«Welcome, dear Bruno.» Ein mir unbekannter Mann, Mitte vierzig – klein, sehr dunkel, Seehundschnauz, Kugelaugen, sympathisch – streckt eine Kartontafel in die Höhe und bricht sofort in Tränen aus. Er steigt über die Abschrankung, stammelt «hello», «we are glad, so glad», «glücklich, so glücklich», ergreift meine Hand, umklammert sie so innig wie ein Säugling den Daumen der Mutter, zerrt mich durch die Menge – wo sind eigentlich unsere Koffer? –, überall Leute, Leute, Leute, es ist morgens um halb vier, 28 Grad feucht, wir überqueren eine Strasse, Motor-Rikschas lärmen an uns vorbei – Silvia, bist du hinter mir? –, der Mann zerrt mich weiter, wir gelangen auf einen düstern Parkplatz, Palmen, die Luft ist dick und klebrig und bleischwer, eine Autotüre geht auf, die Koffer sind schon drin, «das ist Abdul, der Mann deiner Cousine» (oder hiess er Ahmed?), «und hier unser Fahrer, ein Schwager deiner Tante» (oder war es ein Grossonkel?) «und das ist Hassan, dein...»
Am Flughafen von Madras, Hauptstadt des südindischen Bundesstaats Tamil Nadu, begann, was sich als die bemerkenswerteste, aufwühlendste und absurdeste Reise meines Lebens herausstellen sollte. Eine Reise, gegen die ich mich jahrelang gesperrt hatte und die mich in den hintersten Winkel einer ohnehin entlegenen Region führen würde: in ein Dorf namens Srivaikuntam, siebzig Kilometer vom Ende Indiens entfernt, wo Arabisches Meer, Golf von Bengalen und Indischer Ozean zusammenfliessen.
Gut zwei Jahre zuvor, am 27. Dezember 2001, wurde in Zürich mein Vater beerdigt. Der katholische Priester sprach bewegende Worte, meine Mutter weinte, ich stand reglos an ihrer Seite. Um uns herum Freunde, Bekannte und die wenigen Verwandten: der Onkel aus Basel, der französische Cousin, ein paar Angehörige aus Luzern. Am Rand der Trauergemeinde stand Joseph. Die Hände gefaltet, den Blick auf den Boden gerichtet. Er ist Inder und damit einer der wenigen Landsleute, mit denen mein Vater in den über fünfzig Jahren, die er in Europa verbrachte, Kontakt hatte. Mein Vater hörte Beethoven und «Echo der Zeit»; er trank Whiskey mit Paul, einem distinguierten freisinnigen Unternehmer; er wetterte über die heutige Jugend, vor allem jene aus dem Balkan, und trauerte seiner Studentenzeit in London nach, als er mit seinen Kommilitonen den britischen Humor pflegte. In Indien war er in der ganzen Zeit nur viermal; seine Muttersprache Tamilisch, behauptete er, habe er verlernt; und dass er gebürtiger Muslim war, dafür hatte er bestenfalls ein paar ironische Bemerkungen übrig.
Kaum erstaunlich also, dass ich mich bedeutend eingehender mit argentinischer Politik, holländischem Fussball oder Göpf Eggs Jassregeln befasst hatte als mit der Heimat meines Vaters. Entsprechend unverständlich war mir das Interesse weltoffener Schweizer an meinen «exotischen Wurzeln». Wurzeln! Sehe ich aus wie ein Mangobaum?
Mit dem Tod meines Vaters begannen sich die Dinge allmählich zu ändern. Den Anfang machte das Wiedersehen mit Joseph am Begräbnis. Seine Anwesenheit war für mich irgendwie tröstlich, und ich spürte eine unerklärliche Verbundenheit mit ihm – obwohl uns in Wahrheit ausser ein paar gemeinsamen Sonntagsessen bei meinen Eltern wenig verband, und obwohl mein Vater und er völlig verschieden waren: südindischer Tamile, promovierter Ingenieur, kontaktfreudig und aufbrausend der eine; ein gläubiger Christ aus Kerala, schweigsam und bescheiden der andere.
Die Trauer der Schwestern
Als sich der erste Schock gelegt hatte, realisierte ich, dass es an der Zeit war, die Angehörigen meines Vaters zu informieren. Meine Mutter zeigte mir den schweren Ordner, in dem er die Briefe aus Indien abgelegt hatte (je älter er wurde, desto mehr Papier archivierte er) und in dem ich die Adresse von Mister Yusuf finden würde, dem Mann seines Vertrauens in der weit verzweigten Verwandtschaft. «Lieber Herr Yusuf», schrieb ich in so einfachem Englisch wie möglich, «ich habe schlechte Nachrichten. Mein geliebter Vater ist gestorben. Er starb am 17. Dezember. Meine Mutter und ich sind sehr traurig. Alles Gute.»
Da mittlerweile fast vier Wochen seit seinem Tod vergangen waren, beschloss ich, den Brief um einige Tage vorzudatieren. Die Antworten kamen schnell und zahlreich. «Ich bin deine Tante. Die älteste Schwester deines Vaters. Meine Augen halten nicht genug Tränen, um zu zeigen den Schmerz.» – «Ich bin deine Tante. Die jüngste Schwester deines Vaters. Für mein nächstes Leben wünsche ich mir, wieder als seine Schwester geboren sein.» – «Ich bin deine Cousine. Nicht Länder weder Entfernungen werden unsere Liebe je trennen.» – «Ich bin deine Tante. Die dritte Schwester deines Vaters. Bitte sofort nach Indien kommen.»
Und Mister Yusuf schrieb: «Ich möchte Sie darüber in Kenntnis setzen, dass nie eine überraschendere Nachricht und so schockierend mich je erreicht hat. Und wieso erst so spät?» Es war nicht der einzige Brief, in dem der Vorwurf anklang, ich hätte die Todesnachricht rascher überbringen sollen. Natürlich hatte ich ein schlechtes Gewissen. Schliesslich handelte es sich – und das wurde mir merkwürdigerweise erst in jenem Augenblick richtig bewusst – um ganz nahe Angehörige, denen mein Vater, «trotz Ländern und Entfernungen», offensichtlich noch immer viel bedeutete.
Andererseits: Was hatte ich mit diesen Leuten zu tun? Mit muslimischen Händlern, Lehrern und Hausfrauen aus einem südindischen Kaff? Ein einziges Mal, vor über zwanzig Jahren, war ich dort gewesen. Noch tief im Nebel der Pubertät, von den Eltern zum Mitkommen genötigt, dauerdesinteressiert und permagenervt, die Tage bis zur Rückkehr zählend, der Jugendliebe nachtrauernd, die mich drei Tage vor Abflug verlassen hatte. Und vor allem: Mein eigenes Leben nahm mich jetzt mehr als genug in Beschlag. Mein Rücken war versaut, der Job anstrengend, die Mutter an Krebs erkrankt.
