10. Oktober 2002: Um 07.45 besteigt Baruch Neuman den Bus. Bevor er losfährt, geht er durch den Wagen und sucht ihn nach verdächtigen Objekten ab. Erst dann setzt er sich ans Steuer. Das ist Vorschrift. Neuman öffnet die Vordertür und beginnt seine Fahrt auf der Linie 86 zum Militärspital Tel Hashomer, unweit von Tel Aviv. Fast anderthalb Jahre später kann er die Erinnerung an diesen Morgen, der so gewöhnlich begann, immer noch nicht auslöschen. Die Bilder verfolgen ihn. Neuman sieht in Angstträumen den Terroristen vor sich, er wacht in der Nacht schweissgebadet auf, täglich spricht er über die Minuten, in denen er den um sich schlagenden Terroristen am Boden festhielt.
Der israelische Alltag ist Krieg, und der Bus ist die Front. Auch jetzt, Ende Februar, liegen zahlreiche Terrorwarnungen vor. Die Polizei gibt sie am Radio durch. Neuman dreht den Lautsprecher auf. Seine Passagiere hören mit. Vor Tagen erst hat ein palästinensischer Attentäter im Zentrum Jerusalems acht Passagiere mit sich in den Tod gerissen.
Plötzlich sah Neuman die Drähte
Misstrauisch prüft Neuman jeden, der sich dem Bus nähert und ihm das Kleingeld für die Fahrkarte hinhält. Er beobachtet, wie manche zögern, kurz bevor sie in den Bus steigen, wie offenbar ein vager Verdacht, ein ungutes Gefühl sie auf den nächsten Wagen warten lässt. Wer einsteigt, den durchbohren Blicke. Was hat der Grosse mit dem schwarzen Bart wohl in seiner Tasche? Und sieht der Mann dort nicht finster und zu allem entschlossen aus? Trägt der mit dem dunklen Teint nicht eine verdächtig weite Jacke? Manchmal steigen Sicherheitsbeamte zu oder bewachen die Haltestellen: Sie sind an ihrer dunklen Sonnenbrille und der beigen Jacke zu erkennen. Sie prüfen jeden, der mitfahren will. Verdächtige drängen sie von der Türe weg, fragen sie aus. Sie haben einen höchst riskanten Job: Wenn sie einen Attentäter ertappen, ist ihre Überlebenschance gering. Die Rekrutierung neuer Aufpasser ist schwierig geworden.
Der 190 Zentimeter grosse Neuman muss nicht nur den Verkehr, sondern auch die Passagiere im Auge behalten. In einem Kurs hat er gelernt, verräterische Zeichen zu deuten. Und was kann er tun, wenn er Verdacht schöpft? Eigentlich dürfte er einen Ausweis verlangen und die Taschen durchsuchen. Doch Neuman weiss, dass er das mit dem Leben bezahlen könnte. Auf einen Revolver verzichtet er. «Einen Terroranschlag könnte ich damit nicht verhindern. Wenn man den Terroristen nicht ausserhalb des Busses fasst, ist es schon zu spät.» Und ohne Pathos fügt er bei: «Du gehst zur Arbeit und weisst nicht, ob du zurückkommst.»
Einige Passagiere fragen ihn, welche Plätze den besten Schutz vor Selbstmordterroristen bieten. Sie überlegen genau, wo sie sich hinsetzen – wo ihre Überlebenschancen am grössten sind. Gefragt sind die Plätze bei den Türen und ganz hinten. Die Atmosphäre ist angespannt. Ein plötzliches Schliessen der Fenster – und die Fahrgäste springen entsetzt auf. Jemand lässt unbeabsichtigt einen Aktenkoffer fallen – und sie zucken zusammen. Die Angst fährt mit.
