Der Beginn der abendländischen Literatur, Homers «Odyssee», beschreibt die erste Bondage-Szene überhaupt: Hephaistos und Aphrodite sind verheiratet, doch Aphrodite hat ein Verhältnis mit Ares, der vorbeikommt, sobald ihr Mann die Wohnung für Erledigungen verlässt. Als Hephaistos von der Untreue Aphrodites erfährt, will er sich rächen. Er schmiedet feinste, fast unsichtbare Metallschnüre, die er am Ehebett anbringt und die sich Aphrodite und Ares bei ihrem nächsten Treffen um alle Gliedmassen schlingen. Hephaistos lässt beide in flagranti gefesselt liegen und ruft alle Götter herbei (nur die Männer kommen, die Göttinnen sind zu verschämt), die sich um das Bett scharen und lachen. Schliesslich wirft Apollo ein, er hätte trotz allem nichts dagegen, so gefesselt neben Aphrodite zu liegen. Hermes pflichtet ihm bei. Dann gehen alle nachdenklich heim.

Geburtsland Frankreich

Die erotische Fesselung, genauer: der Sadomasochismus (SM), ist ein Motiv, das so alt ist wie die Literatur selbst. Doch was einst entweder ästhetisch überhöht wurde oder irgendwie immer underground war, ist im Mainstream angekommen: Lack-BHs mit Leine dran, Fesselspiele in Baumwollunterwäsche mit dem Starterkit vom Pornoladen (Polyesterschlingen, Nippelklemme, Po-Stöpsel) gibt es an jeder Ecke zu kaufen. Der unsäglich schlecht geschriebene Bestseller «Fifty Shades of Grey» – die junge Studentin Ana trifft den Millionär Christian Grey, unterwirft sich ihm in zahlreichen Bondage-Spielen, am Ende heiraten sie und kriegen Kinder – ist bis heute eines der meistverkauften Bücher.

Stars wie Madonna oder Lady Gaga besingen den Sadomasochismus, die Schauspielerin Eva Longoria preist ihn als ihr kleines schmutziges Schlafzimmergeheimnis, in «S & M» singt Rihanna «the pain is for pleasure» («der Schmerz ist zum Vergnügen») und «chains and whips excite me» («Ketten und Peitschen erregen mich»). Der Kurzfilm «Tongue Tied» (2014) zeigt Miley Cyrus in verschiedenen Latex-Posen. Das Sprachrohr der amerikanischen SM-Gemeinde, die inzwischen online erscheinende Zeitschrift Prometheus, gibt es seit den frühen 1970er Jahren.

Der sogenannte Blümchensex beziehungsweise die bürgerlich-romantische Beziehung wurde seit je von der angeblichen «Lust am Schmerz» herausgefordert. Was ist die Fantasie hinter dem Sadomasochismus, wie kam sie zustande, warum ist sie zeitlos? Für die einen steht der SM für den Höhepunkt der sexuellen Revolution und für Alltagsflucht aus der kapitalistischen Repressionsmaschine. Kritiker sehen im SM das genaue Gegenteil: Die nur in Machtverhältnissen wie Herrscher–Untertan, Lehrer–Schüler, Feldherr–Sklave zu denkende sexuelle Praxis sei Symptom sexueller Unterdrückung, stehe für Hass und Gewalt, ob gegen die Frau oder gegen wen auch immer, der da am anderen Ende der Lackleine kauere. Für die radikale Feministin Andrea Dworkin stand der SM für das Recht der Männer an der Vergewaltigung der Frau. Kritisiert wird der SM auch für seine «Faschistenästhetik»: Meister in knirschenden, Gestapo-artigen Mänteln malträtieren in Ketten liegende Untergebene.

Der sogenannte Blümchensex wurde seit je von der «Lust am Schmerz» herausgefordert.Frankreich ist das intellektuelle Geburtsland des SM. Die Schriften des ersten grossen Libertins Marquis de Sade, darunter «Justine» oder «Juliette», machten ab dem 18. Jahrhundert den Sadomasochismus zwar nicht salonfähig, aber sie schärften das Bewusstsein dafür, dass es noch etwas anderes gibt im Sex. Etwas, das brutal ist, abstossend und hässlich und gerade deswegen anziehend, für manche zumindest. Für den Katholiken de Sade war der Mensch, vertrieben aus dem Garten Eden, zu Schlechtem verdammt. Ohne blasphemische sexuelle Akte, Vergewaltigungen oder Folter gab es für de Sade keine Erregung, die für ihn allerdings grösstmögliche Annäherung an Tugend jenseits christlicher Dogmatik bedeutete. De Sade verkörperte den Elitarismus des Adels; für die niederen Schichten waren perverse Exzesse nicht vorgesehen. Letztlich hasste de Sade auch die Frauen; in seinem Werk die Hauptopfer sadistischer Qualfantasien.

