Von einem «schwierigen historischen Erbe» sprach unheilschwanger die Moderatorin der Sendung «10 vor 10» des Schweizer Fernsehens. Der gleichnamige Sohn von General Ulrich Wille habe Hitler 1923 in der Villa Schönberg in Zürich Enge empfangen. «Der Wille hatte nämlich den Schrecken vor der Revolution in den Knochen», spottet sodann als Experte Jakob Tanner vor dem Schauplatz des Geschehens. Dem marxistischen Historiker sind im Gegensatz zum damaligen Schweizer Bürgertum Gefühle des Schreckens vor dem Bolschewismus einigermassen fremd. Wille junior habe wissen wollen, wie man eine solche Revolution niederschlage, und habe «Rechtsextreme» getroffen.

Eine Nachschrift der Rede zeigt, dass sich Hitler in Zürich jeglicher antisemitischer Ausfälle enthielt. Für seine Bewegung sei das hier gesammelte Geld «sehr entscheidend» gewesen, weiss Jakob Tanner. Und zwar für die «Schlägertruppen», um «Terror auf der Strasse auszuüben». Diese Finanzierung sei «historisch durchaus von Bedeutung».

Fehlurteile und Falschzitierungen

In Wahrheit war Hitlers Besuch in Zürich ein finanzieller Misserfolg, wohl auch deshalb, weil seine betrunkenen Kumpane zu vorgerückter Stunde die Reichsdeutschen mit den Schweizerdeutschen gleichsetzten – was «hier aufs peinlichste empfunden» wurde. Es sei jedenfalls nicht möglich gewesen, «die benötigten Geldmittel in der erwünschten Höhe flüssig zu machen», berichtete ein Gefolgsmann Hitlers nach München.

Doch laut Historiker Tanner haben die paar Franken, die aus der Schweiz an die NSDAP flossen, eine geradezu historische Dimension. Schuld an Hitlers Machtübernahme, am Zweiten Weltkrieg und am Holocaust – so wird insinuiert – waren auch die hiesigen Bürgerlichen.

Solche Erzählungen sind ganz nach dem Geschmack des pensionierten Zürcher Geschichtsprofessors Jakob Tanner. Im Zweifel gegen die Angeklagten, lautet sein Urteil über frühere Verantwortungsträger. Sie sind schuldig und verdienen von der Nachwelt Schimpf und Schande. Bei Tanner ist keine Rede davon, dass General Ulrich Wille Hitler nicht im Geringsten mochte. «Um Gottes Willen, warum muss der Mann die ganze Zeit so schreien?», hat er sich gemäss seiner Enkelin Annemarie Schwarzenbach geärgert. Und die «Generalin» Clara, geborene von Bismarck, wollte 1933 nicht in den Jubel über Hitlers Machtergreifung einstimmen, denn sie stehe «noch immer unter dem Eindruck, den gerade Papa von ihm hatte».

Geschickt verkauft Tanner seine linke Weltanschauung als einzig mögliche Deutung.Dennoch verdammte Jakob Tanner den Armeechef des Ersten Weltkriegs 1987 in der Friedenszeitung als «senilen General Ulrich». Allein das Desaster eines solchen Fehlurteils – Wille war bis zu seinem Tod 1925 bei glasklarem Verstand – müsste Tanner eigentlich aus dem Kreis der seriösen Historiker ausschliessen. Überhaupt legt er sich die Quellen so zurecht, dass sie zu seinem Weltbild passen.

So verkehrte Tanner in unkritischer Übernahme eines Falschzitats eine Aussage des katholisch-konservativen Bundesrats Philipp Etter ins Gegenteil. Etter habe sich im Sinne der Eugenik an der «Blossstellung von Behinderten als erbkrankmachende Belastungsfaktoren» beteiligt. In Wirklichkeit schrieb Etter, der selber ein behindertes Kind hatte, 1935 in einem Aufruf von Pro Infirmis: «Stellen wir der Armee der Geprüften und Leidbeladenen eine viel grössere Armee helfender und gebefreudiger Liebe entgegen.»

Dennoch hat niemand das «Narrativ» der Schweizer Geschichte im 20. Jahrhundert so erfolgreich und nachhaltig umgepflügt wie Jakob Tanner. Ihm kam entgegen, dass gleichdenkende Journalisten seine Botschaft flächendeckend verbreiteten. Vor allem auch zu Schweizer Radio und Fernsehen (SRF) pflegte er jederzeit exzellente Beziehungen, was ihn dort rasch zum beliebtesten Erklärer der Vergangenheit machte.

