Aus San Francisco erreicht mich die Nachricht eines jungen Unternehmens, dessen Geschäftsmodell die Zukunft der Medien betrifft, beeinflusst oder bestimmt (je nachdem, wie offen man ist, dem jeweils neusten Trend Glauben zu schenken). Die Softwarefirma heisst Substack und «weist Merkmale auf, die an eine Nachrichtenredaktion erinnern – im Grunde handelt es sich dabei aber um eine Plattform für Newsletter von Influencern, Experten, Persönlichkeiten und politischen Querdenkern», stand im New Yorker.

Ihr Kolumnist, immer interessiert an der Zukunft im Allgemeinen sowie der Medien im Besonderen, ist deshalb seit neustem einer der Autoren, die ihre Werke mittels dieser Plattform weiterverbreiten. Falls alles according to business plan läuft, finden dort «Tausende von Schreibern» (New Yorker) viele, viele neue Leserinnen und Leser. Vielleicht sogar solche, die bereit sind, für Texte zu zahlen (angeblich bereits 250 000 Nutzer, die zum Beispiel monatlich fünf Dollar überweisen oder fünfzig Dollar im Jahr). Die Substack-Betreiber behalten davon 10 Prozent; «Solange du kein Geld verdienst, verdienen wir auch nichts», geht der Slogan.

Die Darreichungsform des Newsletters ist keine neue für MvH, Abonnenten wissen das. Geld hat er damit noch keines verdient, nebenbei erwähnt, seinen Content gibt’s umsonst, für den Versand entrichtete er die längste Zeit Gebühren. Ein Dummengeschäft, bei dem ich der Dumme bin? Nicht so in meinen Augen: Ich erreiche ein zusätzliches Publikum, und dazu lerne ich einiges über sowie von meinen Nutzerinnen und Nutzern. Weniger so, wie Sie jetzt vielleicht meinen – ich bin der andere Mark, nicht Zuckerberg, meine MvH Industries ist ein Kleinstbetrieb, kein Facebook. Und also verticke ich keine User-Daten an politische Bewegungen oder Firmenchefs. Für mich sind Einsichten und Rückmeldungen, die man als Autor von elektronisch versendeten Newslettern zahlreicher erhält, eine Art Austausch am Kaffeeautomaten oder auf dem Betriebsfest, die es beide in meinem Unternehmen nicht gibt; manchmal verschaffen sie auch Erkenntnisgewinn.

Eine Zeitlang schrieb ich über Berühmtheiten; solche Artikel werden mehrheitlich von Frauen gelesen beziehungsweise kommentiert. Wohingegen meine aktuellen Texte, in denen es zur Hauptsache um Orte, Dinge, Erzeugnisse et cetera geht, die ich mag, vornehmlich Männer beachten. Überraschender als die Feststellung «Frauen mögen Stars, Männer interessieren sich für Männer» ist möglicherweise, dass recherchierte Beiträge deutlich weniger Widerhall erzeugen als subjektive, persönliche Betrachtungen, in meinem Fall auf jeden Fall. Die Kolumne, in der ich beschrieb, wie ich Motorrad fahren lerne, lasen dreimal so viele Abonnenten zu Ende wie meinen gleich langen Bericht über die Entwicklung des Kunstmarkts während der Pandemie («Scrolltiefe» heisst das). Was zeigt, anekdotisch zumindest, dass die oft geäusserte Behauptung, man interessiere sich für Fakten, nicht für Meinungen, manchmal nicht mehr ist als eine Behauptung.

Die wichtigste Leserbotschaft aber nimmt man als Schreiber nur ungern zur Kenntnis: nämlich dass es nicht tiefschürfende Analysen oder schöne Sätze sind, mit denen der Autor sein Publikum fesselt. Sondern Begriffe, Begebenheiten und Ähnliches, die für Leserinnen und Leser aufgeladen sind, die ihr oder ihm etwas bedeuten («Schlüsselreize»). «Mir verhilft der Kafi in meinem Stammlokal in einem Bündner Bergdorf zur Verbindung mit einer Schweiz, die nicht meinem städtischen Leben gleicht», schrieb ein Leser auf meine (häufigen) Nennungen von Cafés, in denen mir der Espresso nicht schmeckt; auf mein Qualitätsurteil ging bisher keiner ein. Und mein Nachruf auf den konkursiten Herrenausstatter Brooks Brothers führte zu einem Paket in der physischen Post, darin befand sich eine note, in der der Absender festhielt, er habe oft bei der amerikanischen Kette eingekauft, sowie ein – Brooks-Brothers-Holzkleiderbügel, den er nicht mehr brauche (dass ich darüber referiert hatte, was der Niedergang klassischer Männerkleidung gesellschaftlich bedeute, löste nichts aus).

«Lektionen in Demut» kann man dem sagen. Mal sehen, ob meine Substack-Präsenz auch solche erteilt.