Der alte Mann hinkte am Stock ins Studio Bern. Er trug einen Drei­reiher, obschon es heiss war. Ich war mächtig beeindruckt von dem Gast, den ich inter­viewen durfte. Eine historische Figur: George H. Gallup, ein Pionier der Markt- und Meinungsforschung. Er hatte ein Sommerhaus oberhalb des Thunersees und beehrte das Schweizer Radio mit ­einem Besuch. Ich erinnere mich nicht mehr daran, was er damals, vor vierzig Jahren, alles erzählte. Ich weiss nur noch, dass ich ihm, mutig, wie ich zu sein glaubte, seine grösste Fehlleistung vorhielt. Gallup hatte, wie alle andern Umfrageinstitute, 1948 den Sieg des Herausforderers Dewey über Präsident Truman voraus­gesagt, mit einem Stimmenanteil von 50 zu 44 Prozent. Der Sieg Deweys schien so ­sicher, dass die Chicago Tribune in ihrer Früh­ausgabe gross titelte: «Dewey Defeats Truman». Es kam anders. Truman gewann – mit einem Stimmen­anteil von 50 zu 45 Prozent.

Gallup erklärte mir geduldig, dass Meinungs­umfragen immer nur Momentaufnahmen sein können. Bei den Wahlen 1948 habe die Volksstimmung im letzten Augenblick gedreht, und dies hätten die Meinungsumfragen nicht mehr in Betracht ziehen können. Meinungsum­fragen haben immer wieder nicht alles in Betracht ziehen können. Dies ist auch heute noch so. Ging nicht Cameron am 23. Juni dieses Jahres mit der Gewissheit ins Bett, dass der Brexit abgelehnt werde? Hatte nicht Mitt Romney vor vier Jahren seinen Demoskopen geglaubt, die ihm den Sieg über Barack Obama prophezeiten? Und wie verhält es sich mit unserem guten Claude Longchamp und seiner Fehlprognose zur Minarett-Initiative?

Gallup, der Bauernbub aus Iowa, war übrigens nicht, wie ich früher glaubte, der Vater der Meinungsumfragen. Schon im 19. Jahrhundert befragten Zeitungen ihre Leser. 1936 sagte die Literary Digest aufgrund von über zwei Millionen eingegangenen Antworten den Sieg des Republikaners Landon über Präsident Roosevelt voraus. Gallups Sample, bestehend aus 50 000 Personen, war «wissenschaftlicher». Anders als die Literary Digest, lag er mit seiner Prognose richtig und begründete damit seinen Ruf.

In den letzten Jahrzehnten sind die Meinungsinstitute zu Hunderten aus dem Boden geschossen, die Pilze müssten sie beneiden. Wer als Firma oder als Politiker etwas auf sich hält, leistet sich eigene geheime Umfragen. Das ­Geschäft läuft. War Mister Gallup «wissenschaftlich», so sind seine Nachfolger noch wissenschaftlicher. Sie zählen nicht nur, sie ziehen alle möglichen Faktoren in Betracht, um zu ­einem «richtigen» Ergebnis zu kommen. Sie adjustieren ihre Rohdaten. So wie die Klima­forscher, welche die real gemessenen Werte mit Hilfe statistischer ­Modelle zu «wahren» Temperaturen abändern, die beweisen sollen, dass die Erderwärmung gefährlich fortschreitet. Wie die Klimaforscher wollen uns auch die pollsters mit Kurven und Grafiken von der Wissenschaftlichkeit ihrer Arbeit überzeugen.

Wer sich heute täglich über den neusten Stand des Wahlfiebers orientieren will, tut dies am einfachsten mit einem Klick auf Real Clear Politics, wo der Durchschnitt der neusten Resultate der zehn wichtigsten (oder als wichtig erachteten) Umfrageorganisationen errechnet wird. Welche der zehn sind zuverlässig, welche weniger? Dies ändert sich laufend. Wer zuletzt ins Schwarze getroffen hat, lacht am besten.

Womit wir bei 538 angelangt sind oder Five Thirty Eight. 538 ist die Zahl der Stimmen des Wahlmännergremiums, das letztlich den Präsidenten wählt. 538 bezieht sich aber auch auf ­eine Website, die auf die Analyse von Meinungsumfragen spezialisiert ist, einst ein lizenzierter Bestandteil der New York Times online. Viele schwören auf 538 und ihren Gründer und Chefredaktor Nate Silver. Dessen Ruhm geht auf die Wahlen von 2008 zurück, bei denen er sich als unglaublich treffsicher erwies und die Ergebnisse in ­allen Staaten ausser einem richtig voraussagte.

Freude am Lügen

Der aus Michigan stammende 38-jährige Silver soll als Kind ein Rechenkünstler gewesen sein. Seine Liebe galt dem Baseball. Als Student kam er auf die originelle Idee, einen Algorithmus zu entwickeln, der anhand statistischer Zahlen die Leistungsentwicklung von Baseballspielern voraussagen konnte oder können sollte. Silver ist der berühmteste sabermetrician. Das Wort, sollten Sie es zufällig nicht kennen, ist von SABR abgeleitet, Society for American Baseball Research. Ein sabermetrician ist folglich ein Gelehrter der Baseballstatistik. Es gibt nichts, was es nicht gibt.

«Sabermetriker» Silvers Methode «balanciert die Meinungsumfragen mit vergleichenden demografischen Daten aus». Silver gewichtet «jede Meinungsumfrage basierend auf der historischen Leistungsbilanz, der Grösse des Samples und der Neuigkeit der Umfrage». Wer mehr wissen will, kaufe sich Silvers 2013 in Deutsch erschienenes Buch «Die Berechnung der Zukunft – Warum die meisten Prognosen falsch sind und manche trotzdem zutreffen». Zu den «meisten Prognosen» gehört auch diejenige Silvers über die Gouverneurswahlen von 2014. Er prophezeite 19 republikanische und 16 demokratische Siege. Gewählt wurden 24 Republikaner und 11 Demokraten. Keine Meisterleistung des coolen Nerds. Täglich verrät uns 538 die prozentualen Chancen von Clinton und Trump. Das tun auch die weniger wissenschaftlichen Wettbüros. Wie bei einer Aktie an der Börse schwankt der Wert von Tag zu Tag, manchmal von Stunde zu Stunde.

Befragt wird per Telefon oder online. Jede Umfrageorganisation hat ihre eigene geheime Formel, wie sie ihr Sample zusammensetzt. ­Allen Anfragen haftet ein ärgerlicher Mangel an. Die Befrager können nicht wissen, ob die ­Befragten die Wahrheit sagen. Manchmal nämlich lügen die Menschen. Sie lügen, weil sie finden, es gehe niemanden etwas an, wie sie wählen werden. Oder weil sie sich ihrer Meinung schämen, weil sie die Meinungsforscher zum Narren halten möchten oder, ganz einfach, weil sie am Lügen Freude haben.

Hanspeter Born, ehemaliger Weltwoche-Auslandredaktor, verfolgt den Endspurt der US-Wahlen aus sicherer Ferne und sammelt Nachrichten aus Medien links und rechts des Mainstreams. Als Austauschschüler ­erlebte er vor sechzig Jahren seinen ersten Wahlkampf in den USA. 1980 berichtete er für das Schweizer Radio über den ­unerwarteten Sieg von Ronald Reagan. 2008 reiste Born ein letztes Mal zu Wahlveranstaltungen und liess sich vom aufsteigenden Stern Obama blenden.