Die Steirer, so nennen sich die Bewohner der Steiermark, singen in ihrer Hymne, dass das Land «hoch vom Dachstein an, wo der Aar’ noch haust, bis ins Wendenland im Tal der Sav’» reiche. Diese Strophe umgibt eine nostalgische Wehmut. Das Wendenland, dort, wo die «Windischen», die Slowenen, wohnen, ist die ehemalige Untersteiermark. Sie heisst auch heute noch Stajerska, gehört aber seit über hundert Jahren nicht mehr zu Österreich.

 

Testament in Kurrentschrift

1918 fiel die Untersteiermark an das neue Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen, heute liegt sie in Slowenien. Die Wunde dieses Verlusts, die mit der Vertreibung der verbliebenen deutschen Untersteirer am Ende des Zweiten Weltkriegs noch einmal schmerzhaft aufgerissen wurde, ist längst verheilt. Die Jungen auf beiden Seiten der Grenze, auch die vielen slowenischen Steirer, die «herauf» zur Arbeit in der Wirtschaft des Grossraums von Graz kommen, wissen nichts mehr davon.

So wie mit ihrem Land tun sich die Steirer auch mit sich selbst schwer. In einem anderen bittersüssen Lied, das dem immer noch geliebten Habsburger Erzherzog Johann, dem Vater der modernen Steiermark, gewidmet ist, sagen sie von sich: «Wo I geh’ und steh’, tuat mir das Herz so weh’.» Unter der Dirndlbluse und dem Lodenjanker schlägt ein trauriges Herz. Das ist wohl ein Erbe aus der slawischen Herkunft der Steirer.

Die Kommunisten, die nicht nur dem Namen nach welche sind, stellen in Graz die Bürgermeisterin.

An einem feuchtkalten Novembertag des Jahres 1971 starb Landeshauptmann Josef Krainer unerwartet auf einer Jagd. Er war seit 1948 im Amt gewesen. Im Rock des Toten fand man einen Zettel, auf den er den Namen seines Nachfolgers in Kurrentschrift geschrieben hatte und die Erklärung dazu: «Mit ihm kann man die Steiermark politisch halten.» Man – damit war die ÖVP gemeint, die christlich-soziale Österreichische Volkspartei. Tatsächlich gelang es der ÖVP dann, die Steiermark noch über drei Jahrzehnte zu «halten». Die dominierende Gestalt dieser Jahre war Josef Krainer, der Sohn.

Die Vorherrschaft der ÖVP in jener Zeit beruhte auf einer Hegemonie über das Vorfeld des Politischen in der Zivilgesellschaft, die damals noch nicht so hiess. Dem hochgebildeten und weltgewandten «jungen» Krainer gelang es, ein der ÖVP gewogenes Umfeld in gebildeten Kreisen, den Universitäten und Kultureinrichtungen, zu schaffen. Sie hatte gewissermassen das Monopol auf ein aufgeklärtes, nicht provinzielles Steirertum.

 

Schwarzenegger mit Krainer-Büste

Unter dem weiten Mantel der ÖVP hatten viele Platz, von der Kunst-Avantgarde bis zur Stammklientel der Beamten und Bauern. Nicht zuletzt war auch die Kirche noch eine prägende Kraft und Krainer ein bekennender Katholik. Um zu ermessen, wer dieser Mann war, hier eine postume Szene: Kürzlich kam Arnold Schwarzenegger nach Graz, in seine Heimatstadt, mit einer Krainer-Büste im Gepäck. Zum Gedenken an seinen «Freind Joschi» soll sie in der Stadt aufgestellt werden.

Von der «steirischen Breite» war damals gern die Rede. Das diente der ÖVP dazu, die SPÖ verlässlich bei der Stange, aber an zweiter Stelle zu halten. Diese fand kein Rezept dagegen. Innerlich abgefunden hat sie sich damit aber nie, auch wenn ihr derzeitiger Vorsitzender versichert, dass ihn mit dem schwarzen Landeshauptmann seit «vielen Jahren eine Freundschaft verbindet». Gleichwohl macht sich auch er Hoffnung, jetzt einmal Erster zu werden.

 

«Hightech seit 1446»

Das wirtschaftliche Herz des Landes schlug immer in der Obersteiermark. Der Bergbau und die Eisen- und Stahlindustrie in diesen Gebirgstälern prägen seit je das Selbstgefühl des ganzen Landes. Der steirische Erzberg ist die mythische Mitte des Landes. Seit mindestens 1300 Jahren wird hier in einem von bizarren Bergketten umgebenen Tagbau Eisenerz abgebaut. Wahrscheinlich kannten schon Kelten und Römer die Lagerstätte. Mit nur einigen Hundert Leuten wird heute dort mehr Erz gefördert und in die Hochöfen von Linz und Donawitz gebracht als jemals zuvor in der langen Geschichte.

1840 gründete Erzherzog Johann die spätere Montanuniversität in Leoben, heute eine Institution von Weltgeltung. An der Semmering-Schnellstrasse steht bei der Abzweigung nach Kapfenberg: «Hightech seit 1446». «Wir produzieren Stahl seit Hunderten Jahren und nicht erst seit 1939 wie Linz», sagt der ehemalige Chef von Böhler, Claus Raidl. Nach dem Krieg konnten die Bergknappen und Stahlarbeiter in bescheidenem Stolz von sich sagen, dass Österreich den Wiederaufbau nicht zuletzt ihrer Arbeit verdanke.

