«Wenn staatliche Willkür ohne Skrupel die Menschen schlägt, die ihr verdächtig sind, dann ist es nicht nur ein Einzelner, der verfolgt wird, es ist die ganze Nation, die entwürdigt wird.» Das schreibt Benjamin Constant, der französisch-schweizerische Schriftsteller, Politiker und Mitbegründer des Liberalismus, schon im frühen 19. Jahrhundert. Manchen Politikern in der Schweiz scheint die Privatsphäre der Bürger weder heilig noch ein besonders schützenswertes Gut zu sein. Die Liste der Übergriffe ist lang. Man denkt da unweigerlich an die Fichen-Affäre und diverse Bespitzelungsoffensiven. An völlig Unbescholtene, die mit staatlicher Vollzugshilfe in der Öffentlichkeit verunglimpft, um ihre Existenzgrundlage gebracht, in Anstalten abgeschoben oder gar in den Tod getrieben wurden, nur weil sie in den Augen der Machthabenden die falsche Herkunft, das falsche Geschlecht, falsche politische Überzeugungen oder schlicht zu viel Zivilcourage hatten.

Die Würdenträger pflegen Staatsräson und öffentliche Interessen vorzuschieben, um je nachdem Selbstherrlichkeit, Unfähigkeit oder Profitgier zu kaschieren. Im Spätwerk «Martin Salander», 1886 erschienen, schildert Gottfried Keller in unnachahmlicher Weise den Typus des Filous, der im Namen des Fortschritts und Gemeinwohls nur noch in die eigene Tasche wirtschaftet und politisiert. Über einen Vertreter dieser Spezies heisst es im Buch, dass er «sein Privatglück an den durch seine Hände laufenden anvertrauten Gütern ein wenig gerieben hatte, um sie fruktifizieren zu lassen». Der Filou - häufig Parvenü, Opportunist und Spekulant in einer Person - übervorteilt oder, um es deutlich zu sagen, bescheisst die Gutgläubigen (heute würde man von Gutmenschen reden), putzt sich an ihnen die Schuhe ab, ruiniert sie.

Nur drei Jahre nach Erscheinen des Romans scheint es der Klüngel um den damals mächtigsten Bundesrat, Emil Welti, darauf abgesehen zu haben, Gottfried Kellers Filous punkto Skrupellosigkeit, krimineller Energie und Machtmissbrauch noch in den Schatten zu stellen. Das Privatglück zweier Menschen wird so grausam ausgelöscht, dass die beiden kurz nacheinander sterben. Dabei geht es nicht um irgendein Paar, sondern um einen der hoffnungsvollsten Schweizer Künstler der Zeit, Karl Stauffer-Bern, der in eben jenem Salander-Jahr 1886 wohl das faszinierendste Porträt des alten Gottfried Keller geschaffen hat, und um die einzige Tochter Alfred Eschers, des ungekrönten «Eisenbahnkönigs» und Gründers der Schweizerischen Kreditanstalt sowie der polytechnischen Hochschule ETH.

Diese Unglücksgeschichte, die später selbst den gefühlskalten Franz Kafka aufwühlt, findet sich zwar in unzähligen Geschichtsbüchern, aber oft zur spätromantischen Tragödie zwischen Künstler und Hautevolee verkitscht. Die Mehrzahl der Autoren beschränkt sich darauf, dem Publikum eine rührselig verharmlosende Soap zu servieren von der Tochter des Tycoons Alfred Escher, die mit dem Bundesratssohn Friedrich Emil Welti unglücklich verheiratet ist und dann mit dem Künstler Stauffer-Bern durchbrennt. Doch der Konflikt zwischen grosser Kunst und Grossbürgertum ist in diesem Drama ein Nebenschauplatz.

Und das soll eine Feministin sein?

