Daniel Keller*, 32, stützt sich auf die schmale Wandvorrichtung, auf der sein frisch gezapftes Bier steht. Es ist Freitagabend. In der «Cranberry»-Bar, mitten in der Zürcher Altstadt, sind alle Tische besetzt. Ein Barkeeper eilt herbei und wirft zwei Servietten auf die Ablage, dann begrüsst er Keller mit einem Wangenkuss. Ganz in der Nähe lachen ein paar angeheiterte Frauen um die fünfzig über einen Witz, sonst sind nur Männer im Raum, die meisten von ihnen homosexuell. «Ich merke sehr schnell, ob einer schwul ist oder nicht», sagt Keller. «Wir schauen uns anders an, intensiver. Wir nennen es den Schwulen-Radar.»
Die meisten Heterosexuellen werden Keller kaum als schwul wahrnehmen. An diesem Januarabend trägt er Jeans und Pullover, leger geschnitten und in gedeckten Farben; seine Haltung und Gestik sind unauffällig – das Klischee des effeminierten Mannes erfüllt er nicht. Dass er schwul sei, merke man eigentlich nur, wenn sein Freund und er zusammen durch die Stadt gingen, sagt Keller. «Dann kann es auch vorkommen, dass ein Passant etwas Beleidigendes herüberzischt. Körperliche Angriffe habe ich aber nie erlebt.»
Anders erging es einem homosexuellen Paar, 19- und 24-jährig, in der Silvesternacht. Vier junge Männer, die «Deutsch mit ausländischem Akzent» sprachen, fragten die beiden, ob sie schwul seien, und schlugen sie spitalreif. Die Attacke ereignete sich vor dem Klub «Heaven» unweit vom «Cranberry». Keller verweist mit einem Nicken zum Nebentisch, wo drei aufwendig gestylte Männer – vielleicht Anfang zwanzig – Longdrinks trinken. Ihre Pullover sind hauteng, ebenso die Jeans; einer hat zentimeterlange künstliche Fingernägel und trägt ein Handtäschchen. «Solche Typen», flüstert Keller, «feiern später im ‹Heaven›. Leider sind sie für Attacken prädestiniert, weil man ihnen ansieht, dass sie schwul sind.»
Der Angriff auf die beiden Homosexuellen in der Silvesternacht war der jüngste in einer längeren Reihe ähnlicher Taten, die seit Sommer landesweit zu reden geben. 20 Minuten nahm die Meldung zum Anlass, um im Zürcher Nachtleben zu recherchieren: «Wer sind die Schwulenhasser?» Das Video, das dabei entstand, zeigt junge Männer mit verpixeltem Gesicht oder dem Rücken zur Kamera, wie sie hemmungslos über Homosexuelle schimpfen.
Einer bezeichnet Schwule als Kranke, die «mit ein paar Schlägen» geheilt werden könnten. In seinem Kollegenkreis mache man das immer wieder. Schwule, die verprügelt werden, seien «selber schuld». Ein anderer wird, als er gerade in die Kamera spricht («Frauen – schaut sie an, maschallah. Sie sehen gut aus, egal ob angezogen oder nicht»), von Passanten provoziert: «Okay, mach schnell, bevor ich das Messer auspacke», sagt er zum Reporter. Kurz darauf liegt ein Mann niedergeschlagen am Boden.
Die zwei Interviewten sprachen mit einem Akzent, der als «Balkandeutsch» bezeichnet wird. Dass es nicht selten Männer mit Migrationshintergrund sein dürften, die auf Schwule losgehen, lassen auch die Aussagen von Schwulen erahnen, die im Video ebenfalls zu Wort kommen. Einer erklärt: «Es ist mir unangenehm, das zu sagen, aber es sind meistens Leute, die eine zweite Nationalität haben.» Ein anderer, der nach eigener Aussage selber Wurzeln im Balkan hat, erzählt in breitem Ostschweizer Dialekt, es handle sich bei den Tätern oft um «Balkanbewohner oder Ausländer».
Amtliche Zahlen, die solche Aussagen bestätigen würden, gibt es nicht. Die Polizei erfasst homophobe Straftaten nicht gesondert, was die Politik ändern will. Die ehemalige Zürcher BDP-Nationalrätin Rosmarie Quadranti forderte 2017 in einer Motion, sogenannte hate crimes «aufgrund der sexuellen Orientierung, Geschlechtsidentität, Geschlechtsausdruck oder Geschlechtsmerkmalen» statistisch zu erheben. Der Nationalrat stimmte dem Begehren im September 2019 zu. Es liegt nun beim Ständerat, wo es laut Quadranti eine Mehrheit finden dürfte.
