Sofía Jirau ist das erste Modell mit Down-Syndrom, das bei der Unterwäschemarke Victoria’s Secret (VS) unter Vertrag genommen wurde. Im Zuge der neuen Kampagne #WithoutLimits, mit der VS inklusiver werden möchte, ist die 24-jährige Puerto-Ricanerin mit siebzehn anderen Frauen unterschiedlichen Hintergrunds in sexy Lingerie vor der Kamera zu sehen. Mit dabei sind Ladys im höheren Alter, Schwangere, Transfrauen, Frauen mit Behinderung. Für Jirau ist damit ein Traum wahrgeworden. Raúl Martinez, Creative Direktor bei VS, spricht von einem «inklusiven Geist».

Jiraus Coup hat das übliche Meinungskarussell zum Drehen gebracht. Die erste Gruppe schwärmt im Internet, das Unternehmen habe alles richtiggemacht, gratuliert der jungen Frau und freut sich über ihren Erfolg. «Sie hat offiziell Geschichte geschrieben», schreibt das People-Magazin.

Die zweite Gruppe kritisiert den Entscheid. Sie findet es falsch, eine Person mit Down-Syndrom zu sexualisieren, und verurteilt es als «Objektifizierung» (Reduzierung der Frau zum Sexualobjekt). Gemäss The Independent sieht diese Gruppe Jiraus Unabhängigkeit als eine «Maske der Täuschung», und die VS-Kampagne würde ihre «speziellen Bedürfnisse» manipulieren.

Diese Bedenken wiederum haben einen Ismus-Vorwurf der nächsten Gruppe zur Folge; eine solche Betrachtungsweise sei ableistisch (Ableismus bezeichnet die Diskriminierung von Menschen mit Behinderung). Dazu schreibt eine Autorin im Independent, man solle aufhören, Menschen mit Behinderung zu entsexualisieren. Jirau tue es für sich selbst, sie sei mit ihren 24 Jahren fähig, einen informierten Entscheid über ihre Teilnahme an der Kampagne zu fällen. Und weiter: «Wir sind Erwachsene mit sexuellen Bedürfnissen und mit einer Sinnlichkeit, die gefeiert werden sollte. [. . .] Wir sind sexuelle Wesen, egal, wie unbehaglich sich Menschen ohne Behinderung dabei fühlen.»

Ich habe zu der Thematik keine wirkliche Meinung (ja, das gibt es). Seit Jahren wird VS öffentlich scharf kritisiert, vor allem von prominenten Feministinnen und Journalistinnen, die den Mangel an unterschiedlichen Körpertypen in der Werbung und den Shows beklagen, insbesondere, dass Plus-Size- und Transgender-Models fehlen. Nebst dem Druck durch die sinkende Anzahl Verkäufe, die schlechte Presse und die Kritik kämpft die Edelmarke mit harter Konkurrenz von Savage X Fenty, der Lingerie-Linie von Rihanna, die sich durch eine grosse Diversität an Frauen in Bezug auf Haut- und Körpertypen auszeichnet. Fenty wird in den Medien seit ihrer Gründung hochgelobt – VS gleichzeitig niedergeschrieben. Man kann nachlesen, dass Fenty den Konkurrenten VS «gekillt» habe.

Das scheint tatsächlich so, und um das Desaster halbwegs aufzufangen, hat sich wohl auch VS entschlossen, vom Zeitgeist Notiz zu nehmen. Es gibt mittlerweile viele Unternehmen, die bei der Vermarktung ihrer Produkte auf Diversität und Inklusion setzen. Dass alle möglichen Frauen schöne Unterwäsche präsentieren, ist unzweifelhaft etwas Gutes, denn: Alle möglichen Frauen tragen schöne Unterwäsche. Heute ist wirklich für alle etwas dabei, und genau darum habe ich das penetrante Abarbeiten an der Marke VS nie verstanden. Es gibt Kundinnen, die fühlen sich beim Kauf von sexy Lingerie eher von gnadenlosen Schönheiten angesprochen als von Models, die so aussehen wie sie selbst. Bei der Auswahl von Satinhöschen und mit Strasssteinchen besetzten BHs wollen sie von der Fantasie verführt werden – und nicht von Cellulite oder Übergewicht. Beim Überstreifen der Teile werden sie nämlich zur belle de nuit; das Erwecken der Fantasie funktioniert aber nur, wenn die Wahrheit ausgesperrt bleibt.

Andere wiederum können mit den Grazien mit Endlosbeinen nichts anfangen (oder fühlen sich gar getriggert) und wollen in der Werbung von Frauen repräsentiert sein, die keinen Perfektionismus vorgeben, sondern Realität. Beides ist doch okay, und mir scheint, diese unterschiedlichen Bedürfnisse und Geschmacksrichtungen können hervorragend nebeneinander existieren, ohne dass man für das eine das andere verändern müsste. Warum Druck auf ein Unternehmen ausüben? Wenn einem die Werbung nicht gefällt, kauft man eben woanders ein.

Was ich an dem Ganzen aber interessant finde, ist die vom Dessous-Hersteller vollführte 180-Grad-Kehrtwende. Von dem jahrzehntelangen Defilee maximaler bigger than life-Frauen hin zu einem völlig neuen Kampagnenstil, der eine ganz andere Schönheit zeigt; man wird den Eindruck von Überkompensation nicht los. Gleichzeitig ist man geneigt, den Kurswechsel dem heutigen Kulturtrend und dessen selbstgefälligem Diktat zuzuschreiben: Entweder machst du mit, oder du bist das schlimmste Unternehmen, das je existiert hat, und deine Frauenauswahl ist absolut toxisch und inakzeptabel.

In dem Sinne funktioniert das Investieren in Diversität wie ein Joker – und bislang ging das Kalkül auf: Alle berichten über die Victoria’s-Secret-Kampagne und deren neues Model. Ob es sich auf die Verkaufszahlen auswirkt, ist dann eine andere Frage.

 

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