Nach jedem Anschlag rollen die Busse einen oder zwei Tage lang leer. Dann schleicht sich allmählich wieder Routine ein. Die 25-jährige Studentin Mirjam, die an der dritten Haltestelle zugestiegen ist, fährt nur noch ins Zentrum, wenn es sich nicht vermeiden lässt. Heute muss sie in die Bibliothek. Ein Taxi kann sie sich nicht leisten. Die Pensionärin Schula würde gerne mit dem eigenen Auto zu ihrer Freundin fahren, aber sie hat bereits Mühe, das Geld für ihre Medikamente zusammenzubringen. Der Sachbearbeiter Daniel, der zur Stadtverwaltung unterwegs ist, würde vor Angst am liebsten zu Hause bleiben. «Aber wovon soll ich dann leben?», fragt er.
Der Bus füllt sich rasch. Das übliche Gedränge vor der Eingangstür. Neuman verkauft Billette, blickt kurz auf Abonnemente und fordert die Leute auf, «bitte aufzuschliessen».
Zeit, um über neue Massnahmen zum Schutz der Passagiere nachzudenken: die Drehkreuze am Vordereingang etwa, die jetzt in einem halben Dutzend Bussen versuchsweise beim Eingang angebracht werden. Verdächtigen Personen kann der Fahrer so den Zutritt verweigern. Manchmal hecken Anti-Terror-Leute in der Not auch skurrile Ideen aus: So schlagen sie zum Beispiel vor, mit Schweinefett gefüllte Beutel im Bus aufzuhängen. Weil das Schwein und dessen Produkte im Islam als unsauber gelten, würde Angreifern, die damit in Berührung kommen, der Zutritt zum Paradies verwehrt. Damit entfiele für gläubige Muslime die Belohnung, die im Himmel nach der «Märtyrertat» angeblich auf sie wartet: 70 willigen Jungfrauen. Mitte Februar gab der Rabbi Elieser Mosche Fisher grünes Licht für den Einsatz des Schweinefetts, das auch im Judentum als unrein gilt. Es sei an öffentlichen Plätzen gestattet, wenn dadurch Menschenleben gerettet werden können, beschied er.
Bei der Station Bar Ilan sagt Neuman plötzlich: «Hier war es.» Hier wollte sich der Terrorist durch den hinteren Eingang in den voll besetzten Bus einschleusen, während Neuman bereits die Aussenschwingtüren schloss. «Der will noch rechtzeitig zur Arbeit», dachte sich Neuman arglos, «oder er will schwarzfahren.» Durch das Zuschlagen der Türe verlor der hastige Passagier das Gleichgewicht und fiel rückwärts auf den Asphalt. Neuman, nichts Böses ahnend, verliess den Bus sofort, sprang auf die Strasse, um zu helfen. Eine Krankenschwester, die zufällig mitfuhr, rannte ihm nach. Neugierige Passagiere drückten ihre Nase am Fenster flach. Der Mann atmete schwer, hatte vom Fall eine Kopfverletzung, er blutete, war benommen. Die Krankenschwester öffnete dem Unbekannten das Hemd. Noch begriffen sie nicht, dass es sich bei dem Verletzten um einen Terroristen handelte. Den Gürtel, der den Oberkörper umgab, hielt Neuman in den ersten Sekunden für ein medizinisches Gerät, eine Art Elektrokardiograph. Doch wie die Krankenschwester den Oberkörper freilegte, sah er plötzlich die Drähte.
Geistesgegenwärtig schrie Neuman: «Terrorist! Rennt alle weg! Schnell!» Während drei bis vier Minuten – «es schien mir wie eine Ewigkeit» – hielt er den Terroristen leibhaftig in seinen Händen und versuchte, ihn vom Zünden der Bombe abzuhalten.