April, Juni, Oktober, Januar. Die Monate vergingen, Mutter wurde kränker, die Fussball-WM kam, Ferien mit der Freundin, noch mehr Arbeit, Frühlingsanfang, ab und zu ein Brief von Mister Yusuf, eines Tages ein E-Mail von Nowrose – einer Cousine, angeblich –, später die absurde Anfrage eines Ibrahim: «Hallo, hier Ibrahim. Ich verwandt. Ich will arbeiten in Europa. Bitte Information.»
Indien schien weit weg, rückte aber, wie ich erst im Nachhinein erkannte, immer näher. Obwohl mein Vater schon mit neunzehn von zu Hause fortgezogen war, obwohl er nur selten über seine Familie sprach, sie kaum besuchte und sogar vorgab, sich nicht mehr für ihre Angelegenheiten zu interessieren, unterstützte er sie ein Leben lang finanziell. Ob als Praktikant in Pakistan, als aufstrebender Staudamm-Experte in Ghana oder als etablierter Ingenieur bei einem Zürcher Hoch- und Tiefbauunternehmen: Jahr für Jahr, ohne Ausnahme und immer an Weihnachten überwies er der Mutter und den sieben Schwestern Geld. Und da mein Vater zu jenen Männern gehörte, die zu Lebzeiten viel darüber sprechen, wie es sein wird, «wenn ich einmal nicht mehr da bin», sagte er mir: «Nach meinem Tod schickst du nochmals dreitausend Franken. Dann ist fertig.»
Und so geriet ich in die Fänge der indischen Bürokratie, der vielleicht absonderlichsten der Welt. Sinnlos, unergründlich und unstoppbar wie eine Tinguely-Maschine. Ich überwies die Summe, wie mir geheissen, auf ein Konto bei der State Bank of India (Filiale Srivaikuntam). Doch diese verweigerte Mister Yusuf den Zugriff. Dass Mister Yusuf, der für die Verteilung des Geldes unter den mittlerweile noch fünf lebenden Schwestern zuständig war, eine gültige Vollmacht besass, half nichts. Ebenso wenig wie meine Mails, Faxbestätigungen und eingeschriebenen Briefe samt den von der Bank angeforderten amtlichen Kopien des Testaments, dem Todes- und dem Geburtsschein sowie einem Doppel der Vollmacht, in deren Besitz sie bereits war. Wirkungslos auch meine Telefonanrufe bei der indischen Botschaft in Bern und das ungehaltene Schreiben, das ich hinterherschickte (ein «stinking letter», wie mein Vater, der gerne auf Englisch schimpfte, gesagt hätte).
Indische Beamte blockierten mein Geld. – Mein Geld, das für Mister Yusuf bestimmt war. – Für Mister Yusuf, der es an seine Verwandten weiterleiten würde. – An seine Verwandten, die auch meine waren. Ich, sie – wir: Zum ersten Mal waren aus den Angehörigen meines Vaters ein wenig meine eigenen geworden.
Anfang August stirbt die Mutter. Nach der zweiten Beerdigung innert anderthalb Jahren gehe ich für ein paar Wochen schlafen.
Danach ist alles anders und genau gleich: Auch ohne Eltern gibt es einen Alltag. Und in dem haben Südinder wenig verloren. Doch eines Abends im November folgt eine Szene, die, hätte sie mir jemand erzählt, von mir als unglaubwürdiger, sentimentaler Heimatromankitsch abgetan worden wäre. Ich komme nach Hause, ziemlich angetrunken, gehe ins Bad, wasche mir das Gesicht, schaue in den Spiegel und denke: Ich muss nach Indien.
Willkommen in Indien
Wir holpern über schummrige Strassen Richtung Innenstadt. Links und rechts liegen halb nackte Gestalten – tot oder lebendig? –, in der Mitte der Fahrbahn döst ein Ochse. Lastwagen donnern uns entgegen, ein Rudel streunender Hunde trappelt über eine Kreuzung. Rauchschwaden. Infernalischer Gestank. Ein alter Mann zerrt an einer Holzkarre, seine Beine sind so dünn wie Gehstöcke. Einen Moment lang glaube ich, dass mir übel wird.
Nach der hektischen Begrüssung herrscht im Auto verlegenes Schweigen. «Ist es weit bis zum Hotel?», frage ich den Mann, der uns am Flughafen empfangen hatte.
«Ja, ja, kein Problem.»
«Bitte?»
«No problem, no problem.»
«Ich habe gefragt, ob es weit sei bis zum
Hotel.»
«Tell?»
«Ho-tel. Wie viel Zeit?»
«Ah, nicht mehr als eine halbe Stunde. Mach dir keine Sorgen, wir werden...
Er redet in horrendem Tempo weiter. Ist das jetzt Englisch oder Tamilisch? Ich verstehe kein Wort. Und er versteht mich nicht. Je langsamer und vermeintlich deutlicher ich spreche, desto weniger. Ein Hauch von Panik kommt in mir auf. Geht das jetzt zehn Tage so weiter? Und werden die mich jedes Mal an der Hand nehmen, wenn wir herumlaufen? Und Silvia, meine Freundin, werden sie die ganze Zeit ignorieren?
«Entschuldige. Ich habe eine dumme Frage. Wahrscheinlich werde ich noch viele dumme Fragen haben.»
«Kein Problem, wir sind bald da.»
«Wer bist du schon wieder?
«Wieder? – Ah! Babu. Ich bin Babu, dein Cousin Babu. Der Sohn von Tante Kamarunisa.»
«Deine Mutter ist also eine Schwester meines Vaters.»
«Ja, ja, Schwester, Schwester.»
Babu fängt erneut zu heulen an. Er senkt den Kopf und reibt sich die Augen, so dass er aussieht wie ein kleiner Junge und man ihn in die Arme nehmen möchte. «Ich habe den...deines Vaters akzeptiert. Aber mich traf keine Schuld. Du musst mir glauben. Es war Za..., der...»
Babu. Nun erinnerte ich mich halbwegs. Mein Vater hatte lange Zeit drei Vertraute in Indien. Mister Yusuf, einen gewissen Zafir und eben Babu. Vor einigen Jahren fiel Babu in Ungnade, kurz darauf Zafir. Es ging um einen Hausverkauf. Kaum je hatte ich meinen Vater wegen einer indischen Familienangelegenheit derart aufgebracht gesehen. Vor allem auf Zafir schien er wütend. Was ich auf der Fahrt ins Hotel noch nicht ahnen konnte: Schon bald würde dieser Familienstreit auch mir sehr nahe gehen.
Das Hotel, das Babu für uns ausgewählt hat, ist gut. Später erfahren wir, dass er zwei Wochen zuvor schon einmal nach Madras gereist war, um einen geeigneten Schlafplatz für seine Gäste auszuwählen und, wie er sich ausdrückte, «alle weiteren notwendigen Vorkehrungen» für unseren Aufenthalt zu treffen. Die Fahrt von Srivaikuntam nach Madras (oder Chennai, wie es heute offiziell heisst) dauert fünfzehn Stunden.
