedes Mal von Neuem verzaubern.
Und weil es das erste Meer ist, das ich je gesehen habe. Ich bedaure sehr, dass ich keine Erinnerung mehr habe an diesen Moment, weil er doch der Anfang einer unsterblichen Liebe war. Ich weiss nicht mehr, ob ich mich auf den ersten Blick verliebt habe oder ob es tausend Wellen brauchte, bevor sich unsere Seelen vermengten.
Ich bin unterwegs ans Mittelmeer, endlich, ich hoffe auf Erlösung und das wirkliche Leben, die Reise ist beschwerlich, dann auch wieder nicht. Das Unbeschwerliche ist die Leichtigkeit, die einen durchwellt, wenn man an der Reling steht und das Meer ruhig durch das Hirn strömt. Das Beschwerliche ist, dass vier Busladungen voller slowenischer Jugendlicher an Bord der Fähre von Ancona nach Patras sind, sie sind laut, machen sich überall breit, und vor allem sind sie durstig nach Bier, besoffen schon, bevor sie die Fähre betreten, und weil sie jung sind und im Moment leben und am andern Tag nichts anderes tun müssen, als in einen Bus zu steigen, saufen sie weiter und benehmen sich später, als ob sie allein auf dem Schiff wären. Ich weiss jetzt, was mit dem Begriff «Generationenkonflikt» gemeint ist.
Innerlich möchte ich sie über Bord werfen, äusserlich bleibe ich cool, man lernt das im Alter, und mit erschreckendem Erstaunen wird mir abends auf dem Deck auf meiner Plane und im Schlafsack klar, dass ich auch mal so war, durstig und laut und rücksichtslos und grenzenlos zuversichtlich und unverletzlich und ein wenig unsterblich und selbstüberzeugt und stets gefangen im Grenzbereich zwischen Grössenwahn und der gerade zur Miniatur werdenden grossen Welt der Kindheit. Nachts, nach drei Uhr, mitten auf einem Mittelmeer ohne Küsten, ist mir das dann auch egal, und ich schäle mich aus meinem Schlafsack und schlurfe zu der Gruppe Kids. Die einen hängen halb bewusstlos schon in den Stühlen, die anderen grölen, eine typisch jugendliche Szenerie, vielleicht zehn sind es noch, der harte Kern, jene, die nie aufhören können, jene, aus denen mal etwas Grosses wird vielleicht oder ein Drama, und ich sage ihnen, dass ich ihnen zehn Bier spendieren würde, wenn sie sie woanders saufen würden.
Sie glotzen und sagen ganz nett danke, und einer öffnet einen grossen Rucksack voller Bierdosen und sagt, er würde mir ein Bier geben, wenn ich wieder schlafen gehen würde. Ich stand da, lehnte das Bier ab und erinnerte mich, dass es einst eine Zeit gab, in der ich mich dazugesetzt und mitgetrunken hätte, und dass ich jetzt ein Alter, einen Daseinszustand erreicht habe, in dem ich das nicht mehr will, weil es mich nicht mehr interessiert.
Ich zog mich zurück zu meinem Schlafplatz, koppelte mein Gehör mit Ohropax nur unzureichend von der Welt los, rauchte eine Zigarette und dachte, was ist schon eine Nacht ohne Schlaf, scheiss drauf, Alter, und dann dachte ich darüber nach, dass, wohin ich auch gehe, ich vielmehr in die Vergangenheit reise als in die Zukunft und dass das das Wesen des Älterwerdens ist. Dann, als das Licht zurückkam in die Welt, schlief ich ein, mitten auf dem Mittelmeer.
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