Für die Medienschaffenden ist er zuverlässig erreichbar und überaus auskunftsfreudig. Dabei verkauft Tanner seine linke Weltanschauung geschickt als neusten Erkenntnisstand der «kritischen Forschung» und als einzig mögliche Deutung. Er tritt eloquent, freundlich und telegen auf, das Äussere des 73-Jährigen hat sich in all den Jahrzehnten nur unwesentlich verändert.

Erst Dissident, dann Staatshistoriker

Falls der Zeitgeist für die völlige Neuinterpretation der Schweizer Geschichte des letzten Jahrhunderts verantwortlich wäre, dann hat Tanner zumindest wirkungsvoll Einfluss auf diesen Zeitgeist genommen. Nicht zu Unrecht feierte ihn das linke Organ Wochenzeitung als «bekanntesten Geschichtsprofessor der Schweiz» und wunderte sich, wie er «vom Dissidenten zum Staatshistoriker» werden konnte.

Der frühere Primarlehrer stammt aus dem luzernischen Root, was ihm die Universität Luzern 2015 mit einem Ehrendoktorat verdankte. Mittlerweile Geschichtsstudent in Zürich, verfasste Tanner als Co-Autor 1974 die Studie «Die Schweiz und die aktuelle Wirtschaftskrise, eine Einführung aus marxistischer Sicht». Hierbei erklärte er die damalige Wirtschaftskrise als unvermeidliche Folge des Kapitalismus – was sich als kapitale Fehleinschätzung des roten Propheten erweisen sollte. 1989 bekämpfte der mittlerweile Promovierte zusammen mit der Gesellschaft für eine Schweiz ohne Armee (GSoA) die Feiern «Diamant» für die Aktivdienstgeneration.

Unter Bildungsdirektor Alfred Gilgen hätte der Marxist Jakob Tanner niemals einen Lehrstuhl an der Universität Zürich erlangen können. Denn der Landesringler wollte die Bildung der Jugend erklärtermassen weder rechten noch linken Extremisten anvertrauen. Nach Gilgens Rücktritt klappte es dann aber beim jovialen Regierungsrat Ernst Buschor (CVP): Unter Nichtberücksichtigung zweier Frauen wurde Tanner 1997 das Ordinariat für Allgemeine und Schweizer Geschichte der neueren und neuesten Zeit übertragen.

«Schon rötet die Revolution den Himmel»

Gleichzeitig erfolgte seine Berufung in die Unabhängige Expertenkommission Schweiz - Zweiter Weltkrieg, was ihn mitten in die Kernschmelze der nationalen Geschichtsdebatte rückte. Wie alle Geisteswissenschaftler, die sich gerne mit Machtstrukturen auseinandersetzen, verfügte Tanner über einen robusten Machtinstinkt. Nicht der zögerliche Präsident Jean-François Bergier war fortan der starke Mann in der Kommission; die entscheidenden Strippen zog vielmehr Jakob Tanner.

Mittlerweile hatte der Marxist die Segnungen des Kapitalismus durchaus schätzen gelernt. So wenig er dem schweizerischen Sonderfall abgewinnen konnte: Den Sonderfall des Europarekords bei den Professorengehältern akzeptierte er klaglos. Überdies verdiente Tanner als Mitglied der Bergier-Kommission ein Zubrot von 311 531 Franken, wobei er zum 25-bändigen Forschungsbericht keine einzige Zeile beisteuerte, nicht einmal im zusammenfassenden Schlussbericht.

Mittlerweile hatte der Marxist die Segnungen des Kapitalismus durchaus schätzen gelernt.Doch was das Fazit dieser Kommission betraf, setzte Tanner seine Geschichtsbetrachtung dennoch vollständig durch. Sein Triumph war geradezu total. Bestattet wurde jetzt die Erzählung einer tödlichen Gefährdung durch die Achsenmächte, einer wirksamen Landesverteidigung und Landesversorgung, der bewaffneten Neutralität und der Wahrung von Unabhängigkeit, Demokratie und der Menschenrechte. Tanners neue Geschichtsschreibung geisselte Anpassung, egoistische Profiteure, Demutsgesten, totalitäre Tendenzen und Antisemitismus. Die Schweizer wurden von einem Volk von Opfern zu einem Volk von Mittätern am Höllensturz. Die politische Schlussfolgerung aus dem Zweiten Weltkrieg konnte für Tanner und seine Mitstreiter nur heissen: Schluss mit dem Alleingang, Schluss mit dem Sonderfall, hinein in den «modernen Rütlischwur» der Europäischen Union.