Ausschlafen (Jetlag), eine Tasse Tee trinken, dann ein erster Erkundungsspaziergang in der näheren Umgebung, am Abend vielleicht mit Babu an den Strand. Soweit unsere Pläne für den ersten Tag. Aufgekratzt, erschöpft und ein wenig eingeschüchtert legen wir uns ins Bett, während es draussen bereits wieder hell wird.
Kurz nach acht klingelt das Telefon. Ein Herr Babu erwarte uns in der Lobby. Silvia und ich sehen uns perplex an. Zwanzig Minuten später taumeln wir die Treppe hinunter in die Hotelhalle. Ich kann Babu nicht gleich erkennen und lächle den Falschen an. Plötzlich steht er neben mir; grinsend, eine Hand lässig in der Hosentasche. Er wirkt viel entspannter als gestern. Ihm haben die zwei Stunden Schlaf offenbar gut getan. Aus einer Ecke nähern sich vier Frauen im Tschador. Bruno! Bruno! Das sei Nowrose, meine Cousine, sagt Babu. Bruno! Und das ihre Schwester. Bruno! Und noch eine. Kinder und junge Männer stossen dazu; die etwa zehnköpfige Gruppe bildet einen Halbkreis um uns herum. Alle lachen und strahlen und kichern. Eine ältere Frau tritt vor. Sie stellt sich auf die Zehenspitzen, legt mir ihre Hand auf die Stirn und weint stumm. «Das ist deine Tante. Die jüngste Schwester deines Vaters.» – Die Schwester meines Vaters. Ich bin sprachlos.
Es stellt sich heraus, dass vier meiner fünf Tanten noch in Srivaikuntam leben, die jüngste aber nach dem Tod des Ehemannes mit ihren neun Kindern nach Madras gezogen ist. Ihre älteste Tochter ist 39 und eben Grossmutter geworden. Dass ich, obwohl fast gleich alt, noch kinderlos und unverheiratet bin, wird mit einer Mischung aus Faszination und Mitleid zur Kenntnis genommen. Mein Vater hatte jenen, die zu früh und zu viele Kinder auf die Welt stellten, sporadisch mit der Streichung der Unterstützungsbeiträge gedroht. Seinen Schwestern machte dies offenbar nur bedingt Eindruck: Laut einer handgefertigten Tabelle, die mir Babu am Schluss der Reise feierlich überreichte, habe ich 31 Cousins und Cousinen. Diese immerhin scheinen sich etwas stärker zurückzuhalten (69-facher Onkel zweiten Grades bin ich trotzdem).
Der goldene Ring
«Wir müssen los», sagt Babu und treibt uns wie Gänse aus dem Hotel in ein wartendes Taxi. Nowrose schwingt sich auf ein Motorrad. Ihre Mutter, ein Baby auf dem Arm, setzt sich auf den Soziussitz. Kurz darauf finden wir uns in einer kargen Zweizimmerwohnung wieder. Hier leben meine Tante, ihre zwei erwachsenen Söhne sowie Nowrose mit ihren drei kleinen Buben. Nowrose sei erst neulich zu ihrer Mutter zurückgekehrt, flüstert mir Babu zu. «Eheprobleme.»
Das Wohnzimmer ist etwa fünfzehn Quadratmeter gross. Als wir hereinkommen, befinden sich ein Dutzend Leute darin. Es ist so laut wie in einer Markthalle und weit über dreissig Grad. An der Wand hängen eine Kuckucksuhr und ein Bild von Mekka. Silvia und ich werden an einen runden Tisch gesetzt, Nowrose serviert das Frühstück: zwei Sorten Reis, Lammcurry, Linsencurry, Huhn, Papad, Nan und andere Fladenbrote, frittierter Blumenkohl, Iddlis (Reisküchlein), Kokospaste, Raita. Es ist halb zehn Uhr morgens Lokalzeit, fünf Uhr in der Früh Schweizer Zeit. Wir essen zu zweit; die anderen schauen aufmerksam zu. Meine Tante steht dicht neben mir. Nach maximal drei Bissen schöpft sie nach. Silvia ist bleich.
Die Nachspeise besteht aus Bananen, Mango, Trauben, Pudding und einer extrem süssen, klebrigen Masse. Wir ringen mit den Händen, schütteln den Kopf, lächeln verlegen, sagen danke, immer wieder danke, wunderbar, aber einfach too much, als plötzlich und ohne ersichtlichen Grund – der Tod durch Überfressen schien uns bereits sicher – abgeräumt wird. Babu scheucht die Menge aus dem Wohnzimmer, zeigt auf das Bettsofa und sagt: «Ihr möget euch nun zur Ruhe legen.»
Vom Zimmer aus sieht man eine Moschee und den Pausenhof einer islamischen Mädchenschule. Nowrose, so erzählt sie uns später, leitet die Schule. Ich wusste zwar, dass meine Verwandten Muslime sind, hatte mir aber noch wenig Gedanken darüber gemacht, wie religiös sie waren. Babu wirkte auf jeden Fall nicht wie ein gottesfürchtiger Eiferer. Die Familie von Nowrose konnte ich nicht einschätzen. Als ich die Frauen mit ihren langen, schwarzen Kopftüchern auf mich zuwallen sah, erschrak ich ein wenig. Eine dumme Reaktion einerseits, schliesslich mache ich mir beim Anblick eines Kruzifixes auch nicht in die Hosen. Eine aufrichtige Reaktion anderseits, die zeigt, wie suspekt die Insignien des Islams einem Westler mittlerweile sind.
Tschador hin oder her: Nowrose ist der unangefochtene Boss im Haus. Sie verteilt unsere Mitbringsel, begleicht im Teehaus die Rechnung, beantwortet unsere Fragen, übersetzt für ihre Mutter. Ihre Brüder halten sich die ganze Zeit im Hintergrund, lächeln selig und wagen es kaum, mich, geschweige denn Silvia, anzusprechen. Andererseits: Nowrose möchte sich von ihrem Mann scheiden lassen, der sie, unmittelbar nachdem sie ihm Zwillinge gebar, verlassen hat. Dafür braucht die 38-jährige Schuldirektorin jedoch das Einverständnis ihrer Familie. (Laut Babu stehen die Chancen gut; man will aber noch etwas zuwarten.)
Ein Kurzbesuch beim Imam der nahen Moschee, ein Rundgang durch die Mädchenschule, deren Rechenlehrerin, als ich ihr die Hand zum Gruss reiche, erschrocken zurückweicht, ein opulentes Mahl beim Schwager von Nowrose, später mit einem todessehnsüchtigen Taxifahrer an den Strand. Schon nach wenigen Stunden Indien habe ich Kopfweh von den vielen Eindrücken. Als uns Babu am späten Nachmittag ins Hotel zurückbringt, bin ich ferienreif und fest entschlossen, eine 24-stündige Verwandtenpause einzuschalten.
