Dieser Winter wollte einfach nicht vergehen, deshalb war es umso schöner, als die Tür im Haus an der Timmendorfer Strandpromenade von einem Sonnenschein geöffnet wurde, ja, einem blonden Elf aus dem «Sommernachtstraum»: mit Ringellöckchen, Grübchen, neugierigen Augen, das sprühende Leben, pure Zukunft – obschon ich doch wegen der Vergangenheit hier war.

Doch dann kommt sie schon, die Dame des Hauses, die Vergangenheitsspezialistin, wir fallen uns um den Hals: «Scheisswetter, tolle Tochter.» – «Hier das Wohnzimmer, hab gerade Tee». Bettina Röhl und ich, wir mögen uns, das gleich mal vorweg.

Ich mag ihre Unbeirrbarkeit, ihre überraschende Sanftheit, ihre Unbestechlichkeit, vor allem aber ihr Gerechtigkeitsempfinden, all diese Töne, die in ihrem Buch zu finden sind, das den unwiderstehlichen Titel trägt: «Die RAF hat Euch lieb».

Hell und hübsch die Wohnung, erster Stock überm italienischen Restaurant, und dann sitzen wir am Esstisch, und meinem Journalistenblick, der durchs aufgeräumte Wohnzimmer schweift, entgeht natürlich nicht diese halbgelöste Goldfransenbordüre, die da schlapp unters grüne Samtsofa hängt. Was für ein Stilbruch!

Protestantisch heiliggesprochen

Ihre Mutter wäre stolz drauf, schätze ich mal, die feierte Unordnung und Verwahrlosung in jedem Sinn als Sieg gegen das bourgeoise System, sie war stolz darauf, wenn die Kleinen mit zerrissenen Strumpfhosen im Kinderladen oder in der Schule erschienen. Seitdem mag Bettina Röhl Ordnung in ihrem Leben. «Kommt noch vom Umzug», sagt sie entschuldigend, als hätte ich Perfektion erwartet.

Dabei ist sie es, die diese Perfektion erwartet, von sich. Gegen diese Mutter. Ulrike Meinhof. Die, je nach Standpunkt, der schwarze Blitz war, der ins prosperierende Nachkriegsdeutschland einschlug, oder aber auch die hellste Gewissensflamme, unversöhnbar und unversöhnt bis zu ihrem Freitod.

Die Terroristin Ulrike Meinhof (1934–1976) als marxistische Galionsfigur zu bezeichnen, wäre zu schwach, das ginge schon eindeutig ins Religiöse. Sie war die Jeanne d’Arc der Linken, die heilige Maria der Revolution, die Gejagte, die Bewunderte, die Geächtete. Unzählige Filme, Essays, Bücher, unzählige Deutungsversuche dieses kurzen Lebens, das sie als Tochter eines früh gestorbenen NSDAP-Bonzen begann, früh in die Anti-Atom-Bewegung einbiegend, in ein Aktivistenleben, in dem es immer ums Ganze ging, früh in der illegalen KPD mit Kontaktleuten in der DDR tätig, Kunststudium, aber vor allem Journalismus, Arbeit für Konkret, die DDR-finanzierte Zeitschrift und Hauspostille der Linken, darauf die APO, die Ausserparlamentarische Opposition, die Ehe mit dem Zeitschriftenmacher Klaus Rainer Röhl, die Zwillinge Bettina und Regine kommen am 21. September 1962 zur Welt.

Ulrike Meinhof war vermutlich eine Mörderin, ja, sie verteidigte Mord als revolutionäre Tat – «natürlich kann geschossen werden». Doch sie wurde protestantisch heiliggesprochen vom linken Establishment, von Bundespräsident Gustav Heinemann, der zur Nachricht von ihrem Selbstmord flüsterte: «Sie ist jetzt in Gottes gnädiger Hand – und mit allem, was sie getan hat, so unverständlich es für uns war, hat sie uns gemeint.»

Sie starb stellvertretend für unsere Sünden! Pastor Helmut Gollwitzer, den sie insgeheim verachtete wie viele der kompromissbereiteren «Scheiss-Liberalen», sprach die letzten Worte auf dem Friedhof.

In den derzeit laufenden Gedächtnisfeiern zum Fünfzig-Jahr-Jubiläum der 68er ist Ulrike Meinhof der kultische Mittelpunkt. Und da versuch jetzt mal, Tochter zu sein und einen eigenen Blick zu werfen, unberührt von allen anderen! Da brauchst du auf jeden Fall Nerven – und Gerechtigkeitsempfinden.