Um dem Belle-Epoque-Stoff etwas zeitgemässes Leben einzuhauchen, wird Lydia Welti-Escher in neueren Büchern zur Feministin geläutert. Gewiss nimmt sie sich Freiheiten heraus, von denen andere Frauen nicht zu träumen wagen. So will sie sich aller «Courmacherei» zum Trotz ihren Ehemann nicht aufschwatzen lassen, sondern selber aussuchen. Und sie äussert sich mitunter scharfzüngig zur Situation der Frau und ihrer Emanzipation. Charme und feine Bildung, sagt sie einmal, würden einer Schweizer Durchschnittsgattin von den Männern «als Criminalverbrechen vorgeworfen». Ihr eigenes weibliches Personal scheint sie allerdings ziemlich von oben herab behandelt zu haben; jedenfalls bringen die Bediensteten wenig schmeichelhafte Anekdoten über sie in Umlauf, die sogar den behäbigen Conrad Ferdinand Meyer etwas ungehalten reagieren lassen. In einem Brief stöhnt er über die Escher-Tochter: «[. . .] eine Puppe, sage ich Ihnen».

Die politische Tragweite des Skandals, dem Lydia Escher und Karl Stauffer-Bern schliesslich zum Opfer fallen, ist bis jetzt seltsam unausgelotet geblieben. Dabei handelt es sich um ein geradezu unheimliches Lehrstück, wie extreme Filoukratie funktioniert, wie ein Intrigant mit der Staatsmacht im Rücken sich auf Kosten eines Romeo und einer Julia bereichert - unheimlich deshalb, weil wir gegen Filous in Politik und Wirtschaft auch heute nicht gefeit sind. Es ist das Verdienst von Joseph Jung, der zuletzt mit einer umfangreichen Biografie über Alfred Escher hervorgetreten ist, dass er der politischen Kabale und dem Machtfilz in der Affäre Welti-Escher in seinem neuen Buch die längst fällige Aufmerksamkeit schenkt. Der Chefhistoriker der Credit Suisse, deren Geschichte er aufgearbeitet hat, ist als sachlich-nüchterner Geist bekannt. Beschreibt er indes den vom Welti-Clan inszenierten «mörderischen Showdown», wird Joseph Jung ungewöhnlich emotional. «Schamlos» habe Bundesrat Emil Welti den intriganten Sohn in seinen dunklen Machenschaften unterstützt, mit viel Korruption einen bedeutenden Künstler zuerst in italienischen Gefängnissen, dann im Irrenhaus verschwinden lassen. Aus seinen mörderischen Ränkespielen sei eine «Staatsaffäre» geworden, da er seine Macht als Landesvater und den Beamtenapparat für seine Privatinteressen missbrauchte.

Emil Welti hat sich vom kleinbürgerlichen Juristen aus Zurzach zur dominierenden Kraft im Bundesrat hochgedient. Er verkörpert die freisinnige Hegemonialherrschaft. Wer sich gegen ihn stellt, den macht der autoritäre Militär-, Justiz- und Eisenbahnminister notfalls mit Einschüchterungen und Strafklagen mundtot. Sein Sohn Friedrich Emil erspart sich die mühsame Karrierearbeit, er wird allein durch die Heirat mit Alfred Eschers Tochter auf einen Schlag zum Schwerverdiener und zum Shootingstar der Schweizer Wirtschaft. Der hochbegabte fils à papa und nur mässig begabte Jurist mit Hang zum Taugenichts hat es von Anfang an auf das Millionenerbe statt auf die Frau Lydia Escher abgesehen. Solange allerdings der alte Escher noch lebt, ist der junge Welti im Belvoir, dem Haus des Patriarchen in Zürich, Persona non grata, da sein Vater im Bundesrat einst Eschers Sturz als Direktionspräsident der Gotthardbahn-Gesellschaft wegen gravierender Budgetüberschreitungen erzwungen hat. 1882 stirbt Alfred Escher, und bereits einen knappen Monat später heiraten Lydia Escher und Friedrich Emil Welti. Durch die glückliche Symbiose der Namen Welti und Escher öffnet sich dem Bundesratssohn nun manche Tür wie von selbst: Er avanciert zum ersten vollberuflichen Verwaltungsrat der Schweizer Geschichte, sitzt in der Kreditanstalt wie in der Winterthur-Unfallversicherung, der Mobiliar und der Rückversicherung.