«Geht jetzt ungeniert auf euer Zimmer», sagt Babu gönnerhaft. «In etwa zwei Stunden hole ich euch wieder ab.» Die Fahrkarten für unsere Weiterreise nach Madurai hat er bereits gekauft. Der Zug fährt noch am gleichen Abend. Distanz: 450 Kilometer. Reisedauer: elf Stunden. Dass wir zwei Tage in Madras bleiben wollten, davon hat er angeblich nichts mitbekommen. Er zeigt auf sein Handy und sagt: «Im Dorf sind sie unruhig. Alle warten begierig auf eure Ankunft. Ich bitte um Verständnis.»
Wir werden von rund zwanzig Verwandten und Anverwandten zum Bahnhof begleitet. Meine Cousinen schenken mir zum Abschied einen goldenen Ring. Ein schönes, geschmackvolles Geschenk, das aber einige Tage später einen Tiefpunkt meiner Reise markieren wird. Silvia erhält ebenfalls einen Ring, zudem ein halbes Dutzend Armreife, Haarbänder und eine Halskette. Für beide gedacht ist, nebst einer Einkaufstasche voll Esswaren, eine Zuckerdose mit zwei aufgeklebten Plastikfiguren, die ein Brautpaar darstellen. Wir verstehen die Anspielung auf Anhieb. Meine Tante macht ein ernstes Gesicht. Bevor der Zug losfährt, nimmt sie Silvia zur Seite. Jetzt, da ich keine Eltern mehr hätte, müsse sie versprechen, sich bis ans Ende der Tage um mich zu kümmern.
Ein Bärtiger taucht auf
Im Morgengrauen erreichen wir Madurai. Babu möchte unverzüglich weiterreisen, «damit wir rechtzeitig im Dorf ankommen». Wir weigern uns. Immerhin ist Madurai, Millionenstadt und religiöses Zentrum für Hindus, eines der spektakulärsten Touristenziele Südindiens. Wenn wir schon in der Gegend sind, könnte man sich ja den einen oder anderen Tempel ansehen. Und ausschlafen.
«Einverstanden.» Babu zum Einlenken zu bewegen, ist nicht schwierig. Herauszufinden was er wirklich denkt, dagegen schon. Mit Fragen wie «Was wäre denn dir lieber?» oder «Kannst du das nachvollziehen?» oder «Mal ehrlich, haben wir uns jetzt danebenbenommen?» kann er nicht viel anfangen. Selbst gegen Schluss der Reise, als die gegenseitige Zuneigung und Vertrautheit immer grösser werden, bleibt er bei floskelhaften Standardantworten. «Meine Aufgabe ist es, euch glücklich zu machen.» – «Eure Präsenz ist Dank genug.» – Und immer wieder: no problem, no problem. Der förmliche Ton und die devote Haltung – als wäre ich ein hoher Würdenträger – machen es bisweilen schwierig, in ihm einen nahen Verwandten zu erkennen.
Manchmal aber scheinen wir einander gar nicht so fremd. Babu ist klug, gebildet, säkularisiert und neugierig. Er unterrichtet Buchhaltung und Mathematik an einer Mittelschule; er verfügt über einen Internetanschluss und dasselbe Mobiltelefon wie ich (vor dem Handy sind alle gleich). In den guten Momenten, etwa wenn er, den Kopf leicht eingezogen, einen Scherz über meinen bleichen Teint riskiert oder uns konzise ein regionalpolitisches Problem erklärt, leben wir durchaus auf demselben Planeten.
Silvia und ich beziehen ein Zimmer in einem Viersternehotel. Babu spricht vage von «Bekannten», bei denen er unterkommen will. Das Hotel kann er sich nicht leisten, da die 120 Franken pro Nacht fast der Hälfte seines Monatslohns entsprechen. Und von uns lässt er sich ohnehin nicht mal eine Tasse Tee spendieren.
Als ich an der Réception unsere Pässe abholen will, falle ich fast in Ohnmacht. Vor mir steht ein knapp siebzigjähriger Mann, auffällig dunkel, hohe Stirn, Hornbrille, dichte, weisse Koteletten. Im ersten Moment glaube ich, meinen Vater vor mir zu sehen. Nie zuvor war ich jemandem begegnet, von dem ich fand, er sehe ihm ähnlich. Ob mir dies in Srivaikuntam noch öfter passieren würde?
Nach einigen Stunden komatösen Schlafs machen wir uns für die Tempeltour bereit. Natürlich zu dritt. Dass Silvia und ich auch nur fünf unbewachte Schritte machen, kommt für Babu nicht in Frage. Ist er gestern viel zu früh im Hotel erschienen, verspätet er sich heute um mehr als eine Stunde. Dafür kommt er in Begleitung. Sein Gefährte trägt einen sorgfältig gestutzten Bart und ein weisses Käppchen. Eine Hautkrankheit hat ihm die Nase verunstaltet, ihr rötlich-braunes Netzmuster zieht den Blick magisch an.
«Salaam», sagt der Bärtige feierlich, die Hände zum Gruss ausgestreckt. Der älteste Bruder des Mannes meiner Cousine oder so ähnlich, nuschelt Babu, dem die Situation unangenehm zu sein scheint. Mit grosser Geste erklärt der Mann, dass er uns ganz Madurai zeigen werde. Später. Zuerst aber möchte er uns in seinem Haus zu einem kleinen Mahl willkommen heissen. Ich will dankend ablehnen, getraue mich aber nicht. «Nur für ein Stündchen», beschwichtigt Babu, der meine Gedanken erraten hat.
Auf der Fahrt legen wir diverse Zwischenhalte ein. Wir trinken Tee im Gemischtwarenladen eines «Verwandten», wir schauen in einem Ersatzteillager für Elektrogeräte vorbei, das einem «engen Freund» meines Vaters gehört, wir lassen uns vom Bärtigen in seiner Manufaktur für Sicherungskästen herumführen. Hauptzweck der Betriebsbesichtigung scheint, die vorwiegend minderjährigen Akkordarbeiterinnen mit den Besuchern aus Europa zu beeindrucken.
Meine Laune hält sich in Grenzen. Aus dem «Stündchen» sind bereits zwei geworden. In den staubigen, mit Menschen, Ochsen und Motorrädern voll gestopften Strassen riecht es nach Fäkalien und fauligem Abfall. Die Sonne fräst ein Loch in meine Schädeldecke. Statt eines Hindutempels suchen wir eine Apotheke für Silvia – zweifelsohne das erste Mal in der Geschichte Indiens, dass eine Touristin, statt an Diarrhö, an Verstopfung leidet.
Zwei Stockwerke, vier geräumige Zimmer, gekachelte Böden, Ventilatoren und ein überdimensionierter Sony-Fernseher: Der Bärtige muss ungleich wohlhabender sein als die Familie von Nowrose. Er stellt mich seinen drei Söhnen und weiteren Männern vor. Alle tragen weisse Käppchen. Silvia wird in einen anderen Raum geführt, in dem sich offenbar nur Frauen aufhalten.
