Geräuschlos betritt sie die Küche – blonde Haare, blaue Augen. «Da ist ja die Madame», sagt Karoline Seibt, ihre Mutter, die mit mir Kaffee trinkt. Die selbständige Rechtsanwältin, die mit ihren zwei Töchtern in einem Vorort von Münster wohnt, arbeitet von zu Hause aus. Naomi, 19, sagt kein Wort und bringt erst den Abfallsack vor die Türe, um mir dann ihren Arm entgegenzustrecken. Zaghaft, ganz ohne Händedruck, grüsst sie: «Hallo.»

Zupackender sind die Texte, die über die «Anti-Greta» verfasst werden. Vom Harfe spielenden «neuen Star der globalen Klimaleugnerszene» war in der NZZ am Sonntag die Rede – «jung, gebildet, blond, eloquent, libertär, AfD-Fan» –, dem über Youtube 46 000 Abonnenten folgen. «Von Erderwärmung», wusste die Journalistin, «dürfte Seibt jedoch so viel Ahnung haben wie Klimawissenschaftler von Harfen.»

 

Politik fand sie öde

Wiederholt liest sie solche Texte. Doch diese Einordnung scheint sie getroffen zu haben: «Ich spielte Geige, heute Klavier», korrigiert sie aufgewühlt. In ihren Augen sammeln sich Tränen. Am Telefon habe sie der Journalistin minutenlang von der Klimawissenschaft erzählt, warum sie den menschengemachten Klimawandel bezweifle. Nur stand nichts davon im Text. «Lieber schrieb sie, ich hätte keine Ahnung.»

Sie zeigt ihr Zimmer. Auf dem Schreibtisch türmen sich zwei Kartonschachteln, eine Proteindose und ein Buch: Diese Improvisation ist ihr Videostudio. Sie stellt sich davor hin, nachdem sie das iPhone zuoberst platziert hat. So filmt sie sich seit acht Monaten, um anschliessend die Beiträge auf Youtube zu laden und Hunderttausende Nutzer zu erreichen.

«Hallo, Andersdenkende», grüsst Seibt jeweils, bevor sie ihre «unpopulären politischen Meinungen» kundtut. Während Gleichaltrige fürs Klima streiken, argumentiert Seibt, warum sie den Zusammenhang zwischen CO2-Ausstoss und Erderwärmung anzweifelt, wobei sie stets auf ihre Quellen verweist. Darauf angesprochen, redet sie sich in einen Fluss. Leidenschaftlich spricht sie über das Klima als «hochkomplexes System», bei dem etliche Faktoren mit berücksichtigt werden müssten für ein schlüssiges Modell – «allen voran die Sonne», wie sie betont. Diese habe eine immense Bedeutung, ebenso die Komposition der Erdoberfläche, die Atmosphäre oder die negativen Rückkopplungseffekte, die dafür sorgten, dass sich das Klima von selbst stabilisiere.

Das Video «Klimawandel – Alles nur heisse Luft. . .?», in dem sie umfassender argumentiert, wurde knapp 180 000-mal aufgerufen. Als «Anti-Greta» wolle sie trotzdem nicht bezeichnet werden. «Ich bin Naomi Seibt und nicht gegen Greta. Ich bin für die Meinungsfreiheit.»

Es ist dieses Recht, die eigenen Ansichten kundzutun, mit dem die junge Frau polarisiert: Unverblümt warnt sie vor der «sozialistischen Diktatur» und plädiert für eine «direktere Demokratie», weshalb sie die AfD wählte, wie sie öffentlich einräumte. Der Spiegel attestierte ihr «rechte Brachialrhetorik», Bento, aus dem gleichen Medienhaus, sogar «Rechtsextremismus».

Selbst bezeichnet sie sich als «libertär», was sie mit «so wenig Regierung und so viel Freiheit wie möglich» umschreibt. Während wir am Esstisch sitzen, hat sich ihre Mutter zurückgezogen. Denn Hilfe braucht ihre Tochter keine. Alles mache sie selber, sagt Naomi Seibt, «jedes Interview, jede Rede, jedes Video». Dass sie mit ihren Meinungen aneckt, sei ihr bewusst. Grenzen in Bezug auf das, was man sagen dürfe und was nicht, kenne sie keine. Ihr sei lieber, ein echter Nazi oute sich. «Dann können wir ihn entblössen», fügt sie an. Sonst verstecke sich dieser im rechten Flügel der AfD, von der sie sich parteipolitisch abgrenzt.

«Ich will keine Politkarriere», sagt sie. Dass sie sich überhaupt politisch exponiere, sei nicht absehbar gewesen. Politik fand sie früher «total öde». Lieber zeichnete sie. Vor allem Gesichter, noch bevor sie laufen konnte. Das war ein erstes Anzeichen für ihren überdurchschnittlichen Intellekt. 157 IQ-Punkte habe ein Test ergeben, sagt die Einzelgängerin, die nie einen grossen Freundeskreis hatte. Sie konnte sich alleine beschäftigen, mit Technik, den Naturwissenschaften, mit Chemie- und Physikbaukasten. Alljährlich bestritt sie den Wettbewerb «Jugend forscht», den sie mehrmals gewann. Das Abitur schloss sie mit sechzehn ab, zwei Jahre verfrüht, mit Bestnote. Ein «Nerd» sei sie gewesen, ein «richtiger Bücherwurm». Der Roman «Sophies Welt» habe sie am meisten beschäftigt. Darin denkt eine Vierzehnjährige, angeregt durch mysteriöse Briefe von ihrem Philosophielehrer, über ihr Verhältnis zur Welt nach.