Mit dem Zusammenbruch der verstaatlichten Industrie in den achtziger Jahren ist diese Welt untergegangen. Der Bergbau ist längst aufgelassen worden, von den alten Industrien wurden nur die behalten, in denen man stark war und zur Weltspitze vorstossen konnte. Dennoch gelingt es der Steiermark nicht, ein Wirtschaftsland zu werden wie Oberösterreich. Immer ist das Land auf der Suche nach einer neuen Gründergestalt wie dem unvergessenen Erzherzog. Der «Autocluster» mit einer ausgedehnten Zulieferungsindustrie für die deutschen Autobauer und Fertigungsstrassen für die internationale Autoindustrie ist mit diesen in die Krise gerissen worden und muss um weitere Aufträge zittern.

Die Steiermark ist ein Land der Wechselwähler. Schon 1973 hatte Graz einen Bürgermeister der FPÖ. 2005 bekam das Land für zehn Jahre einen Landeshauptmann von der SPÖ. Bei der Nationalratswahl 2013 war die FPÖ schon die stärkste Partei, bei der Gemeinderatswahl 2015 war es wieder die ÖVP, die Landtagswahl im selben Jahr gewann wie schon fünf Jahre zuvor die SPÖ, bei der Bundespräsidentenwahl 2016 gewann der Kandidat der FPÖ. Bei den Nationalratswahlen 2017 und 2019 lag die türkise ÖVP an der Spitze.

Die Steiermark war politisch nie so schwarz, wie es schien, und sie ist es auch heute nicht. Wenn es dazu eines Beweises bedurft hätte, war es das Erdbeben bei der Gemeinderatswahl im Herbst 2021 in Graz. Ein orientierungslos gewordenes bürgerliches Publikum verhalf den Kommunisten, die nicht nur dem Namen nach welche sind, zur Bürgermeisterin in der zweitgrössten Stadt Österreichs. Seither wird die Stadt von einer Koalition aus Kommunisten, Grünen und den in der Stadt völlig bedeutungslos gewordenen Sozialdemokraten regiert.

 

Deutschnational und grossdeutsch

Auch in der Steiermark erlebt die ÖVP den schmerzhaften Abstieg vom Höhenflug unter Sebastian Kurz auf den Boden der politischen Normalität. Und die FPÖ findet wieder zurück zur Stärke vor den Turbulenzen um das Ibiza-Video. In der Steiermark gibt es seit je eine starke, agrarisch geprägte «nationale» Unterströmung. National, das heisst in Österreich deutschnational und grossdeutsch. Jenes Biotop also, aus dem sich die FPÖ nährt. Das gilt besonders für die Obersteiermark, während in den südlichen, eher kleinbäuerlich geprägten Gegenden der katholische Bauernbund dominierte.

Diese Welten zusammenzuhalten, war für die ÖVP immer eine Überlebensraison. Es war ausgerechnet ein christlich-sozialer ehemaliger KZ-Häftling, Alfons Gorbach, Bundeskanzler von 1961 bis 1964, der die «Ehemaligen» (Nationalsozialisten) in die ÖVP integrierte. Es gelang ihm sogar, einen NS-Bauernführer zu bewegen, zur Wahl der ÖVP aufzurufen. Dasselbe taten übrigens im benachbarten Bundesland Kärnten die Sozialisten mit «ihren» Nazis.

 

Dolchstosslegende der Freiheitlichen

Aber dieser historische Kompromiss ist lange schon zerbrochen. Die FPÖ ist längst über ihre Herkunft hinausgewachsen und tief in die ehemalige Wählerschaft der ÖVP und – gerade in der industriellen Obersteiermark – auch der SPÖ eingedrungen. Im Sog der Bundes-FPÖ rechnet sie nun mit einem Sieg bei der Landtagswahl in der Steiermark. Das wäre ein politischer Paukenschlag, denn seit Jörg Haider in Kärnten Ende der achtziger Jahre hat es das nirgends mehr gegeben. Bei der Nationalratswahl gewannen die Freiheitlichen elf von den dreizehn steirischen Wahlkreisen, alle mit über 30 Prozent der Stimmen, einen in der südsteirischen Weinregion (die besonders bei Touristen aus der Schweiz sehr beliebt ist) mit sogar 39 Prozent.

Dass der Bundespräsident dem Wahlsieger vom 29. September den Auftrag zur Regierungsbildung versagt hat, könnte ein zusätzlicher Schub für die Freiheitlichen sein, denen man den Sieg «gestohlen» habe. Diese Dolchstosslegende fürchtet der jetzige steirische Landeshauptmann Christopher Drexler von der ÖVP besonders. Er hat den Bundespräsidenten deshalb scharf kritisiert. Im Blick auf die Steiermark hat die ÖVP sogar kurz überlegt, den Regierungsbildungsauftrag, den der Bundespräsident an Bundeskanzler Karl Nehammer vergeben hat, zurückzuweisen. Der Hintergedanke dabei war natürlich, dass die FPÖ ohnehin keinen Koalitionspartner finden würde.

Drexler nennt die Steiermark einen «Swing State». Er selbst schwankt auch. Einmal redet er davon, dass es bei der Landtagswahl am 24. November einen «Dreikampf» von ÖVP, SPÖ und FPÖ geben werde wie de facto auch schon 2015; dann wieder möchte er ein «Duell» gegen den freiheitlichen Spitzenkandidaten Mario Kunasek um den ersten Platz führen. Dieser, der in der letzten türkis-blauen Regierung in Wien kurz Verteidigungsminister war, ist ein schwieriger Gegner. Er kommt mit bürgerlichem Habitus daher, zeigt sich bodenständig im Trachtengewand, das dem eher urban-intellektuellen Drexler nicht so recht passen will, und gibt sich zuversichtlich: «Das grüne Herz Österreichs wird bald blau schlagen.»