Unsere Männerrunde lässt sich Jay-Tee servieren. Man mustert mich; gemütlich ist anders. Ein Sohn des Bärtigen fragt, ob es in meiner Stadt viele Moscheen gebe. Ein anderer, ob ich einen Koran besitze. Und ob die Juden bei uns mächtig seien. Und wie oft ich bete. «Bruder, hast du viele muslimische Freunde?», will der Dritte wissen. «Merkwürdig. Du bist Muslim und kennst keine Muslime.» Er lächelt versonnen und drückt mir einen Koran in die Hand sowie die Schrift «Das Licht des Islam» von Muhammad Ali Alkhuli.
Babu schaut betont unbeteiligt zum Fenster hinaus. Ich werde wütend. Welche Anmassung, welche Selbstgefälligkeit. Ich kenne diese Leute nicht und bin erst seit fünf Minuten in ihrem Haus. Ich war so freundlich, ihre Einladung anzunehmen, Silvia tut ihr Bestes, sich den hiesigen Regeln und Gepflogenheiten anzupassen. Was würden die Männer wohl sagen, wenn ich hier die Frohe Botschaft verteilte oder Belehrungen zur Gleichstellung von Frau und Mann zum Besten gäbe?
Am nächsten Morgen habe ich den Bärtigen und seine Söhne schon fast vergessen. Wir sitzen im Bus nach Tirunelveli, einer Provinzstadt vor Srivaikuntam (400000 Einwohner und eine zweitausendjährige Geschichte, immerhin). Babu ist guter Dinge. Er lobt mich für meine diplomatischen Antworten in Madurai («genau so hätte es dein Vater auch gemacht») und verschickt reihenweise Textnachrichten, die von unserer baldigen Ankunft künden. Ich bin in einer eigenartigen Stimmung: Vorfreude, Unruhe, eine vage Sehnsucht und ein wenig Angst: Sri Vaikuntam. Himmlischer Ort. Das Geburtsdorf meines Vaters. Unglaublich.
Raus aus dem Bus, hinein ins Auto und sofort weiter. Schneller schlägt ein kolumbianisches Entführungskommando auch nicht zu. Unser Gepäck? «Keine Sorge, schon drin.» Der Fahrer, erklärt Babu, werde Silvia und mir «während unseres gesamten Aufenthalts rund um die Uhr» zur Verfügung stehen. Und darf ich vorstellen: Mister Yusuf. Ein hagerer Mann, Mitte sechzig, in einem weissen Männerrock dreht sich um und sagt schüchtern «hello».
Im Dorf des Vaters
Nach einer Stunde vorbei an sattgrünen Reisfeldern und hohen Palmen gelangen wir über eine baufällige Brücke in ein Dorf oder besser: eine Mischung aus Bauernweiler und geschäftiger Kleinstadt. Unasphaltierte Strassen, armselige Hütten, Ziegen, Schweine, Ochsenwagen, kaum Autos. Aber auch verputzte Steinhäuser, Läden, eine grosse Schule, ein Tempel und viele Menschen. Unser Wagen zwängt sich in eine enge Gasse und hält vor einem weissen Haus. «Willkommen», sagt Babu. Als ich den Türvorhang zur Seite schiebe, trete ich in ein voll gepferchtes Zimmer. Ein kollektiver Seufzer durchfährt den Raum. Alle reden gleichzeitig, nicht laut, sondern fast ehrfürchtig wispernd. Babu macht Platz für eine alte, verschrumpelte Frau, die auf mich zueilt. Sie legt ihren Kopf an meine Brust und weint. Dann schaut sie zu mir empor, ihre Lippen zittern. Mit einer lieblichen, fast kindlichen Stimme redet sie auf mich ein. «Das ist Tante Ummul, die älteste Schwester deines Vaters.» – «Und was sagt sie?» – «Ich bin jetzt deine Mutter.»
Silvia und ich werden auf zwei Plastikstühle gesetzt. Zwei junge Frauen, die übers ganze Gesicht strahlen, servieren Tee und Samosas und Früchte und Süssigkeiten. Der Raum defiliert an uns vorbei: Cousin, Cousin, Cousine, Tante, Cousine, Tante, Cousin, Babus Frau, seine drei Töchter, der Sohn von X, der Enkel von Y, ein Schulfreund meines Vaters, der Ehemann von Z., die Schwägerin des, die Schwiegereltern der, der Onkel eines. Und ständig treten neue Leute durch den Vorhang, schütteln uns die Hand oder verneigen sich, setzen sich für einen Moment uns gegenüber auf das merkwürdige Kunststoffsofa, betonen, wie glücklich sie unsere Anwesenheit macht und was für ein grossartiger Mensch mein Vater war.
In Babus Haus auf einem Plastikstuhl sitzen, Tee trinken, mit Esswaren voll gestopft werden, Verwandte und Nachbarn empfangen: soweit unsere Hauptbeschäftigung in Srivaikuntam. (Manchmal auch: im Haus einer Tante auf einem Plastikstuhl sitzen, Tee trinken und mit Esswaren voll gestopft werden.) Anfänglich nervten und ermüdeten mich die immer gleichen Fragen und Antworten, der immer gleiche Tagesverlauf, und ich war froh, dass Babu in weiser Voraussicht einige Ausflüge zu nahen Sehenswürdigkeiten eingeplant hatte.
Doch mit der Zeit verstand ich, wie viel den Leuten diese Begegnungen bedeuteten. Einige nahmen mehrstündige Busfahrten in Kauf, nur um sich mit uns fotografieren zu lassen, andere brachten sinnlose – und für ihre Verhältnisse sinnlos teure – Geschenke mit: einen vergoldeten Füllfederhalter aus China, ein viel zu grosses Polohemd, hundert Prozent Baumwolle, ein elektrisches Aquarium mit Plastikfischen, zehn Kilo erlesene Früchte. Und dann gab es die Gastarbeiter, die aus Saudi Arabien telefonierten, um ein paar Worte mit mir zu wechseln: Hallo, hier spricht der Gatte von. Ich bin glücklich, dass du gekommen bist. Und wie geht es Silvia?
Auch die Dankesbekundungen an meinen Vater waren mehr als höfliche Phrasen. Eigentlich wenig überraschend, denn in einer Region, wo es keine zehntausend Franken kostet, ein Haus zu bauen, wo man für die Tasse Tee fünf Rappen zahlt und eine Verkäuferin siebenhundert Franken verdient (im Jahr), summierten sich die jahrzehntelangen Zuwendungen zu einem Vermögen. Dennoch beeindruckte mich die ebenso ungekünstelte wie pragmatische Dankbarkeit: «Guten Tag, das ist meine Tochter. Dank deinem Vater kann sie aufs Gymnasium.» – «Dein Vater war für uns da; nun sind wir für dich da.»
Wo bin ich? Über mir dreht ein Ventilator. Es ist unerträglich heiss. Durch den Schleier des Halbschlafs nehme ich einen wehmütigen, ergreifenden Gesang wahr. Ich drehe meinen Kopf zur Seite und blicke durch ein Moskitonetz auf eine geöffnete Balkontüre und durch die Balkontüre auf zwei weisse Türme. Der Muezzin ruft zum Morgengebet. Babu wohnt an der Big Mosque Street: daher also der Name.