«Jetzt scheint mir alles unwichtig»
Neuman behielt einen klaren Kopf. Er studierte sogar das weisse Hemd des Terroristen, betrachtete eindringlich die Drähte und wunderte sich noch, wie liebevoll und mit welcher Präzision jemand diesen todbringenden Bombengürtel zugenäht hatte. Später erfuhr er, dass in diesem Gürtel 5 Kilogramm Sprengstoff und 10 Kilogramm Metallteile gespeichert waren. Erst als er alle Passagiere in sicherer Distanz wusste, liess er den Terroristen los, sprang auf die Füsse und rannte davon. Neuman blickte noch zurück, sah, wie der Terrorist langsam aufstand, torkelte, rund 30 Meter lief und nach den Drähten griff. Es folgte ein gewaltiger Knall. Dann ein Feuerball. Durch die Wucht der Explosion wurde der Körper des Terroristen Dutzende Meter durch die Luft geschleudert. Seine Hände werden später 50 Meter vom Detonationsort entfernt gefunden. Der Kopf des Terroristen landete auf der anderen Strassenseite. Aus seinem Rumpf hingen die Eingeweide. Überall Blut. Die meisten Passagiere kamen mit leichten Verletzungen davon oder blieben unversehrt. Nur eine ältere Frau, die just im Augenblick der Explosion an ihm vorbeiging, wurde auf der Stelle getötet. Auch Neuman überlebte den Alptraum ohne Kratzer. Aber psychisch ist der schlanke, athletisch aussehende Chauffeur bis heute gezeichnet. Bei jeder Terrorwarnung und nach jedem Selbstmordattentat überwältigen ihn die grausigen Bilder von damals. Dann macht er die bangen Minuten nochmals durch.
Neuman empfängt uns in seiner Wohnung in einem Tel Aviver Vorort. Der Anschlag hat das Leben des 52-Jährigen auf den Kopf gestellt. Anfangs glaubte er, mit dem Trauma selber fertig zu werden. Doch die ständige Bedrohung durch neue Anschläge, die wiederkehrenden fetten Schlagzeilen über neue Selbstmordanschläge in Jerusalem, Tel Aviv, Haifa oder Netanya lassen ihn nicht zur Ruhe kommen. Neuman hat sich einem Psychologen anvertraut, der sich auf die Behandlung von posttraumatischen Belastungsstörungen spezialisiert hat. Von ihm hat er die Fachwörter für sein Leiden gelernt: Es sind belastende Träume, Halluzinationen und Flashback-Episoden.
Sein Trauma belastet auch das Familienleben. Neuman hat keine Geduld, den kleinen Sorgen seiner Familie zuzuhören. Früher war das anders. Da war er ein liebevoller, verständnisvoller Gesprächspartner. «Jetzt scheint mir alles unwichtig», meint er mit einem etwas apathischen Blick. «Ich lebe in den Tag hinein, plane nichts.»
Im hinteren Zimmer spielen die Enkel. Fröhliches Kinderlachen. Die Kleinen haben sich daran gewöhnt, dass ihr «Saba» (Grossvater) mit ihnen nicht mehr herumbalgt. Er mag einfach nicht mehr.
Seine Frau Ahuva, eine schwarzhaarige Kindergärtnerin, tischt Kuchen und Gebäck auf, stellt Gläser und Getränke bereit. Auch bei ihr kehrt bei jedem Terroranschlag alles wieder zurück, die panische Angst um Baruch, die sie damals erfasst hat. «Ich kann mich nicht davon lösen», sagt sie mit einem traurigen Blick.
