Nein, es geht in der Ukraine nicht um Freiheit und Sicherheit des Westens. Ginge es darum, würden wir nicht Ukrainer für «unsere» Sache sterben lassen, sondern selber kämpfen.

Es geht um einen Angriff der Grossmacht Russland auf eine frühere Sowjetrepublik, die während Jahrhunderten Teil des russischen Imperiums war. Der Grund für diesen Angriff liegt nach Auffassung der russischen Staatsführung in einer antirussischen Politik der ukrainischen Regierung, kompromisslos darauf ausgerichtet, den an Russland grenzenden Staat in die EU und vor allem ins Militärbündnis der Amerikaner einzugliedern. Das wollen die Russen nicht akzeptieren. Ihre Warnungen wurden in den Wind geschlagen.

Um von den eigenen Fehlern abzulenken, setzt der Westen auf Dämonisierung und Schauermärchen. Den Leuten wird eingeredet, Kremlherrscher Wladimir Putin sei mindestens so schlimm wie Hitler, Stalin, Dschingis Khan oder alle drei zusammen. Einige deutsche Kommentatoren, die früher Friedensmärsche veranstaltet und Bäume umarmt haben, klingen fast so, als wollten sie den vor achtzig Jahren gescheiterten Russlandfeldzug der Wehrmacht wiederholen. Mit grimmigem Augenglühen fordern sie gegen Russland eine Art totalen Stellvertreter-Krieg – aus der gesicherten Deckung hinter ihren Bildschirmen.

Die Medien tun so, als sei Putin der Erste, der in der Weltgeschichte ein anderes Land brutal überfallen und völkerrechtswidrig misshandelt hat. Mit Formulierungen, die das ur-rassistische Motiv des «slawischen Untermenschen» mit unheilvollstem Zungenschlag reaktivieren, versuchen sie den Nachweis einer bei den Russen angeblich tiefsitzenden kriegerischen Grausamkeit, einer Art Kultur-Konstante der Entmenschung, zu erbringen. Sie blenden aus, dass sich in der Geschichte nichts Vergleichbares finden lässt, was an die Gräuel des Westens in zahllosen Kriegen heranreicht, darunter der Doppelatombomben-Abwurf der Amerikaner auf Japan.

Keine dieser Zeilen dient dazu, die Untaten des Kreml zu beschönigen oder gar zu rechtfertigen. Aber man darf nicht schweigen angesichts des intellektuellen und politischen Missbrauchs, der mit diesem Krieg betrieben wird. Dazu gehört nicht zuletzt die institutionalisierte Unehrlichkeit gegenüber den Ukrainern, denen die Amerikaner und die EU jahrelang das falsche Versprechen abgegeben haben, sie seien willkommen in der EU und in der Nato. Man machte der Regierung in Kiew Mut, sich mit Putin anzulegen, anstatt, was vernünftig gewesen wäre, einen Kompromiss zu suchen mit dem von Nuklearwaffen starrenden Nachbarn im Osten.

Wer will es heute den Ukrainern verargen, dass sie mit ihren forschen Hilfsforderungen und dem an Arroganz grenzenden Auftreten die verlogenen Politiker des Westens beim Wort nehmen, das diese ihnen ernsthaft nie gegeben haben? Es ist höchste Zeit, den Moralismus durch Realismus zu ersetzen. Wir fragen: Sind die Ziele der USA und der Nato überhaupt realistisch? Nach hundert Tagen Krieg haben die Russen sich im Südosten der Ukraine etabliert. Von einer Unterwerfung des Landes sind sie weit entfernt. Aber ebenso unwahrscheinlich ist, dass sie aus dem Land gedrängt werden können. Was wollen die USA und die Nato also mit ihren Waffenlieferungen? Eine Fortführung der Schlächterei?

Nach hundert Tagen Sanktionspaketen eins bis sechs und folgende ist klar, dass diese Massnahmen Russland das wirtschaftliche Genick nicht brechen können und dass sie in den sanktionierenden Staaten mindestens gleich viel Schaden anrichten wie im Zielland. Was also ist der Zweck des eskalierenden Wirtschafts-, Inflations- und Hungerkriegs? Eine weltweite Rezession? Nach hundert Tagen Krieg müssen alle Massnahmen und Ziele rational und realistisch neu definiert und justiert werden. Die verbale Feuerwalze einseitiger Putin-Verteufelung ist das Gegenteil einer Strategie. Irgendwann wird man sich mit dem russischen Präsidenten wieder an einen Tisch setzen müssen. Ohne Waffenstillstand und Verhandlungen gibt es keine Lösung.

Auch die Schweiz wirkt unfähig, ihre nationalen Interessen zu sehen – und zu formulieren. Der Bundesrat gab unter dem Druck des Auslands die Neutralität preis. Die bürgerlichen Wackelparteien FDP und Mitte sind wild entschlossen, mit indirekten Munitions- und Waffensendungen an die Ukraine internationales Neutralitätsrecht zu brechen. Kürzlich kam heraus, dass Wehrministerin Viola Amherd zugunsten der Ukraine auf die Lieferung britischer Panzerabwehrwaffen an die Schweizer Armee verzichtet. Der Bundesrat ist bereit, die nationalen Interessen der Ukraine über die Sicherheitsinteressen der Schweiz zu stellen.

Derweil strömen Tausende von ukrainischen Flüchtlingen herbei, viele von ihnen anspruchsvoll und geneigt, in ihrer neuen Wahlheimat zu bleiben. Die Politik getraut sich nicht, den Ankommenden zu sagen, dass ihr Schutzstatus legal nur auf begrenzte Zeit verliehen ist. Auf die Frage, wie der Bund die Rückführung sicherstelle, gab die neue Migrationschefin zur Antwort: Man gehe davon aus, dass die Ukrainer von sich aus nach Hause zurückkehren. Umso beeindruckender leisten die Schweizer Hilfe und Solidarität. Man hat den Verdacht, dass die auf ihr Gutmenschen-Image bedachte Politik diese Grossherzigkeit verantwortungslos ausnützt, einmal mehr.

Nichts ist provokativer als die Wirklichkeit. Und Gnade Gott all jenen, die es wagen, die Wirklichkeit gegen mächtige Illusionen aufzubieten. Kriege sind aufwühlend, aber gerade die Politik sollte im Krieg einen kühlen Kopf bewahren. Am Rockzipfel der EU reitet der Bundesrat die Schweiz einen Abgrund von wachsender Unsicherheit, Kriegsgefahr, Wirtschaftsrezession und explosionsartig steigender Preise. Der erste Schritt zu einem Ausweg beginnt mit der Anerkennung der Wirklichkeit und der Feststellung der eigenen Interessen. Davon sind wir, politisch, noch meilenweit entfernt. R. K.

Die 3 Top-Kommentare zu "Unsere nationalen Interessen"
  • Uncle Scrooge

    Der Unterschied zwischen den USA und der Schweiz: die USA verfolgen ihre aussenpolitischen Interessen im Ernstfall konsequent. Die Schweiz macht das Gegenteil.

  • miggeli1

    Flüchtlinge: Die Stimmung die ich von Lesern erhalte, ist: Genug ist Genug!KKS und ihre Propagandisten sind mehr als nur auf dem Holzweg.Sie sind verhasst,

  • heidipeter4145

    Eine faire sachliche Darstellung der verfahrenen Situation. Danke RK