Goethes Fantasie

Die Patina des Antibürgerlichen, Elitären, immer irgendwie «Auserwählten», geistig Herausfordernden verloren der Sadomasochismus und die erotische Fesselung lange nicht. Der SM blieb lange Angelegenheit von Künstlern, Autoren und Intellektuellen wie den Surrealisten, von Jean Genet, Georges Bataille oder Michel Foucault, oder von sexuell marginalisierten Gruppen. In der «Geschichte der O» (1954) von Anne Desclos unterwirft die Modefotografin O sich bedingungslos dem angebeteten René. In Troubadour-Gedichten symbolisieren Haarlocken die Fessel an die angebetete Dame, Brünhild aus dem «Nibelungenlied» hängt den an Fuss- und Handgelenken gefesselten Gunther nackt über ihr Bett mit Ausblick auf sein Genital.

Von seiner grossen Liebe Lili Schönemann sagte Goethe, sie halte willige Männer gefesselt wie Tiere im Park, und Prousts Hauptfigur Marcel sperrt aus Eifersucht die Geliebte Albertine in eine Art hochüberwachten Alltag, stellt ihr nach, steht im Schlaf neben ihrem Bett, und Albertine fügt sich gerne, zumindest eine Zeitlang; der Philosoph Aristoteles liess, auf allen Vieren kniend, Phyllis auf ihm reiten und ihn dabei auspeitschen. Der Mann im Büsserhemd vor der Marienstatue, der Unterwürfige vor der Frau im Pelz in Texten von Leopold von Sacher-Masoch – die Bilderreihen wären endlos.

Auch in vielen Texten Franz Kafkas geht es um die Ambivalenz der Freude an der Pein. In der Geschichte «In der Strafkolonie» suggeriert etwas in der Haltung des an Fuss- und Handknöcheln sowie am Hals gefesselten «Verurteilten» verhohlenes Behagen, «als könnte man ihn frei auf den Abhängen herumlaufen lassen und müsse bei Beginn der Exekution nur pfeifen, damit er käme».

Woher kommt die Lust an der Erniedrigung? Ist es der Reiz des Verbotenen, oder wiederholt die SM-Praxis des Bondage den paulinischen Gedanken des gekasteiten, da sündigen Fleisches, Gefängnis der für den Himmel bestimmten Seele? Hier wäre der Gedanke: Verloren ist Eden, das goldene Zeitalter, der Urbund zwischen Göttern und Kreatur und das naive Ausgeliefertsein an höhere Mächte. Stattdessen unterliegt der Mensch trocken-spröden Gesellschaftsverträgen. Alte archaische Freiheit ist nur als vorübergehender Ausnahmezustand möglich. Wie? Durch die vorübergehende – freiwillige – Aufgabe des Ich in der sexuellen Grenzüberschreitung.

Inzwischen bedeutet der SM weniger die ultimative geistige Emanzipation des Ich, sondern das Abgleiten ins kapitalistische Spiessertum, wie Homer es niemals vorhergeahnt haben mag und wie es dennoch von Anfang an mitschwingt: «Sollte ich euch anflehen, mich loszubinden, so fesselt mich umso stärker und fester», wies Odysseus seine Mannschaft an, bevor das Schiff die Meerenge der Sirenen passiert, Fabelfrauen mit Klauen und Federn, die auf Klippen in der Brandung hocken. Odysseus durchquerte das Getöse, den Lärm aus Tierschreien und Wellenbrausen mit minimalem Aufwand, fast schon Geiz: Die Ohren der Mannschaft waren versiegelt, er selbst gefesselt und passiv: SM ist lernbar, «Google-bar», es gibt reihenweise Handbücher, ist für die, die ihn betreiben, eine Form der minutiösen Selbstvervollkommnung durch Disziplin bis an die Grenze der Kleinlichkeit.

Schlösser und Penthouse-Wohnungen

Der italienische Filmemacher Pier Paolo Pasolini sagte vom SM, er reduziere Sex auf eine Ware. Noch ein Aspekt: SM bedeutet Besitz und Konsum, das Habenwollen von Menschen, Dinge kaufen. Keine Sexualpraktik braucht so viel Zubehör, für keine Sexualpraktik gibt es so viele Fetischläden, so viele Kleider und Gadgets wie für den SM. Nicht nur das: Die berühmten Sadisten aus Literatur und Film sind und waren ausserordentlich wohlhabend oder – siehe die Celebrities von heute – berühmt. Sie entstammen dem Adel, leben in Schlössern, Herrenhäusern, Penthouse-Wohnungen oder Lofts.

Der im Alltag praktizierte SM der Massen ist imaginäre Flucht aus der drögen, bürgerlichen, kaufsüchtigen Existenz hinein in einen vorgestellten Saus und Braus, den man so nie haben wird.