Tatsächlich haben ja alle mittlerweile ihre eigene Ulrike Meinhof gezeichnet, der Ehemann, Freunde, Bekannte und Verwandte, Wichtigtuer und Fantasten jede Menge, aber natürlich ist in diesem surrealen Titel schon sehr vieles gesagt: Mit «Die RAF hat Euch lieb» fallen beide Welten zusammen, Kalaschnikow und Teddybär, die Gutenachtgeschichte und das revolutionäre Konzept.

Am Tag zuvor hatte sich Röhl mit dem Journalisten Stefan Aust getroffen, es ging um Buch- und Zitatrechte. Tatsächlich hatte sich Aust ja in seinem als Standardwerk geltenden Buch «Der Baader-Meinhof-Komplex» an vielem bedient, ohne Quellen zu nennen. Bettina hatte eifrig zugeliefert, ohne jeden Kredit dafür zu erhalten, jetzt also kommt sie mit ihrem eigenen Buch.

Die schwerdepressive Revolutionsmama Ulrike Meinhof hatte sich in einen bösartigen Sorgerechtsstreit mit ihrem Ehemann Klaus Rainer Röhl verhakt und wollte ihm die Töchter nicht überlassen, ja selbst dann nicht, als sie schon in den Untergrund abgetaucht war.

Tatsächlich widerruft ein Berliner Amtsgericht das Röhl erteilte Sorge- und Aufenthaltsbestimmungsrecht, da die Mutter mit unbekannter Adresse in den revolutionären Untergrund abgetaucht war und sich damit nicht mehr im Gerichtssprengel Berlin aufhielt. So was war im damaligen politischen Klima möglich.

So plante Ulrike Meinhof also, die damals fünfjährigen Töchter in ein palästinensisches Lager zu verfrachten; sie hätten doch bis dahin ein schönes Leben gehabt, meinte sie lapidar. Das ausgesuchte Lager wurde kurz darauf im Krieg der Al-Fatah mit Jordanien komplett zerstört.

Ja, und damals war es dieser 23-jährige unerschrockene Journalist (und die rechte Hand Röhls und der eigentliche Macher von Konkret) Stefan Aust, der die Zwillinge aus einem Erdbeben-Barackenlager in Sizilien, wo Genossen sie zwischengelagert hatten, herausholte.

Ein Husarenstück. Später erhielt Horst Mahler, zunächst Anwalt, dann ebenfalls untergetauchtes Bandenmitglied, den Auftrag, Aust und den als Verräter geltenden Peter Homann, der sich als einziger Gefährte Ulrike Meinhofs tatsächlich um die Kinder gekümmert hatte, zu liquidieren.

Bettina Röhl hatte Mahler später mal im Knast besucht, um 1990, und ihn gefragt: «Hätten Sie wirklich . . . ?» – «Nun», sagte Mahler freundlich, «also das wäre dann wohl ganz aufs Gespräch angekommen» – voll des sachlichen Mafiatons: Es ist nichts Persönliches; man kennt es aus dem «Paten».

«Glücksfall in der deutschen Geschichte»

Wir verlegen unser Gespräch nach draussen; mal die Teestube besuchen, die Gegend kennenlernen. Vor einem Jahr ist Bettina mit der Familie hierhergezogen, hier stehen lauter Häuser, die keine hundert Tage alt sind, doch dann gibt es jede Menge Strandbuden mit Sky-Empfang und Kioske und Fischrestaurants und Räuchereien; im Sommer, kann man sich vorstellen, ist das hier Rimini.

Geschrieben hat sie in den Wintermonaten, stets nachts. Hat morgens der Tochter noch das Frühstück hingestellt und dann geschlafen. «Ich hab dich nie arbeiten sehen, Mama», sagte Ella.

Ihre Tochter Ella. Erst kürzlich hat diese sie nach der Grossmutter gefragt und ob es stimme, dass sie Selbstmord begangen habe. In der Schule kam die Sprache darauf, aber Ulrike Meinhof lastet nicht auf ihr wie auf der älteren Generation, wie auf ihrer Mutter.

Da hinten schon der Steg mit dem Teehaus, es hat einen gläsernen Boden und ist ein Teetempel, eine regelrechte Teeakademie, wie ein Blick ins Menü beweist: Bettina nimmt den Earl Grey mit dem Namen «Was ist denn hier los?» und ich den grünen Tee «Der die Wogen glättet», es gibt ungefähr 200 Sorten, und jetzt sage noch einer, wir hätten keine Probleme.

Gerade mal vier Briefe waren in ihrem Besitz, die ihre Mutter ihr aus dem Gefängnis in Köln-Ossendorf geschrieben hat. Das war ihr Ausgangsmaterial, den Rest hat sie gesammelt, recherchiert in Archiven, in Gesprächen mit Dutzenden Zeitzeugen erfahren: mit ehemaligen Terroristen, Anwälten, die zu Ministern wurden – die ganz hohe Politik, auch Bundespräsidenten gaben ihr Antwort.