Das winzige Muslimviertel in der mehrheitlich hinduistischen Ortschaft umfasst eine Moschee und fünf Strassen: Big Mosque Street, Middle Street, Little Street sowie zwei Quergassen. Vom Balkon aus sieht man auf die Middle Street. Die ärmlichen Häuser haben verbeulte Vordächer aus Blech. Entlang der Strasse verläuft ein Abwasserkanal, etwa zweimal am Tag fällt der Strom aus. Wie sah es hier wohl vor siebzig Jahren aus, als mein Vater ein kleiner Junge war? Und wie nur schafft man es von hier ans Imperial College in London, einer Kaderschmiede des britischen Weltreichs? Und: Welches war überhaupt sein Geburtshaus? Ich werde Babu heute bitten, es mir zu zeigen.
Das Haus unseres Gastgebers besteht aus einem Wohnzimmer im Erdgeschoss und einem Schlafzimmer im Obergeschoss. Hinzu kommen ein Innenhof mit Küche und Feuerstelle sowie über dem Innenhof eine Galerie, die zum Duschkabäuschen und zur Toilette führt. Für Silvia und mich wurde das obere Stockwerk in eine Art Vip-Zone umgewandelt. Babu, seine Frau, die drei Töchter, die Grossmutter und zwei Nichten, die während unseres Aufenthalts in der Küche aushelfen, schlafen im Wohnzimmer auf dem Boden und waschen sich im Haus seines Bruders nebenan.
Es ist nicht jedem gegeben, den koordinativen Anforderungen, die ein indischen Plumpsklo an seinen Benutzer stellt, auf Anhieb gewachsen zu sein. Ich gerate beim ersten Mal ein wenig aus dem Gleichgewicht und will mich mit einer Hand am Boden abstützen. Ein leiser metallischer Ton erklingt – der Goldring von Nowrose, der mir ein wenig zu gross war, ist ins Abflussrohr gefallen. Nichts zu machen, eröffnet mir Babu, der seither ein Geheimnis mit mir teilt. Das Rohr führt in einen tiefen, unterirdischen Tank, der alle paar Jahre geleert wird.
Mister Yusuf übergibt einen Brief
Während des Mittagessens hoffe ich, dass niemand meine ringlose Hand bemerkt. Babu und Mister Yusuf – die Einzigen, die sich ab und zu mit uns an den Tisch setzen – schaufeln Reis in sich hinein. Babus Mutter steht neben mir und stellt sicher, dass ich den Tellerboden nicht so bald zu Gesicht bekomme. Stolz zeigt sie auf das Besteck. Wegen uns habe sie sich erkundigt, übersetzt Babu, wo was hinkomme: links die Gabel, rechts der Löffel und oben das Messer.
«Kann ich das Haus sehen, in dem mein Vater aufgewachsen ist?» Babu fährt zusammen, Mister Yusuf schaut ihn fragend an. Babu wiederholt mein Anliegen auf Tamilisch. Mister Yusuf, ein zurückhaltender Mann mit der Contenance eines englischen Adligen, erhebt sich ohne Hast vom Tisch und läuft gemessenen Schrittes zur Tür hinaus. Wenn Babu aufgeregt ist, spricht er noch schneller als sonst, und er verhaspelt sich. Alles, was ich verstehe, ist «nicht möglich» und «Zafir». Immer wieder «Zafir».
Nach einigen Minuten kehrt Mister Yusuf zurück und übergibt mir einen Brief:
Zürich, 30. Dezember 1996. Einschreiben.
Kopien an: Mr. O. Yusuf, Mrs. V.S. Ummul.
Lieber Zafir,
ich habe vernommen, dass Du das Haus meiner Mutter, Big Mosque Street 12, verkaufen willst oder dies bereits getan hast. Ich mache Dich darauf aufmerksam, dass dieses Haus – de facto mein Heim, de jure der gemeinsame Besitz meiner Schwestern – Dir lediglich zur treuhänderischen Verwaltung überschrieben worden ist. Was Du tun willst oder bereits getan hast, ist somit gesetzeswidrig. Dieses Haus ist mein Heim und nicht Deins, meine Familie hat es geerbt und nicht Deine, ich bestimme, was damit geschieht und nicht Du. Ich hatte Dich für einen vertrauenswürdigen Neffen gehalten, vertrauenswürdiger als Babu. Weil meine Schwestern alt sind und Deiner guten Stellung wegen – wie man hört, bist du mittlerweile Dozent in Tirunelveli – hielt ich es für richtig, Dir die Verantwortung für mein Heim zu übertragen. In Deinem Schreiben vom 13. Oktober 1993 hast Du denn auch mit blumigen Worten Deine Dankbarkeit bekundet sowie feierlich erklärt, dass mein Heim mir und meiner Familie jederzeit zugänglich sein werde. Stattdessen hast Du Dich zwischenzeitlich offenbar selber darin niedergelassen und damit begonnen, meinen Schwestern den Zutritt zu verweigern. Und nun willst Du das Haus für die lumpige Summe von drei Lacs verkaufen, um mit dem Erlös Schulden zu tilgen, die Du Dir, wo auch immer, aufgehalst hast. Zafir, ich versichere Dir: Sollte das wirklich zutreffen, werde ich rechtlich gegen Dich vorgehen. Ich werde Dich auf Schadenersatz verklagen, ich werde Deine Vorgesetzten über Dein Verhalten informieren, ich werde Dich jede Rupie, die ich in Deine Ausbildung gesteckt habe, zurückzahlen lassen, und ich werde Dich aus meinem Gedächtnis löschen.
Dr. V. Ziauddin
Nachdem ich den Brief weggelegt habe, sieht mich Mister Yusuf mit versteinerter Miene an. Zum ersten Mal, seit wir hier sind, ist es still im Haus. Babus Mutter hat sich zurückgezogen, die herumhopsenden Kinder und kichernden Teenager sind verschwunden. Mir geht vieles durch den Kopf, nicht nur das Offensichtliche. Wie gut sich mein Vater ausdrücken konnte, wenn er auf Englisch schrieb, statt sich mit Schweizerdeutsch abzumühen. Lacs! – er verwendet den indischen Ausdruck für hunderttausend. Und das ein halbes Jahrhundert nach seinem Weggang.
Nun verstand ich, wieso meinem Vater während der letzten Jahre seines Lebens nichts mehr daran lag, noch einmal nach Srivaikuntam zurückzukehren. Es gab keinen Grund mehr. Sein Haus war weg, seine Mutter, an der er sehr hing, schon etliche Jahre tot, und mit seinem Lieblingsneffen hatte er gebrochen. Zafir hatte meinem Vater viel Kummer bereitet, und darum war nun auch ich wütend auf ihn. Gleichzeitig konnte ich fast nicht glauben, dass jemand aus diesem Dorf so ruchlos sein konnte.
