Verliebte reisen nach Paris, weil anscheinend nur dort eine Amour fou wirklich verrückt ist. «In diesem Zimmer scheint es mir das Normalste auf der Welt, mit dir Liebe zu machen. Als hätten wir uns nur zu diesem Zweck kennengelernt. Für diese beiden Körper, die sich ­suchen.» Die Rede ist von Meret und Jan, beide um die vierzig und verheiratet. Nicht miteinander.

Das klandestine Pariser Schäferstündchen ist einer der Höhepunkte im neuen Roman «Kreuzfahrt» der 43-jährigen Zürcher Schriftstellerin Mireille Zindel. Die Geschichte dreht sich wie ihre beiden ersten Werke um eine Frau im mittleren Alter, die auf der Sinnsuche in eine Lebenskrise gerät nachvollziehbares Schicksal aus dem prallen Leben des bürgerlichen Mittelstandes also.

Zindel studierte Romanistik und Germanistik, arbeitete kurze Zeit in der Werbebranche, fühlte sich jedoch schon seit ihrer Jungmädchenzeit zum Schreiben gedrängt. Heute ist sie Familienfrau mit zwei Kindern und schreibt daneben an einem vierten Buch.

Die Ausgangslage in «Kreuzfahrt» ist so bekannt wie klar: Familienferien an der ligurischen Küste im Juli in mörderischer Hitze. «Tagsüber schwitzte ich, bis es sich anfühlte, als könnten nur noch Tränen kommen . . . In diesen verzweifelten Körper begann ich Wein zu schütten. Zunächst nur abends. Zwei Tage später trank ich auch tagsüber, Weisswein, Rotwein . . .» Während die Ich-Erzählerin sich dem Trunk hingibt, kümmert sich Ehemann Dres um die zwei Kinder am Strand. Dres ist ein Mustergatte, immer für die Familie da, ein Langweiler zwar und Jurist obendrein, aber ein fester Wert.

Liebesakte als Projektion

Die Kinder entdecken am Strand zwei Kumpane aus der heimatlichen Zürcher Nachbarschaft. Man kommt sich nie so schnell nahe wie bei einer erstmaligen Begegnung im Ausland. Also hoppla, und die Eltern sind vordergründig ein Herz und eine Seele. Man diniert zusammen und entdeckt oberflächliche Gemeinsamkeiten. Die Freude ist gross, dank der Abwechslung der innerfamiliären Folter in der touristischen Italianità noch einmal entkommen zu sein.

Romy und Jan heissen die beiden neuen Freunde, Schweden, die aus geschäftlichen Gründen in der Schweiz leben. Sie spricht mit den Engeln und kann Handlesen, weil sie das in einem Kurs gelernt hat; er ist vergifteter ­Marathonläufer. Das sind viele Klischees, die den Leser beim Einstieg in den Roman verärgern. Doch nach und nach erschliesst sich, weshalb die Engel und der Marathon wichtig sind.

«Und plötzlich wollte ich für immer da bleiben, in diesem unmöglichen italienischen Kaff, an dieser hässlichen Küste mit diesem lauten Meer, nur um bei dir zu sein, Jan», denkt sich Meret und ist in den neuen Bekannten verknallt. Daraus hätte Zindel eine übliche Viererkiste entwickeln können, wie man das kennt.

Tut sie aber nicht. Bald entdeckt der Leser, dass die Erzählerin nicht zu ihm, sondern zu Jan spricht. Sie berichtet ihm, wie sie zusammen ­eine Affäre hätten erleben können. Die erste Liebesnacht in Paris, eine zweite in Mailand, ein verbales Techtelmechtel in der Waschküche. ­Allerdings: «Ich habe lange darüber nachgedacht, was geschehen ist, und bin zum Schluss gekommen: nichts», heisst es im Prolog.

Liebesakte lediglich als Projektion also. ­Mireille Zindel sagt im Gespräch: «Ich suche das Mehrschichtige. Man kann das Buch zwar als eine Liebesgeschichte lesen, aber sie hat sich nicht zugetragen.» Denn in Zindels Welt sind «Gefühle und Fantasie so real» wie die Zärtlichkeiten, ohne dass sie stattgefunden haben.

Oder etwa doch? Denn Zindel spielt mit dem Leser, man weiss nie genau, was tatsächlich ­geschehen ist oder nicht. Wie einst Max Frisch greift sie auf die Wendung «Ich stelle mir vor . . .» zurück. Das erlaubt ihr, den Protagonisten laufend imaginäre oder reale Rollen zuzuweisen. Der Leser bleibt so im Ungewissen – passiert oder nicht?

Kopflastiger Blümchensex kann man dem ­sagen oder aber wissenschaftlicher mit den Worten des Psychoanalytikers C. G. Jung: «Das Aufeinandertreffen von zwei Menschen ist mit der Reaktion von zwei chemischen Substanzen vergleichbar.» Es entsteht etwas Neues, dann ist es tatsächlich unerheblich, ob die ausserehe­liche Eskapade stattgefunden hat oder nicht.

Zindel interessiert sich für die «Befindlichkeit von Menschen, die in der Lebensmitte alles erreicht haben», sagt sie. «Sie erkennen, dass die Zukunft voraussichtlich keine grossen Überraschungen mehr bereithält; sie stecken in einem Käfig fest.» Diese Menschen, meist von keinerlei materiellen Sorgen geplagt, sehen sich mit der banalen Frage konfrontiert: «Wie weiter?» Dann kommen nach ihrer Erfahrung die Krisen. «Ich habe das in meinem Umfeld immer wieder gesehen.»

Um das wirkliche Leben spürbar werden zu lassen, schmückt sie «Kreuzfahrt» mit viel Zürcher Lokalkolorit. Der Paradeplatz erweist sich als ein Schicksalsort, das Café «Sprüngli» ist für den Leser erahnbar, das heute geschlossene ­Hotel «Breitinger» im Enge-Quartier war ein picobello Liebesnest. Zudem reichert Zindel ­ihre Geschichte mit recherchiertem Fachwissen an, zum Beispiel über den Marathon. Man erfährt, dass die wirkliche Herausforderung ­eines ­Läufers bei Kilometer dreissig beginnt, wenn Untrainierte längst aufgegeben hätten. Und man liest, dass der Boston-Marathon der ­Königslauf in dieser Disziplin ist.

Wichtiger jedoch als die körperliche Befindlichkeit ist der Autorin die seelische. «Traurigkeit» ist ein Wort, das im Gespräch mit Mireille Zindel mehrfach fällt. Für sie ist die Protagonistin Meret traurig und sucht deshalb den Ausbruch. Sie trauert um die verlorene Liebe zu ­ihrem Mann Dres, sie erkennt das Familien­leben als eine Leere, sie steckt also in einer Sinnkrise. Da rennt der schwedische Marathonläufer gerade recht in ihr Leben. Und selbst seine angetraute Engelsfrau sorgt für Abwechslung. Aber die Protagonistin Meret wagt nicht, aus ihrem Käfig auszubrechen. Ein Schicksal, das wahrscheinlich den meisten in der einen oder anderen Form einmal widerfahren ist. Davon erzählt Mireille Zindel in einer anschaulichen und flüssigen Sprache, und das macht diesen Roman lesenswert.

Mireille Zindel: Kreuzfahrt. Kein & Aber. 288 S., Fr. 26.90