Man fragt sich (Gottfried Keller tut es ansatzweise in seinem «Martin Salander», Joseph Jung tut es leider nicht), inwieweit die Filoupolitik beziehungsweise Filouwirtschaft Auswüchse des Liberalismus und jenes «Escherschen Systems» sind, zu dem Keller zuweilen auf Distanz geht und zu dem er als Zürcher Staatsschreiber doch gehört. Einen gewichtigen Unterschied gibt es: Der Filou Welti junior ergaunert sich sein Vermögen, Alfred Escher nicht. Der Patron des Urfreisinns stellt das Gemeinwohl stets über den privaten Gewinn. Was aber ihr autoritäres, wenig demokratisches Gebaren, ihren rüden, gnadenlosen Umgang mit Widersachern angeht, haben die korrupten Weltis durchaus vom System Escher gelernt und sind aus seinem Holz geschnitzt.

Die Beziehung zwischen Friedrich Emil Welti und Lydia Escher schläft bald ein. Man hat sich nichts zu sagen. Als Unterhalter taucht dafür öfter der Künstler Karl Stauffer-Bern auf, der mit Welti zur Schule gegangen ist. Mit ihm versteht sich die Herrin im Belvoir auf Anhieb. Wir beobachten hier das Spektakel, dass ein Ehemann gezielt darauf hinarbeitet, von seiner Frau betrogen zu werden, um dann bei der Scheidung eine möglichst grosszügige Abfindung herauszuschlagen. Welti lässt seine Lydia und den Malerfreund Stunden, dann Tage, schliesslich Wochen allein.

Da besonders Lydia Escher Zürich satthat, zieht das Ehepaar gemeinsam mit Stauffer, der seinerseits Bern satthat, nach Florenz, aber Welti verabschiedet sich bald wieder. Die Zurückgebliebenen erkunden die Stadt, kommen überein, dass sie «wie die alten Griechen mit einem leidenschaftlichen Sinn für das Schöne geboren» sind. Obwohl normalerweise «mit Liebhaberinnen nicht wählerisch», hält sich Stauffer fast vier Jahre zurück, gesteht Lydia Escher aber, dass er sie bei sich brauche, um arbeiten zu können. Das ist es, was sie hören will. Endlich hat sie eine Aufgabe. Gemeinsam planen sie, in Paestum ein gewaltiges tempelartiges Denkmal zu errichten, mit dem sie die Kunst reformieren wollen.

Doch Stauffer will noch mehr. Die Dinge könnten so nicht weitergehen, sagt er ihr. Sie müsse seine Geliebte sein. Ihr Mann werde nichts merken. Ihr Mann hat aber genau darauf gewartet, dass sich die Beziehung dergestalt konkretisiert. Kaum ist sie Stauffers Geliebte, beschliesst sie, sich von Welti «in grösstmöglicher Höflichkeit» scheiden zu lassen. Nun schnappt, wie Joseph Jung schreibt, die Falle zu. Veranlasst durch Bundesrat Welti, lässt der Schweizer Botschafter in Italien - Weltis ehemaliger Bundesratskollege Simeon Bavier - Karl Stauffer überwachen. Man setzt die Mär in die Welt, der Maler habe die nun plötzlich «nervenkranke» Lydia Welti-Escher «entführt» und ihr Geld an sich genommen. Wiederum in Absprache mit den Weltis treibt die Gesandtschaft einen Irrenhausdirektor auf, der eine «follia sistematizzata», also Wahnsinn, bei Lydia Escher diagnostiziert.