Meine Nachforschungen an den folgenden Tagen waren nicht sehr ergiebig. (Wie es überhaupt schwierig war, sich eingehender über eine Sache zu unterhalten: Wie war mein Vater als Kind?, womit hat er gespielt?, was hat er gelesen?, wann genau ging er fort? Die Antworten blieben vage, meine Tanten schienen den Sinn solcher Fragen nicht einzusehen.) Die einen wiederholten, dass Zafir Geldprobleme habe, wussten aber nicht, weswegen. Andere glaubten, den Grund zu kennen: Trunksucht. Doch wie konnte man in einem Dorf, in dem keine einzige Bierflasche zu sehen war, zum Säufer werden?
Auf sein eigenes Zerwürfnis mit meinem Vater angesprochen, blieb Babu vage. Er beteuerte nochmals seine Unschuld und deutete an, Zafir und Mister Yusuf hätten gemeinsam gegen ihn intrigiert. Mister Yusuf beschränkte sich darauf, Zafir als verschlagenen Schuft zu bezeichnen, während Zafir, das ging aus einem anderen Brief hervor, Mister Yusuf einen Betrüger schimpfte.
Der Entschluss
Fest stand: Babu war in der gesamten Verwandtschaft beliebt und angesehen, Zafir dagegen völlig isoliert. Mit Ausnahme seiner eigenen Mutter und Geschwister sprach niemand mehr mit ihm. Dies, obwohl er keine fünfzig Schritte von den anderen entfernt wohnte. Sollte ich ihn aufsuchen, um seine Version zu hören? Einerseits lag mir die Angelegenheit am Herzen, nicht zuletzt weil ich sah, welche Schmach der Verlust des Hauses für Babu, Mister Yusuf und Tante Ummul bedeutete. Andererseits hielt ich es für vermessen, mich in dieser völlig fremden Welt in einen Streit einzumischen, dessen Ursachen ich kaum kannte und noch weniger verstand.
«Vielleicht sollte ich Zafir selber fragen, wieso er das Haus verkauft hat», sage ich eines Abends. «Gute Idee, antwortet Babu und sieht dabei sehr unglücklich aus. Mister Yusuf lächelt verlegen. «Okay. Aber nur ein kurzer Besuch. Maximal zehn Minuten. Und keine Geschenke annehmen.» – «Wann?» – «Nächsten Samstag. Die Woche über ist er in Tirunelveli.»
Schon bald kehrte die Leichtigkeit zurück, die wegen der Sache mit Zafir vorübergehend verschwunden war. Silvia wurde von den Mädchen und jungen Frauen zunehmend wie eine Prinzessin behandelt. Man überhäufte sie mit Schmuck, steckte ihr Jasminblumen ins Haar, hüllte sie in Saris, lauschte ihren Schilderungen über das Leben in der Schweiz. Tante Ummul schaute dreimal am Tag vorbei, setzte sich neben mich, nahm meine Hand und redete auf Tamilisch vor sich hin. Am Abend brachte sie meist ein Päckchen Kampfer mit und fuhr damit vor meinem Gesicht herum. Dadurch befreite sie mich von den bösen Augen, die mir tagsüber aufgelauert hatten. Zum Schluss der Zeremonie wurde der Kampfer vor der Haustüre verbrannt.
Silvia und ich genossen die Ausfahrten mit dem Auto zu Tempeln, Kirchen, Wasserfällen, Märkten und ans Meer. Es blieben die einzigen Stunden, in denen wir uns der allumfassenden Fürsorge der Grossfamilie entziehen konnten. Nur wir beide, Babu, der Fahrer und der Dorfpolizist. Von ihm (ein Verwandter auch er) hatte ich das überdimensionierte Polohemd erhalten. Sobald sich auf unseren Exkursionen ein Problem anbahnte, etwa ein Strassenzoll, den es zu entrichten galt, zückte er seine Dienstmarke.
Wann immer der Fahrer, ein scheuer junger Mann, den Motor anliess, ertönte eine kurze Passage aus einem religiösen Sprechgesang. Einmal piepste während der Fahrt sein Mobiltelefon, und Babu nahm das Gespräch entgegen. Danach kicherte er wie ein Schuljunge, zog den Kopf ein und reichte mir das Gerät. Auf dem Display erkannte man zwei brennende Türme und ein Flugzeug. Ich gab Babu zu verstehen, dass mir missfiel, was ich sah. «Nur ein kleiner Scherz, no problem», meinte er versöhnlich.
Im Verlauf der Reise sah ich die Türme auch auf Jutetaschen, T-Shirts und Postkarten, zudem Bin Laden als Kasperlfigur mit Boxhandschuhen. Die meisten dieser Waren wurden aber nicht von Muslimen angeboten sondern von Hindus. Wahrscheinlich steckte tatsächlich eher eine diffuse Schadenfreude dahinter als islamischer Extremismus: David hat Goliath eins auf die Rübe gegeben, und wir freuen uns diebisch.
Samstagmorgen. Als ich ins Wohnzimmer hinunterkomme, sitzt Mister Yusuf bereits auf dem Sofa. So früh ist er noch nie hier gewesen. Babu gibt sich alle Mühe, locker zu wirken. Tante Ummul schlurft im Haus herum und verwirft die Hände. Während wir frühstücken, sage ich: «Mach dir keine Sorgen, Tante Ummul. Es wird nur ein kurzer Höflichkeitsbesuch.» – «Nur zehn Minuten», schiebt Mister Yusuf, halb Feststellung, halb Befehl, hinterher. «Ja», sage ich, «zehn bis fünfzehn Minuten.»
Man hat Zafir ausrichten lassen, dass ich um elf Uhr dort sein werde. Mit Silvia, aber, entgegen den Gepflogenheiten, ohne unseren Gastgeber Babu. Was folgt, ist die südindische Version von High Noon. Nur dass die Zeit erheblich langsamer vergeht als im Kino. Um drei vor elf erhebe ich mich endlich von meinem Plastikstuhl. «Bis gleich», sage ich forciert beschwingt. Babu begleitet uns bis zur nächsten Strassenecke, dann kehrt er um.
Stille; die Sonne brennt fast senkrecht auf die menschenleeren Gassen hinab. Bis zu Zafirs Haus sind es noch zwanzig Meter – zum ersten Mal allein in Indien unterwegs.
Oh Bruno, wie lange ich auf diesen Augenblick warten musste, nur zu, tretet ein, wo ist denn Babu?, werft einen Blick auf die Wandtafel, ‹ein herzliches Willkommen für Onkel Bruno und Tante Silvia›, das hat meine Tochter geschrieben, komm her, zeig dich, und hier: meine Frau, nehmt Platz, schnell, Tee und Gebäck für Bruno und Silvia, wie doch die Zeit vergeht, ich weiss noch, wie ich dich bei deinem letzten Besuch gefragt habe, wann du heiraten wirst, und du geantwortet hast: ‹vielleicht nächstes Jahr, vielleicht in zehn Jahren, vielleicht nie›.