Baruch hatte gleich nach dem Ereignis per Handy bei seinen erwachsenen Töchtern angerufen. Denn er wusste, dass in wenigen Minuten die ganze Nation vom Terroranschlag auf die Linie 86 wissen würde. In solchen Situationen bricht wegen der Überlastung erfahrungsgemäss das Mobilnetz zusammen. «Ich bin okay», sagte er ihnen, «sagt es der Mutter.» Ahuva war zur Zeit des Anschlags bereits im Kindergarten. Doch sie glaubte den Beteuerungen ihrer Tochter nicht, dass sie mit Baruch gesprochen habe. Von Panik erfüllt, suchte sie in allen Tel Aviver Spitälern nach ihrem Mann, stets auf das Schlimmste gefasst. Beruhigt war sie erst, als ihr Schwager gelobte: «Ich habe Baruch mit meinen eigenen Augen gesehen. Er lebt. Weil er derzeit von Journalisten belagert wird, kann er nicht nach Hause kommen.» Dann kam ihre Schwiegermutter mit einem Korb voller Süssigkeiten vorbei. «Mir ist mein Sohn ein zweites Mal geschenkt worden», wiederholte sie pausenlos.
In der Stube der Neumans steht eine violette Plastikkiste. Hier bewahrt er alles auf, was an den denkwürdigen Tag erinnert: Zeitungsartikel, Videokassetten, eine Polizeiurkunde, die ihm tapferes Verhalten bescheinigt, Bilder von seinem Besuch beim Staatspräsidenten, ein Modell eines Autobusses und unzählige Zeitungsartikel, in denen Neuman als Held des Tages beschrieben wird. Doch bescheiden spielt er seine Tat herunter. «Ich bin kein Held», behauptet er, «ein Held weiss, worauf er sich einlässt. Ich aber handelte instinktiv und tat bloss meinen Job, um meine Passagiere zu retten.»
Immer wieder hat Neuman seit jenem 10. Oktober erklären müssen, weshalb er den Terroristen nur überwältigt, aber nicht umgebracht hat. Er habe ihn eben nicht als Feind, sondern als Roboter gesehen. «Ich fragte mich: Weshalb tut er das? Weshalb gibt er nicht auf?» Später erfuhr er die Identität des Attentäters. Der Mann hiess Rafik Ali Rahaman Hamad, wohnte in Kalkilya, im Westjordanland, war 31 Jahre alt, Mitglied der Hamas und Vater von vier Kindern. Viele Israeli setzen nun ihre Hoffnung in die international umstrittene Mauer, die im Westjordanland errichtet wird. Seit im Oktober 2002 der Abschnitt im Norden fertiggestellt worden ist, seien die Anschläge durch Attentäten aus dieser Region drastisch zurückgegangen, unterstreicht die Regierung. Noch steht erst ein Viertel des auf 700 Kilometer Länge geplanten «Antiterror-Zauns».
Privat nimmt der Busfahrer das Taxi
Solange die Palästinensergebiete nicht vollständig abgeriegelt sind, rechnen die Fahrer damit, zur Zielscheibe von Terroristen zu werden. «Wir alle haben Angst», gibt Baruch Neuman zu, «aber wir verdrängen sie. Ich frage mich, woher er kommen wird, ob ich den Terroristen sehen werde.» Viele seiner Kollegen helfen sich mit schwarzem Humor über die Bedenken hinweg. «Wer ist der Nächste?», meinen sie sarkastisch, oder sie sprechen vom «palästinensischen Roulette», bevor sie sich ans Steuer setzen. Und dann sagt Neuman Sätze, die vernünftig klingen sollen, aber den Irrsinn des Terrors und des Hasses nicht erträglicher machen können. Sätze wie: «Man kann ja das Leben nicht anhalten.» Oder: «Man gewöhnt sich an dieses unheimliche Risiko.»
Neuman ist zwar nicht religiös. Aber er ist überzeugt, dass «Gott an jenem Tag Überstunden gemacht hat», um die Passagiere und ihn zu retten. Seither verstaut er in seiner Mappe Gebetbücher, die er, sicher ist sicher, auf den Fahrten neben sich hinter der Türe aufbewahrt.
Wenn er allerdings privat unterwegs ist, verzichtet er auf öffentliche Verkehrsmittel. Er traut nur sich selber, will sein Leben nicht einem Kollegen anvertrauen. «Ich nehme lieber ein Taxi, statt mich einer Gefahr auszusetzen.»