Sie kommt in die Psychiatrische, während Stauffer ins Gefängnis geworfen und gefesselt an Armen und Füssen wie ein Schwerverbrecher behandelt wird. Nach einigen Wochen verlegt man ihn ebenfalls in ein Irrenhaus. Bundesrat Welti betreibt emsig Rufmord, streut Briefe, worin er Stauffer als «sehr gefährlichen Geisteskranken» diffamiert. Die inländische Presse übernimmt, von beschämend wenigen Ausnahmen abgesehen, die verleumderische bundesrätliche Position.

Widerspenstig verhält sich aber die italienische Justiz trotz aller diplomatischen Winkelzüge der Schweizer. Man lässt ein Gutachten erstellen, aus dem hervorgeht, dass die Internierte vollkommen gesund ist. Joseph Jung druckt diesen Untersuchungsbericht erstmals integral ab, weil Lydia Welti-Escher darin ausführlich zu Wort kommt und ihre Affäre mit Karl Stauffer-Bern in neuem Licht erscheint. Nach monatelanger Inhaftierung werden beide fast gleichzeitig freigelassen. Doch sie finden nicht mehr zusammen. Welti fängt Stauffers Verzweiflungsbriefe an seine Frau ab, ohne sie weiterzuleiten. In einem heisst es: «Du kannst mein Verderben nicht wollen, es ist unmöglich, unmöglich. Ich kann nicht mehr. Dein Karl.» Er ist ein gebrochener Mann, obwohl man ihn in allen Punkten von der Anklage freispricht. Am 24. Januar 1891 stirbt er in Florenz an einer Überdosis Schlafmittel. Lydia Welti-Escher kehrt mit ihrem Mann in die Schweiz zurück. Der Jurist Welti hat längst einen pfannenfertigen Scheidungsvertrag in der Schublade, den er seiner Frau nur vier Tage nach ihrer Entlassung aus der Irrenanstalt vorlegt und worin er sich mit 1,4 Millionen Franken (nach heutigem Wert 18 Millionen Franken) entschädigt.

Lydia Escher unterschreibt alles und schreibt daneben ihr Testament. Das restliche Vermögen soll der von ihr gegründeten Gottfried-Keller-Stiftung zufliessen, um unter dem Patronat des Bundes bedeutende Werke der bildenden Kunst anzuschaffen (siehe Interview S. 26). Die letzten Monate verbringt sie einsam in einer Villa in Genf. Mitte September 1891 springt sie in die reissende Arve, einen Zufluss der Rhone. Sie überlebt, kehrt «entstellt '''

und zerstört» in ihre Villa zurück, wie der deutsche Literaturhistoriker und Kritiker Otto Brahm notiert, einer der wenigen, die Lydia Escher noch aufsuchen, da er an einer Stauffer-Biografie arbeitet. Sie hat ihm die an sie adressierten Briefe Stauffers aus glücklicheren Tagen mit den Worten überlassen: «Ich danke Ihnen, dass, während fast die ganze Welt meinen Geliebten steinigte, Sie ihn zu vertheidigen, zu ihm zu stehen den Muth und die Freundschaft hatten.» Das Erscheinen von Brahms Buch über Karl Stauffer-Bern will der Bundesrat verbieten. Als das nicht gelingt, greift die Landesregierung den Biografen in der Öffentlichkeit frontal an, worauf die deutsche Presse kontert und von «Übergriffen einer empörenden Kabinetsjustiz» spricht. Nun steht die Schweizer Regierung endlich am Pranger.

Lydia Escher lebt da schon nicht mehr. Am 12. Dezember 1891, noch kein Jahr ist seit dem Tod ihres Freundes vergangen, setzt sie sich, 33-jährig, vor den Gashahn ihres Badezimmers und öffnet ihn.

Joseph Jung: Lydia Welti-Escher (1858-1891). Reichtum, Kunst und Missgunst in der Schweiz der Belle Epoque. NZZ Libro, 454 S., Fr. 48.-

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