Ihr erstes Geld verdienten sie mit der Zerlegung ausgemusterter Panzer nach dem Zweiten Weltkrieg. In den kommenden Jahrzehnten bauten die Gebrüder Emilio und Adriano Riva einen ­europaweit tätigen Stahlkonzern auf. Als in den achtziger Jahren die staatlich dominierte Stahl­industrie in Italien am Boden lag, ergriffen die Gebrüder Riva die Gelegenheit und kauften unter anderem auch das staatliche Stahlwerk Ilva in der Nähe der süd­italienischen Stadt Tarent, Apulien. Unter den privaten Eigentümern florierte die Firma. Dort, an der Innenseite des italienischen Stiefels, wo der Schaft in den Absatz übergeht, gibt es ansonsten wenig Industrie. Das Stahlwerk ist mit 20 000 Beschäftigten einer der grössten Arbeitgeber der Region.

Der Werdegang der Fratelli Riva aus Mailand könnte also ein Ruhmesblatt italienischer Industriegeschichte sein. Doch Erfolg schafft Neider. Im Jahr 2010 wurde Ilva handstreich­artig erneut verstaatlicht: Unter dem Vorwand, er habe Umweltauflagen verletzt, legte die italienische Regierung den Betrieb still, um ihn per Notverordnung sofort und ohne die angeordnete Umweltsanierung unter eigener Führung wiederaufzunehmen.

Das Geld für die Umweltsanierung will sich die Republik Italien von den vormaligen privaten Eigentümern holen, auf eine Art und Weise, die eher an eine Bananenpepublik erinnert als an die Rechtsstaatsgepflogenheiten in Europa. Die italienische Justiz strengt Strafverfahren gegen die Unternehmensgründer an und lässt Betriebsvermögen der Riva-Gruppe im Umfang von 8,1 Milliarden Euro einfrieren. Diese Beschlagnahmung hebt das italienische Kassationsgericht Ende 2013 auf: Es sei «kein Zusammenhang zwischen den beschlagnahmten Vermögenswerten und dem geltend gemachten Erlös aus Umweltdelikten» zu erkennen.

Diensteifriger Staatsanwalt

Auch dem Privatvermögen der Rivas stellen die italienischen Behörden nach. Per Rechtshilfe ersuchen sie die Schweiz um die Einfrierung der Riva-Konten. Rund eine Milliarde Euro lagern hier in Trusts. Dieses Vermögen hatte die Unternehmerfamilie im Rahmen ­einer italienischen Steueramnestie vor ein paar Jahren einer italienischen Tochtergesellschaft ihres Schweizer Bankhauses zur treuhänderischen Verwaltung überantwortet. Die Inhaberin der Schweizer Konten war somit neu eine italienische Treuhandgesellschaft ebendieser Bank. Dem direkten Zugriff der Familie wurden die Bankkonti durch diese Konstruktion entzogen, was sich als bedeutsam herausstellen sollte.

Das Bundesamt für Justiz übergibt den Rechtshilfefall an die Staatsanwaltschaft I B des Kantons Zürich, spezialisiert auf Wirtschaftsdelikte. Der Staatsanwalt Peter ­Hünig ordnet am 4. Juni 2013 die vorläufige Sperre der Konten an, bis in Italien ein rechtsgültiges Urteil in der Strafsache vorliegt. Doch den Italienern geht es nicht schnell genug. Sie möchten das Geld am liebsten sofort. Es soll in eine Zwangsanleihe des Ilva-Stahlwerks investiert werden.

Die Staatsanwaltschaft Mailand lässt der ita­lienischen Tochtergesellschaft der Schweizer Bank einen «Rückführungsbefehl» zukommen: Die Milliarde sei umgehend nach Italien zu überweisen. Diese Order gibt die italienische Tochter ihrem Stammhaus in Zürich weiter. Da die Staatsanwaltschaft die Konten gesperrt hat, ist es der Bank unmöglich, die Überweisung auszuführen. Dem Vernehmen nach interveniert der italienische Finanzminister persönlich beim obersten Chef der Schweizer Bank, um die Auszahlung durchzusetzen. Auch zwischen der Zürcher Staatsanwaltschaft, den italienischen Kollegen und dem Bundesamt für Justiz finden mehrere Treffen statt, teilweise in Mailand. Ziel: Die Milliarde soll nach Italien fliessen.

Doch eine Freigabe der im Rechtshilfeverfahren gesperrten Gelder ist unter diesen Umständen nach Schweizer Recht nicht vorgesehen. Dokumente zeigen, dass den Schweizer Behörden bewusst ist, dass in absehbarer Zeit kein «rechtskräftiger und vollstreckbarer Einziehungsentscheid» aus Italien zu erwarten ist. Trotzdem suchen sie hilfsbereit nach Mitteln und Wegen, das Geld irgendwie nach Rom zu überweisen. Staatsanwalt Hünig bietet am 9. Januar 2015 seine Hilfe an, «um dennoch ­eine zeitnahe Überführung der Vermögenswerte nach Italien zu gewährleisten». Hierfür sei aber die schriftliche Zusicherung erforderlich, dass «die heute bestehenden Eigentumsrechte unangetastet bleiben».

Als diese Mitte Mai eintrifft, empfehlen die Zürcher Staatsanwälte den Mailänder Kollegen einen Kniff: Italien solle das immer noch laufende Rechtshilfeersuchen zurückziehen, zum alleinigen Zweck, die Überweisung nach Italien zu genehmigen. Ein Schreiben dieses Inhalts gelangt am 21. Mai von Mailand nach Zürich. Knapp einen Monat später verfügt die Zürcher Staatsanwaltschaft, dass die Konto­sperre «zum Zwecke der von der Kontoinhaberin mit Datum vom 13. Mai 2015 in Auftrag gegebenen Überweisung ersatzlos aufgehoben» werde. Bei «Nichtausführung» bestehe sie «im bisherigen Umfange» weiter.