Zu den Mitunterzeichnern der Motion gehören die Nationalräte Hans-Ueli Vogt (SVP, ZH) und Hans-Peter Portmann (FDP, ZH), die beide homosexuell sind. Vogt nennt das Video von 20 Minuten eine «gute, wichtige Recherche». Deren Ergebnisse hält er für plausibel: «Dass es vorwiegend Männer mit Migrationshintergrund sind, die gegenüber Schwulen gewalttätig werden, entspricht meinem Eindruck.» Portmann sagt, einige junge Männer vom Balkan seien «auffällig homophob», und sieht vor allem deren «Macho-Getue» als Ursache für Übergriffe auf Schwule.
Angelo Barrile, homosexueller SP-Nationalrat aus Zürich, erlebt die Mehrheit der jungen Männer vom Balkan verglichen mit übrigen Gleichaltrigen nicht als schwulenfeindlicher, wie er sagt. Gemäss Opferaussagen hätten die Täter aber tatsächlich immer wieder einen Migrationshintergrund, zumindest in Städten wie Zürich. Ausserhalb davon – «in Schwyz oder im Oberaargau» – seien es häufiger Rechtsextreme, die Homosexuelle attackierten. Allgemein lasse sich festhalten: «Bei den Tätern handelt es sich meist um halbstarke Betrunkene, die Schwule angreifen, um anderen etwas zu beweisen.» Barrile, der als Arzt praktiziert, spricht regelmässig mit Opfern homophober Gewalt: «Ich kenne rund zehn Fälle aus den letzten drei Jahren, bei denen Männer spitalreif geschlagen wurden.»
Patrick Hadi Huber von den Homosexuellen Arbeitsgruppen Zürich sagt, die grösste Gefahr lauere auf dem Heimweg vom Klub zum Bahnhof. In dieser Situation sei man besonders angreifbar, vor allem wenn man als Paar unterwegs und dadurch leichter als homosexuell zu erkennen sei. Er schätzt, dass ein Viertel der Schwulen und Lesben schon Hass und Gewalt erlebt hat. Dass vor allem Gewalt gegen Schwule zu reden gibt, erklärt Roman Heggli von Pink Cross mit den unterschiedlichen Ausprägungen homophober Taten. So seien es meist schwule Männer, die körperlich attackiert würden, während lesbische Frauen in der Regel mit verbalen Belästigungen zu kämpfen hätten.
Eine bislang unpublizierte Studie der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften gibt Hinweise auf «Verbreitung und Einflussfaktoren von Homophobie unter Jugendlichen und Erwachsenen» in der Schweiz (wobei sich daraus nicht schliessen lässt, wer die homophoben Straftaten tatsächlich begeht). Die Studienautoren Dirk Baier und Maria Kamenowski schreiben, «dass männliche Befragte, Jugendliche mit Migrationshintergrund und religiöse Befragte (unabhängig von der konkreten Religionszugehörigkeit) signifikant stärker ausgeprägte Vorurteile gegenüber Homosexuellen aufweisen».
Schaut man die Ergebnisse im Detail an, fällt auf, dass Jugendliche mit Wurzeln im Kosovo und in Nordmazedonien anfälliger sind für Vorurteile gegenüber Homosexuellen, gefolgt von Jugendlichen aus der Türkei und arabischen Ländern (bei den Erwachsenen ist allgemeiner von «Süd-/Osteuropa» die Rede). Gemeinsam ist den meisten dieser Länder und Regionen die islamische Prägung.
Tatsächlich zeigt die Studie, dass muslimische Jugendliche höhere Mittelwerte auf der Homophobie-Skala haben als die übrigen Gleichaltrigen; knapp danach folgen evangelisch-freikirchliche Jugendliche, von denen es allerdings deutlich weniger gibt. Bei den Erwachsenen liegen die Evangelikal-Freikirchlichen auf Platz eins, die Muslime auf Platz zwei – Reformierte und Katholiken kommen auf Werte, die um bis zu zwei Drittel tiefer liegen.
Dass Homophobie vor allem unter Muslimen und Evangelikalen verbreitet ist, deckt sich auch mit den Erfahrungen von Daniel Keller. Die Gewalt, von der er höre, gehe allerdings eher von muslimischen Jugendlichen aus, fügt er an. Wir haben das «Cranberry» inzwischen verlassen und gehen zum «Heaven». Dort, wo sich nachts oft eine Traube von Rauchern bildet, ist jetzt, um neun Uhr abends, noch kaum jemand zu sehen. Der Klub öffnet erst in zwei Stunden. «Wer immer da stehen wird, muss damit rechnen, angepöbelt oder sogar angegriffen zu werden», sagt Keller. Er verabschiedet sich und macht sich auf den Weg nach Hause. Die Party wird ohne ihn stattfinden.
* Name geändert.