Nur drei Leute weigerten sich kategorisch: Hans Magnus Enzensberger, Alexander Kluge und Jürgen Habermas. «Ausgerechnet die drei grossen Gewinner von 68 standen so unter Druck, dass sie mir ihr Nein innerhalb von Stunden mitteilten.» Die anderen verstanden ihre Neugier, ihr Herzensanliegen. Und ihr Urteil über die Mutter steht fest: «Ulrike Meinhof hat gewonnen.»

Über den durchgeknallten Andreas Baader gab es so wenig Berichtenswertes oder Erinnerungsfähiges wie über die Pastorentochter Gudrun Ensslin. Es ist Ulrike Meinhof, die das kummervolle und unversöhnte Gesicht der RAF war. Ihr Mann witzelt gerne: «Bundeskanzler kamen und gingen, Ulrike Meinhof blieb.»

Bettina Röhl beginnt mit einem Essay, mit einem Statement, das alle überraschen mag, die jene Zeit als «bleierne» in Erinnerung haben: «Die Bundesrepublik der Sechziger- und Siebzigerjahre war ein Glücksfall in der deutschen Geschichte.» Bereits 1960 war die Bundesrepublik, die grosse moralische und militärische Verliererin des selbstverschuldeten Weltkriegs, die hinter den USA führende Wirtschaftsmacht der Welt. «Die junge Bundesrepublik hatte Glück», fährt Bettina Röhl fort. «Vielleicht in dem Ausmass, in welchem sie es hatte, nicht verdient, aber doch selbst erarbeitet.»

«Ihr Programm war knallhart»

Gleich wird hier mal klargestellt: Bettina Röhl, die meinungsstarke Kolumnistin und Publizistin, stemmt sich den Weg zu ihrer Mutter auf eigene Art frei, und sie hat nicht die geringste Lust, sich auf die gängigen antikapitalistischen Hysterien einzulassen, ohne die es in diesem Wohlstandswunderland, in das sie 1962 hineingeboren wurde, offenbar nicht ging.

Röhls plausibler Beginn: Was für ein Blödsinn, diese unreflektierte Begeisterung für Maos Kulturrevolution in einem Wohlfahrts- und Wohlstandsstaat! Eine Kulturevolution, die in Wahrheit ein kalkuliertes Blutbad mit Millionen von Toten war. Und es waren bisher die Linken, die die Erzählung bestimmten, die sich im Studiolicht der Weltgeschichte selbstgefällig betrachteten und sich und ihre massgeschneiderten Siegerbiografien vorführten.

Bettina Röhl informiert gründlich, über die Machthierarchien in der Pop-APO der Kommune 1 genauso wie in den Intellektuellenzirkeln, in der Politik und auch über die Alltagskultur – all die grossräumigen Berliner Wohnungen, die nach dem Mauerbau vom Bürgertum in Richtung Westen verlassen worden waren und von Wohngemeinschaften, den Antibürgerlichen, bespielt wurden.

Ulrike Meinhof schreibt ihre Kolumnen für Konkret, während ihre Ehe zu Röhl zerbrochen ist, zu Röhl, dem nicht besonders treuen Ehemann; aber hey, wir haben die Sechziger, die enthemmte nichtbürgerliche Beziehungsordnung! Meinhof allerdings macht da überhaupt nicht mit und begibt sich auf Kriegspfad. Röhl wird der Umgang mit den Kindern verwehrt, vor Gericht beschuldigt ihn Meinhof wie es in jedem «scheissbürgerlichen» Sorgerechtsprozess mittlerweile üblich ist, mit der Trias: Gewalt an der Frau, Gewalt an und sexuelle Unzucht mit den Kindern.

Bettina traut ihren Augen nicht, als sie sehr viel später die Vorwürfe liest: «Meine Mutter wurde das, was man ein verlogenes Miststück nennt.» Aus einer Rangelei um die Macht im Verlagshaus Konkret wird eine Verwüstungsaktion in der Villa des Herausgebers, unterstützt von Revolutionsbataillonen aus Frankfurt, Bremen und Münster.

Ihr Kampf gegen Röhl geht weiter. Sie verlangt Geld, für den gekündigten Kolumnenvertrag, für den «seelischen Schaden», den er bei seinen Kindern angerichtet habe. Es ist Meinhofs Freund Peter Homann, der die Mutterrolle übernimmt, der die Kinder morgens weckt und ihnen die Schulbrote streicht und sie zur Schule fährt.

Wahrscheinlich gehört genau das zur Erziehung des «Neuen Menschen». «Meine Mutter war auf einem neuen Trip, und ihr Programm war knallhart. Es sollte nicht nur die politische Revolution gemacht werden, sondern auch die Revolutionierung des eigenen Lebens sollte vollzogen werden.»