Die Familie Riva als Begünstigte der Trusts ficht die Verfügung umgehend beim Bundesstrafgericht in Bellinzona an. Es könne nicht sein, dass eine Bankengruppe das ihr treuhänderisch übertragene Vermögen mit Hilfe der Schweizer Justiz einfach an den italienischen Staat überweise. Per superprovisorischer Massnahme schiebt die Beschwerdekammer des Bundesstrafgerichts unter dem Vorsitz ­ihres Präsidenten Stephan Blättler (SVP) die Überweisung auf, um sie mit Entscheid vom 18. November gänzlich zu untersagen: Die Richter in Bellinzona erklären die Verfügung der Zürcher Staatsanwaltschaft für «nichtig».

Im Entscheid sparen sie nicht mit Kritik an der Schweizer Seite. Das Bundesamt für Justiz, das jederzeit eng in das Riva-Verfahren involviert war, habe «nach letztmaliger Aufforderung» lediglich «eine Auswahl» seiner Akten eingesendet. Inhaltlich sei die Verfügung der Zürcher Staatsanwaltschaft krass mangelhaft. Der von den Beschwerdeführern angezeigte Sachverhalt «wiegt schwer», weswegen sich das Bundesstrafgericht veranlasst sehe, «von Amtes wegen einzugreifen».

Die Richter rügen, die Zürcher Staatsan­wälte seien einem «Denkfehler» aufgesessen und hätten einer «Umgehung der geltenden Rechtshilfebestimmungen» Vorschub geleistet. Einen «bedingten/zweckgebundenen Rückzug des Rechtshilfeersuchens» nach dem Verständnis der Zürcher Staatsanwaltschaft «gibt es im Rechtshilfeverfahren nicht». Diese Konstruk­tion widerspreche «dem Grundgedanken des Rechtshilfeersuchens in Strafsachen».

Zudem trage nach schweizerischen Rechtsstaatsmassstäben der beschlagnahmende Staat eine Verantwortung für die «Werterhaltung» der beschlagnahmten Vermögenswerte. Bei der «verpönten Zwangsanleihe» an Ilva bestehe keine «staatlich garantierte Rückzahlung des Nennwerts». Es drohe eine «entschädigungs­lose Enteignung». Überhaupt stütze sich der italienische Überweisungsbefehl «offensichtlich» auf «Gesetzesdekrete und Ge­setze», welche «nicht strafrechtlicher Natur» seien. Schon allein aufgrund dieser Tatsache sei die Verfügung wegen «offensichtlich qualifizierter sachlicher Unzuständigkeit» nichtig. Beobachter sehen darin einen Leitentscheid für Rechts­hilfefälle: Massgeblich für die Gewährung von Rechtshilfe ist die Beurteilung von Taten nach Schweizer Recht.

Bern stellt sich taub

Die Richter, offenkundig in Fahrt gekommen, erwähnen auch die aufgehobene Beschlagnahmung der 8,1 Milliarden Euro durch das italienische Kassationsgericht. «Wenn zuvor noch im ersuchenden Staat selbst durch dessen höchste Gerichtsinstanz bereits eine Beschlagnahme für unzulässig erklärt wurde», erschliesse sich die Missachtung elementarer Grundsätze des Schweizer Rechtshilferechts «selbst unter dem Blickwinkel der internationalen Solidarität nicht». Was den Vorwurf betrifft, das Bundesamt für Justiz habe seine «Aufsichtspflichten nicht wahrgenommen», verweisen die Bellenzer Richter maliziös an den Bundesrat, «an welchen eine allfällige ­Anzeige zu richten wäre».

Die so gerügten Justizbehörden halten sich bedeckt. Der ansonsten bei Medienanfragen aufgeschlossene Marcel Strassburger, Leiter der Staatsanwaltschaft I B des Kantons Zürich, in dessen Haus die eigentümliche Verfügung entstanden ist, verschanzt sich hinter Bern. Fragen beantworte «ausschliesslich das Bundesamt für Justiz». Und aus dem Departement von Simonetta Sommaruga (SP) kommt die nebulöse Antwort: Es verstehe sich von selbst, dass man «die Einschätzungen und Schlussfolgerungen des Bundesstrafgerichts in verschiedenen Punkten nicht teilt». Spezifische Fragen beantworte man aber nicht, da die Frist für eine Beschwerde ans Bundesgericht erst am 4. Dezember ablaufe.

Der federführende Zürcher Staatsanwalt im Rechtshilfefall Riva, Peter Hünig, ist seit Anfang Oktober beim Bundesamt für Justiz tätig. Seine dortige Zuständigkeit: die Beaufsich­tigung von kantonalen Staatsanwaltschaften in Fragen der internationalen Rechtshilfe. Aus­gerechnet der Urheber der vom Bundesstraf­gericht ungewohnt scharf kritisierten Verfügung beaufsichtigt damit in Zukunft seine Berufskollegen landesweit in ähnlichen Geschäften.

Unternehmensgründer Emilio Riva hat den Zwischensieg des Schweizer Rechtsstaates gegen die Sitten und Gebräuche in Italien nicht mehr erlebt. Er verstarb letztes Jahr, während er – mit Hausarrest belegt – auf das bis heute ausstehende Ergebnis des Strafverfahrens wartete. Sein Bruder Adriano verfolgt die Entwicklungen mit einigem Sicherheitsabstand von Kanada aus.