«Wenn unsere Forschungsergebnisse Eingang in den Unterricht und in die Lehrmittel finden werden, dann wirkt das nachhaltig und regt eine fundierte Auseinandersetzung mit der Geschichte der Schweiz im 20. Jahrhundert an», meinte Jakob Tanner 2002. Dieses Ziel hat er zu hundert Prozent erreicht. Es gibt heute landesweit kein einziges Schulbuch mehr, das Tanners Erzählung nicht wie eine physikalische Tatsache wiederholen würde.

Gegenüber Kollegen, die anders als die staatlichen Kommissionshistoriker keinen privilegierten Zugang zu den Archiven erhielten, plagte ihn keinerlei schlechtes Gewissen. Ebenso wenig stiess sich Tanner an der Tatsache, dass Historiker plötzlich in die Rolle von Weltenrichtern gerieten, deren Urteile direkte politische oder juristische Konsequenzen hatten. Denn die Bergier-Kommission konnte sich unter Androhung strafrechtlicher Sanktionen nahezu beliebig Informationen beschaffen. Dabei haben gesetzlich geschützte historische Wahrheiten etwas höchst Fragwürdiges. Und zwar darum, weil beispielsweise marxistisch geschulte Machthistoriker wie Tanner jederzeit jene historische Wahrheit durchsetzen und schützen wollen, die ihnen am nächsten steht.

Wie viele Historiker seiner Generation wurde Jakob Tanner am Historischen Seminar Zürich durch den gewerkschaftlichen Generalstreik und die Arbeiterbewegung sozialisiert. Man stand auf der richtigen, der linken Seite der Geschichte. Wenn der gutbezahlte Professor Tanner schon nicht Arbeiter sein konnte, so wurde er doch immerhin Aufarbeiter. «Die Arbeiterbewegung ist die Partei von allgemeinen demokratischen Rechten», bestätigte er diesen Sommer dem obersten Genossenpaar Mattea Meyer und Cédric Wermuth. Der Streikaufruf der SP Schweiz von 1918 lautete allerdings so: «Schon rötet die nahe Revolution den Himmel über Zentraleuropa. Der erlösende Brand wird das ganze morsche, blutdurchtränkte Gebäude der kapitalistischen Welt erfassen.» Das tönt irgendwie nicht nach lupenreiner Demokratie.

Lustvoller Tagespolitiker für die SP

Neben seiner Doktor- und Habilitationsschrift sind von Tanner lediglich zwei eigenständige Bücher erschienen: So 2004 seine «Einführung in die historische Anthropologie», eine auf den deutschen Sprachraum begrenzte, seit den achtziger Jahren von progressiven Historikern vorangetriebene Modedisziplin mit allerhand neuerschaffenem Wortgeklingel («Transdisziplinarität»). Als Tanners Opus magnum gilt die «Geschichte der Schweiz im 20. Jahrhundert» von 2015. Der Oxford-Historiker Oliver Zimmer hat an diesem Werk kaum ein gutes Haar gelassen. Es löse den versprochenen «transnationalen» Ansatz nicht ein, weil der Autor den internationalen Forschungsstand schlicht nicht substanziell berücksichtigt habe.

Das SP-Mitglied Jakob Tanner stürzt sich mit so grosser Lust in die Tagespolitik, dass der Eindruck aufkommt, diese treibe ihn mehr um als die Geschichtswissenschaft. Brennend interessiert ihn alles, was nach Schuld und Sühne ruft, seien es Stolpersteine, Wiedergutmachungen, Raubkunst oder Gedenktafeln zur Erinnerung an irgendwelche Schandtaten unserer Vorfahren.

Tanner will «historische Parallelen» der SVP zum «europäischen Faschismus» erkennen. Der «nationale Mythos» des Abseitsstehens koste viel an politischer Mitbestimmung, der Ausschluss der Ausländer vom Stimmrecht sei nicht zu verantworten. Und das Bürgertum habe so erbittert gegen das Frauenstimmrecht gekämpft, um soziale Anliegen zu verhindern und so die Steuern tief zu halten.

Geisselte Tanner die Schweizer Waffenausfuhren eben noch als einzig im Interesse der «Rüstungsindustrie» stehend, gebe es jetzt im Fall der Ukraine «eine viel bessere Begründung». Bezüglich der humanitären Hilfe befinde sich unser Land «an einer Schlussposition, auch pro Kopf der Bevölkerung». Womit der zahlenkundige Sozial- und Wirtschaftshistoriker die Wahrheit auch hier auf den Kopf stellt: Sieht man nämlich auf dieser Statistik der Ukraine-Hilfe von Waffenlieferungen ab und berücksichtigt dafür die Aufnahme von Flüchtlingen, steht die Schweiz tadellos da. Auch wenn das Wort «Schweiz» in Verbindung mit «tadellos» Jakob Tanner in den Ohren schmerzen dürfte.