Bei Sonja Dinner herrscht in der Regel Hochbetrieb. Die 58-jährige Baslerin ist eine leidenschaftliche Reiterin und eine liebevolle Hundebesitzerin. Sie pendelt zwischen ihren Wohnorten bei Kassel in Norddeutschland und Rudolfstetten AG. Seit dem Verkauf ihrer IT-Firma hat sie es sich zum Lebensinhalt gemacht, den Armen und Bedürftigen zu helfen. Entsprechend ist das Restaurant ihrer Wahl gleich um die Ecke ihres Geschäftssitzes: das «Ristorante Molino» an der Obstgartenstrasse in Affoltern am Albis.

Dinner schätzt bodenständiges Essen und ein gutes Glas Wein. Heute ist dafür aber keine Zeit: Menü 1 (Vollkornspaghetti an einer Rahmsauce mit einem grünen Salat) sowie eine Cola Zero müssen reichen. Dafür bleibt mehr Raum, um über ihr neustes Projekt zu sprechen. «Wir leben in der Schweiz in einem Paradies, aber die Corona-Krise trifft uns und unsere Kinder alle in irgendeiner Form.» Dinners Stimme ist voller Kampfgeist. Eigentlich wollte sie es künftig gelassener angehen, aber die kommende Not schätzt sie als so gross ein, dass sie ihre privaten Pläne fallenliess und für die neue Stiftung «The Dear Foundation – Solidarité Suisse» wieder fünfzig bis sechzig Stunden pro Woche arbeitet.

 

«Viele haben es noch nicht realisiert»

Auch sonst ist Dinner an vielen Fronten gefordert. Ihre 2006 gegründete Stiftung leitet und unterstützt etwa 145 Projekte in der «armen Welt». Doch Corona stellt alles auf den Kopf – auch in der Schweiz: «Wir müssen solidarisch sein – auch mit den eigenen Landsleuten –, gerade weil Armut in der Schweiz ein Tabuthema ist und sich viele Bedürftige schämen, Hilfe zu beantragen.» Die Pandemie hat diese Realität aber sichtbar gemacht: Menschen, die um ihre Existenz bangen, jeden Franken zweimal umdrehen und für einen Sack Lebensmittel Schlange stehen. «Während des Shutdowns sind hier Dinge geschehen, die wir nicht für möglich gehalten hätten. Aus dem vermeintlich permanenten Aufschwung ist bei vielen Menschen der jähe Absturz geworden, und viele haben es noch gar nicht realisiert.»

Da mag Sonja Dinner nicht tatenlos zuschauen. Sie schuf die erste Schweizer Plattform, die speziell jenen Menschen helfen soll, die durch die Pandemie unvorbereitet und unverschuldet in eine wirtschaftliche Situation geraten sind, aus der sie selber kaum mehr rauskommen. Von der Krise am härtesten getroffen sind jene, die bereits vorher ein hartes Leben hatten.

Normalerweise sammelt Dinner nicht proaktiv Geld: «Wir finanzieren unsere weltweiten humanitären Programme mit unserem eigenen Stiftungsvermögen.» Nun aber geht sie in die Offensive und fordert möglichst alle Menschen in der Schweiz zum Spenden für die Notleidenden der Corona-Krise auf. Dabei richtet sie sich an zwei Klassen: «die Superwohlhabenden, die mit grossen Beträgen helfen können. Und die Normalverdiener, die ihre Solidarität mit einer Spende nach ihren individuellen Möglichkeiten ausdrücken wollen». Dinner bürgt persönlich dafür, dass das Geld in der Schweiz bleibt und dass es jene erreicht, die es brauchen.

 

Zum Beispiel Lehrstellen

Um möglichst kosteneffizient arbeiten zu können, werden etwa die Bedürfnisse der einzelnen Branchen direkt mit den Berufsverbänden definiert und die Unternehmen beziehungsweise Interessensgruppen benannt, die für Unterstützungszahlungen in Frage kommen. Dabei ist die Hilfe auf allen Stufen an Bedingungen geknüpft, damit Solidarität auch von den Begünstigten geleistet werden kann. Dinner erklärt: «Im Vordergrund steht immer die Nachhaltigkeit. Ein Unternehmen, das von uns Geld erhält, muss beispielsweise Lehrstellen schaffen. Die Lehrlinge, die dadurch eine Stelle erhalten, müssen einen halben Tag pro Monat Sozialdienst leisten.»

Dinner, die in St. Petersburg auch schon mal mit Strassenkindern bei eisiger Kälte draussen übernachtet hat, bestellt sich nochmals eine Cola. Bevor sie sich zurück an die Arbeit verabschiedet, formuliert sie ihr Ziel für die nächsten Wochen und Monate in einem knappen Satz: «Ich will, dass eine Welle der Solidarität durchs Land brandet, wie wir sie seit siebzig Jahren nicht mehr gesehen haben.»

Dinner spricht mit Empathie und Enthusiasmus. Und wer das Vergnügen hat, mit ihr am selben Tisch zu essen, ist sich fast sicher: Die Frau wird das schaffen.