Ulrike Meinhof diskutiert nachts, trinkt und raucht Kette und schläft gern aus. Gleichzeitig macht sie ihrem Ex-Ehemann Vorschriften: «Da die Kinder bei mir leben und sie mit mir, nicht mit dir täglich zusammenleben, hast du jetzt meine Erziehungskonzeption zu akzeptieren. Also – wenn sie dir voller Stolz ihr völlig unordentliches Zimmer zeigen, hast du das auch schön zu finden.» Die Kinder – sie sind ihr Experiment.

Wir beschliessen, weiterzuziehen und etwas gegen den Hunger zu tun. Wir finden einen Italiener in der Innenstadt. Schwarze Nudeln mit Meeresfrüchten, wunderbar, dazu einen griffigen Roten, geschmückt ist das Lokal mit herrlichen Mafiafotos.

Zeit, über Sizilien zu reden. Über die Entführung. Natürlich sind Bettinas Erinnerungen, ihre Erfahrungen aus erster Hand, der pure Wahnsinn, denn gleichzeitig bereitet sich die RAF darauf vor, bei der Al-Fatah in Jordanien das Schiessen zu lernen. Peter Homann schliesst sich an, doch bald wird klar, dass Baader und Ensslin ihn für einen Verräter halten und liquidieren wollen.

Auch Ulrike Meinhof ist dafür. Womöglich, um sich doch als die harte Revolutionärin zu gerieren, die sie sein möchte, denn Baader/Ensslin haben mittlerweile eindeutig die Gruppe übernommen und geben den Ton an. Homann soll bei einer Schiessübung «versehentlich» dranglauben. Es ist sein Glück, dass er ein paar Brocken Französisch kann und der Fatah-Kommandant in Baader den Schwachkopf und Angeber erkennt, der er ist. Er wird mit Homann einen Fluchtplan aushecken.

In der Zwischenzeit packen Marianne Herzog und Monika Berberich die Zwillinge ins Auto, die Kids sind begeistert, und Bettina wählt im Kaufhaus das kitschigste und süsseste Rüschenkleidchen aus, das sie finden kann. Hanna K. fährt. Sie wird ganz am Schluss des Buches eingeführt, bewegend, weil sie es ist, die sich meldet, und die wohl Einzige ist, die mit echter Reue auf die Geschehnisse zurückblickt. Reue ist ansonsten ein Fremdwort für diese Generation, die dieselbe immer nur von den Vätern einforderte.

Über mehrere grüne Grenzen gelangen die Terroristen nach Sizilien. In einer Barackenstadt, die für Erdbebenopfer errichtet wurde und von der Mafia kontrolliert wird, gibt es tatsächlich ein paar revolutionsbewegte studentische Aktivisten, die allerdings überhaupt nicht im Bilde sind über die neuen Genossen aus Deutschland.

In ihrer Baracke schlafen die beiden Mädchen auf einer Matratze, und dass das Leben erst in den Abendstunden erwacht, in denen auch die anderen Kinder spielen, gefällt ihnen.

Phalanx von Revolutionsromantikern

Überhaupt erstaunlich, wie widerstandsfähig die Zwillinge sind. Sie passen sich an, sie machen das Beste aus allem. Sie gehen baden. Regine kann schon schwimmen, Bettina noch nicht. Doch jetzt gelingt es ihr, und dann kommt der Satz: «Ich wünschte mir, meine Mutter hätte das gesehen.»

Schliesslich bringe ich die Autorin wieder vor die Haustür, wie sich das gehört, die kleine blonde Fee kommt nach unten, Pünktchenpulli unter Pünktchenanorak und in den überhaupt tollsten Stiefeletten.

Sie wird dieses Buch sicher irgendwann lesen. Und mehr über ihre Grossmutter wissen wollen. Im Moment interessiert sie sich eher für Pferde.

Bettina Röhl hat ein berührendes und gleichzeitig ungemein politisches Buch geschrieben. Sie stellt sich mit diesem Buch gegen eine ganze Phalanx von Revolutionsromantikern, gegen den Willen zur Gewalt, der heute, noch fünfzig Jahre später, die Köpfe verhext.

Mit ihren Erinnerungen und eingestreuten Essays und dem bizarren Tonfall der herbeigezogenen Akten ist ein Buch entstanden, das schafft, was man nicht mehr für möglich gehalten hätte: Die RAF doch noch einmal interessant zu schildern – und zwar aus dem Blick eines Kindes!

 

Bettina Röhl: «Die RAF hat Euch lieb».Die Bundesrepublik im Rausch von 68. Eine Familie im Zentrum der Bewegung. Heyne. 640 S., Fr. 36.90