Bereits sind fünf Minuten vorüber. Ich muss ihn fragen.
Hier, für dich, das wird dir gefallen, eine tamilische Bibel, die habe ich von meinem Professor erhalten, Silvia, noch eine Tasse Tee oder lieber Coca-Cola?, du bist Journalist, nicht wahr?, ein schöner Beruf, und du?, Historikerin, wie interessant, welches ist dein Fachgebiet?
Er spricht besser englisch als die anderen. Das Wohnzimmer ist recht geschmackvoll eingerichtet. Aber seine Kleider, ziemlich protzig. Dafür ist seine Frau wirklich nett. Und er selber ist eigentlich auch nicht so unsympathisch. Andererseits. Ich muss ihn fragen.
Ah, da kommt bereits der Fotograf, es dauert nicht lange, nur ein paar Bilder von euch beiden und noch eines mit uns allen drauf, und vielleicht ein letztes von dir und mir, lieber Cousin, so, und jetzt darf ich euch zu Tisch bitten, das Essen ist schon...wie, ihr könnt nicht bleiben?, wie schade.
Ob Babu und Mister Yusuf wütend werden, wenn sie erfahren, dass ich mich mit ihm habe fotografieren lassen?
Ja, bring sie her, danke, mein Kind, dieser Ring, Bruno, ist für dich und die Goldkette für Silvia – wie?, aber wieso nicht?, das sind doch nur kleine Geschenke. Bitte. Bitte. Bruno. Nimm sie an. Ich bitte dich.
Wir müssen unbedingt wieder los. Ich muss ihn jetzt fragen. Ich muss. Jetzt.
«Es tut mir Leid, Zafir, vielleicht beim nächsten Mal. Ich denke, wir sollten allmählich aufbrechen. Aber eine Frage, das verstehst du sicher, möchte ich dir noch stellen: Wieso hast du das Haus meines Vaters verkauft?»
Zafir atmet schwer. Seine Augen flattern, und für einen Moment bekommt sein Blick etwas Unberechenbares. Er holt tief Luft und sagt: «Es war ein schrecklicher Fehler. Ich hatte Schulden. Ich hätte das nicht tun dürfen. Ich bitte inständig um Verzeihung. Trotzdem musst du wissen, dass Mister Yusuf ein Gauner ist. Bitte halte dich von ihm fern. Bruno, ich verspreche dir: Eines Tages werde ich dieses Haus zurückzukaufen. Das ist mein Lebensziel.»
500 Rupien von der Cousine
Völlig durchgeschwitzt kehre ich zurück. Der Empfang ist für südindische Verhältnisse eher kühl. Ich mache ein wichtiges Gesicht und bitte Babu und Mister Jusuf zu mir in die Vip-Zone. «Zurückkaufen?» Mister Yusuf lacht bitter. «Er ist ein Schwätzer. Viel zu teuer, und die neuen Besitzer werden ohnehin nicht verkaufen.» – «Wie viel?» – «Mindestens fünf Lacs.»
Wer noch keine Gelegenheit hatte, uns zu besuchen, holt dies am Sonntag vor unserer Abreise nach. Alle anderen kommen natürlich auch. Noch nie in meinem Leben habe ich so ausdauernd gelächelt, denn alle wollen sich mit uns fotografieren lassen. Für die Andenken, Hochzeitsgeschenke und Spezialitäten, die uns überbracht werden, werden wir wohl eine Frachtmaschine chartern müssen. Von Zafir spricht niemand mehr.
Angesichts von so viel Herzlichkeit und Grosszügigkeit plagt mich – ganz Kind des Abendlands – ein schlechtes Gewissen. Womit nur habe ich all die Zuneigung verdient? (Eine mögliche Erklärung lieferte Babus jüngste Tochter: «Papa, wieso sagen diese Leute ständig danke? Das sind doch unsere Verwandten.») Auf jeden Fall bin ich froh, dass es am letzten Abend endlich an mir ist, Geschenke zu verteilen. Babu hat mir einmal erzählt, dass mein Vater zum Abschied jeweils Briefumschläge mit einer kleinen Summe Bargeld drin aushändigte. So will ich es auch machen. Babu stellt eine Liste mit 57 Namen zusammen und schlägt 100 Rupien pro Person vor, knapp drei Franken; ich verdopple.
Nach der Geldverteilung, die mit feierlichem Ernst und grösster Disziplin abgewickelt wurde, kommt Babus Schwester Jasmin auf mich zu und übergibt mir ihrerseits einen Briefumschlag. Jasmin hat schon 24 Stunden vor unserer Abreise zu weinen begonnen. Jedes Mal, wenn Silvia oder ich ihr zulächeln, bricht sie von neuem in Tränen aus. Der Umschlag enthält 500 Rupien. Ich reiche das Geld an Babu weiter und frage konsterniert, wieso sie etwas so Absurdes getan habe. «Jasmin hat Probleme mit ihrem Mann. Er schlägt sie, ihr Bauch ist schon ganz hart. Doch bevor ihre Tochter die Schule abgeschlossen hat, will sie nichts unternehmen. Diese Tage mit euch waren ihre schönsten seit langem. Dafür wollte sie sich bedanken.»
Der Abschied verläuft nicht ganz so herzzerreissend, wie ich gedacht hätte. Vielleicht war eine Steigerung schlicht nicht mehr möglich. Silvia und ich wollen weiter nach Kerala, dem Nachbarstaat Tamil Nadus, wo wir ein paar zweisame Tage an einem möglichst touristischen Strand zu verbringen hoffen. Der Fahrer, Babu und der Dorfpolizist bestehen darauf, uns in die sieben Stunden entfernte Hauptstadt Trivandrum zu bringen.
Je länger die Fahrt dauert, desto mehr verdichten sich die Anzeichen, dass keiner der drei schon einmal in Kerala gewesen ist, geschweige denn in der betriebsamen Millionenstadt Trivandrum. Auch die Erfahrung des Fahrers mit mehrspurigem Stadtverkehr scheint sich in Grenzen zu halten. Jedenfalls herrscht im Auto höchste Alarmbereitschaft, sobald wir uns einer Strassenkreuzung nähern. Manchmal halten wir unvermittelt an, und mein Dorfpolizist lässt sich von einem grinsenden Passanten den ungefähren Weg zum Hotel erklären.
Kurz vor dem Eindunkeln werden wir fündig. Für einige Minuten stehen wir alle zusammen in der muffigen und grotesk grossen Suite herum, die ein hilfsbereiter Schwager von Babu reserviert hat. Dann brechen die Männer wieder auf, da sie am nächsten Tag zur Arbeit müssen. Dieser Abschied ist herzzerreissend. Als die drei gegangen sind, lege ich mich aufs Bett und starre an die Decke. Ich fühle mich leer. Nach einigen Minuten sage ich zu Silvia: «Was meinst du, soll ich das Haus zurückkaufen?»