Um 2015 entwickelte die damals Vierzehnjährige politisches Interesse. Während Gleichaltrige pubertierten, nahm ihre Mutter sie – die heute parteilos ist und damals in der CDU war – an eine Parteiveranstaltung mit. Naomi Seibt erinnert sich an den Wortlaut einer Rede: «Die AfD müssen wir eliminieren», zitiert sie. «Ich hatte Gänsehaut, das fand ich total undemokratisch.»

Als ihre Mutter begann, sich mit der Migrationskrise auseinanderzusetzen, zeigte sie ihrer Tochter den Youtuber Stefan Molyneux. Der kanadische Libertäre sei für sie wie der Philosophielehrer aus «Sophies Welt» gewesen, sagt Naomi Seibt, die sofort eine Faszination für kritische Blogger entwickelte. So auch für Jordan Peterson. Vom kanadischen Star-Intellektuellen, der sich gerne quer zum Mainstream stellt, habe sie gelernt, stets die Wahrheit zu sagen.

Fortan äusserte sie ihre kritische Meinung, vor allem zur Flüchtlingspolitik und in der Schule. «Warum öffnen wir unsere Grenzen? Warum helfen wir nicht vor Ort?» Dass sie als Rassistin bezeichnet worden sei, findet sie komisch: «Ich hatte nie etwas gegen Ausländer, auch nie schlechte Erfahrungen. Mich beschäftigte die philosophische Auseinandersetzung.»

Dass sich Seibt, die ihr Wirtschaftsstudium abgebrochen und ein Psychologiestudium ausgesetzt hat, als Youtuberin bezeichnen kann, ist Zufall. Als die AfD nach dem besten Gedicht (Thema: «Mut für Mädchen») suchte, gewann sie prompt. Und weil sie keine Lust hatte, an die Berliner Preisverleihung zu reisen, verlas sie ihre Zeilen online. Schnell zählte der Youtube-Post 30 000 Aufrufe, wofür sie sich per Video bedankte. Dabei stellte sie gleichzeitig ihren eigenen Kanal vor. Im Juli 2019 veröffentlichte sie darin ihren Klima-Beirag. Da meldete sich Wolfgang Müller vom Europäischen Institut für Klima und Energie, das gegen den Klimakonsens lobbyiert. Ob sie im November an einer Veranstaltung teilnehmen wolle? Seibt spricht von einem «spannenden Tag», an dem sie «komplett spontan» eine kurze Rede hielt.

Besonders schwärmt sie von Christopher Monckton, einem Klimaskeptiker, neben den sie sich damals setzte. Der Brite ermöglichte ihr den Kontakt zum Heartland Institute, einem Think-Thank und einer der umstrittensten Lobby-Firmen weltweit in Sachen Klimaskepsis. Sogleich lud sie die amerikanische Organisation zum Climate Reality Forum im Dezember in Madrid. Dort hielt sie erneut eine Rede – worauf der Vorwurf lautete, dass Seibt die «Marionette» der Klimaskeptiker sei. Noch heute ärgert sie sich darüber, weil sie erst seit Anfang Jahr und ganz normal beim Heartland Institute angestellt sei. Der Vertrag, betont Seibt, sei ihr erst nach Madrid angeboten worden. «Wollen Sie ihn sehen?»

 

Leichenwagen von der Antifa

Sie scrollt durch ihre E-Mails, bis sie das Dokument findet. Darin steht, dass es Seibt bis zum Vertragsende (am 31. März) freigestellt sei, wann sie Videos über Energie-, Umwelt- und Klimathemen produziere. «Periodisch» gehöre das zu ihren Aufgaben, ebenso wie Interviewanfragen zu beantworten. Statt Unsummen bezieht sie einen durchschnittlichen deutschen Monatslohn. Ihre Videos würde sie aber auch ohne Lohn drehen, sie wohne ja noch zu Hause.

Erneut zückt sie ihr Handy. Auf Youtube ersucht Seibt um Spenden, da sie keine Werbung schaltet. Exklusiv gewährt sie Einblick in ihre Kontoeingänge, die mal 50, mal 10 Euro betragen; die 480 Euro, die Ende letzten Jahres eingingen, sind ein Ausreisser. Zweitausend Euro kämen pro Monat zusammen, maximal. Das bringe sie ihrem Ziel, in die USA zu ziehen, näher. Ende Februar dürfe sie vorerst an die Conservative Political Action Conference, eine Konferenz konservativer Aktivisten in Maryland.

Darauf freue sie sich, endlich weg aus Deutschland. «Hier habe ich keine Zukunft», sagt sie, weil es für sie zu gefährlich sei. Sie kriegt Drohanrufe, während unseres Gesprächs klingelt es mehrmals, ohne dass sich jemand am anderen Ende der Leitung meldet. «Sie sagen, sie wollten mich umbringen» – bekennende Linksextreme, die aber anonym bleiben. Erst kürzlich bestellte ihr die Antifa einen Bestatter, der mit dem Leichenwagen vorfuhr. Das sei eingefahren, meint sie. «Viel schlimmer finde ich aber, wenn man mir nicht zuhört, nur weil ich andere Ansichten habe.» Sie schlüpft in ihre Jacke. Bereits wartet das nächste Treffen mit einer linken Reporterin. «Ich rede mit allen», sagt Naomi Seibt und reicht mir zur Verabschiedung die Hand.